Die Unsicherheit der Sachlage: Philippe Löhle. Rez.: Ernst Punz & Eva Riebler
Ernst Punz & Eva Riebler
ZWISCHEN WAHRHEIT UND WAHNSINN
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Die Unsicherheit der Sachlage
Philipp Löhle
Landestheater NÖ, Theaterwerkstatt
Premiere: 26.02.2011, 19.30 Uhr
Österreichische Erstaufführung
Uraufführung Mai 2009, Schauspielhaus Bochum
Regie: Steffen Jäger
Bühne: Sabine Freude
Kostüme: Aleksandra Kica
Mit Julia Schranz, Philipp Brammer, Oliver Rosskopf, Hendrik Winkler
Die neue Bühnenfassung unter der Regie von Steffen Jäger verändert klar und deutlich die Erstfassung von Phillip Löhle. Der erste Blick der Zuschauer trifft verstört auf die Glaswand mitten im Zuschauerraum, die die Durchsicht auf die zweite Hälfte des Publikums jenseits dieser frei gibt. Gespielt wird also in der Mitte, auf gleicher Höhe mit dem Auditorium. Das heißt die gleiche Augenhöhe vermittelt bereits „das bin genauso ich oder du“ und die Glaswand teilt scheinbar in zwei Bereiche, die jedoch akustisch und optisch durchgängig bleiben. Nach der Pause wechselt das Publikum auf die andere Seite und füllt seine Wissenslücken punkto Handlungfortgangs auf. Soweit zur erweiterten Transparenz und zur gelungenen Gleichzeitigkeit, die aus dem linearen Stück erfolgreich herausgebrochen wurden.
Der Inhalt ist auf den ersten Blick alltäglich – die Trennung eines Paares, Jan und Jule, und der damit verbundene Auszug Jans aus der gemeinsamen Wohnung, wendet sich jedoch auf den zweiten Blick dem terroristischen Potential in uns zu. Denn der Freundeskreis kann nur für kurze Zeit den Wohnungssuchenden auffangen. Nach einigen Wochen Sofasurfing reißt dem schwulen Paar die Geduld, Jan wird mit all seiner Unordnung zum Störfaktor und er findet sich wie viele Obdachlose auf der Parkbank wieder. Als „Sophisticated Homeless“ gelingt es ihm, seinem Chef, einem abgebrühten Zeitungsmann, eine Home Story, oder besser Homeless Story, als seine Kolumne aufs Auge zu drücken. Jans Beobachtungen einer verrückten und brutalen Welt gießt er in pointierte Formulierungen, jedoch ziehen sie ihn zusehends hinunter und ergreifen schließlich ganz von ihm Besitz. So bereiten sie ihm zusätzlich zu seinem Trennungsschmerz weiteren seelischen Schmerz, vermehren Schlaflosigkeit und seine psychische Verwirrung. Er gaukelt sich vor Verbrecher und Täter zu sein: „Ich schade euch täglich! Ich bin der Täter, ich, euer Nachbar!“ oder „Das Gute im Menschen ist eine Erfindung“, „Wir ticken wie Mäuse im Karton“ und merken nun, dass die Welt digitalisiert wird. „Früher ritzte man seine Liebe in den Baum! Sende mal das Mail an einen Baum!“
Jan macht der Polizei das moralische Angebot, ihn vorsorglich in Verwahrung zu nehmen, diese lehnt jedoch ab. Ausstiegshilfen werden in Theaterstücken wie „Biedermann und die Brandstifter“ auch nicht geboten. Was bleibt ihm anderes übrig, als selbst Herr seiner unsicheren Sachlage zu werden und das nächste „Ding“ selbst zu planen und auszuführen.
Regisseur Steffen Jäger, in Zusammenarbeit mit Hausdramaturg Rupert Klima, hat für die Werkstatt des Landestheater Niederösterreich die Gespaltenheit des Protagonisten aufgedröselt und stellt dessen multiple Erscheinungsformen auf zwei Bühnen und in bis zu vierfacher Verkörperung dar. Die Bühnen befinden sich Rücken an Rücken, durch große Fensterflächen transparent gemacht, und werden gleichzeitig von vier Schauspielern bespielt. Das Sprachgemurmel von der „anderen Seite“ tönt herüber und verbindet sich mit den Dialogen und Einspielungen der „eigenen Seite“. Die durch die aufgeteilte Spielweise halbierte Spielzeit wird dem Publikum nicht vom Kartenpreis abgerechnet, sondern nach der Pause durch Wiederholung des Stückes eingearbeitet. Die Zuschauer, die nach der Pause die Plätze wechseln, bekommen nun auch die zweite Hälfte von Jans ganzer Wahrheit nachgeliefert. Und als Draufgabe gibt es die Antwort auf die sich während des gesamten Stückes aufbauenden Frage: Was ist nun „Wahn oder Wirklichkeit“?
Spieltechnisch - und scheinbar spielerisch leicht - eine schwindelerregende Meisterleistung der Darsteller Julia Schranz, Philipp Brammer, Oliver Rosskopf und Hendrik Winkler. Sie spielen, singen, tanzen, schreien und dozieren in fast nicht zählbaren Rollen: Jans Freundin Jule, die Freunde Björn und Robert, den Chefredakteur, eine Modeverkäuferin, einen Obdachlosen, einen Polizisten, ein Tangopaar usw. bis hin zur ständig zwischen ihnen wechselnden Darstellung von Jan Cäsar Schmidt. Damit nicht genug, bewältigen sie in rasender Geschwindigkeit Textlängen, die ihm Journalistenjargon „Bleiwüsten“ genannt werden, agieren zwischen unzähligen Koffern, einem Papier schluckendem Reißwolf, Tischen, Stühlen, Sofa, Stehlampe, Bügeleisen, TV-Fernbedienung und einem Minibackofen für eingefrorenes Gebäck. Sie bedienen absturzgefährdete Diaprojektoren, die auf wackelig aufgetürmten Koffertürmen balancieren und schalten sie mittels Handfunkgerät - als Diktaphone getarnt - von Zeit zu Zeit auf der jeweils anderen Bühne ein. Und das alles synchron. Kein Wunder, dass zwei der Schauspieler nach bravourös geleisteter Arbeit, beim Bühnenwechsel während des lang anhaltenden Schlussapplauses, nicht durch die seitliche Tür laufen, sondern - gegenüberliegend - beinahe gegen die Wand.
Ein Lob an die schauspielerische Leistung und die dramaturgische Effizienz!
LitGes, März 2011