Ein Chor irrt sich gewaltig: René Pollesch. Rez.: Ingrid Reichel

 

 

 

 

Ingrid Reichel
DAS INTELEKTUELLE AUSKOTZEN DER BOURGEOISIE

 

EIN CHOR IRRT SICH GEWALTIG
René Pollesch

Landestheater NÖ, Großes Haus
Österreich Premiere: 08.05.09, 19.30 Uhr
Uraufführung: 02.04.09, Volksbühne im Prater, Berlin
Regie: René Pollesch
Mit Jean Chaize, Brigitte Cuvelier, Christine Groß, Sophie Rois
und Chor: Claudia A. Daiber, Jana Hampel, Lisa Hrdina, Anna Kubelik
Marie Löcker, Silvana Schneider, Nele Stuhler, Lisa Wenzel
Bühne: Bert Neumann

Wir brauchen Theater, Literatur, ach was sag ich, Kunst, die uns formt! Dessen Inhalt uns moralisch festigt. Ja! Und dann kommt da einer daher und wirft alles über Bord. Übt Kritik an der Kritik … Dabei sind wir noch nicht einmal soweit, kritikfähig zu sein … aber amüsant finden wir es schon, wenn sich die Schauspieler auf der Bühne so inbrünstig verausgaben, den Kasperl runterreißen, uns den wahrhaftigen Zirkus liefern, das lenkt uns Publikum schon ab von dieser, nun ja, sagen wir Publikumsbeschimpfung vom Feinsten. Subtil ist er, dieser René Pollesch. Nahezu durchtrieben, dieser 1962 in Dorheim/Friedberg in Hessen geborene deutsche Dramatiker und Regisseur, dieser Besessene des Schreibens mit seinen assoziativen, psychologisch komplexen Ausgüssen… von 2008 bis 2009 schrieb und inszenierte er nicht weniger als folgende Stücke: Darwin-Win & Martin Loser-Drag King & Hygiene auf Tauris (Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz Berlin); Tal der fliegenden Messer (Mülheim/Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz); Fantasma (Burgtheater Wien); Du hast mir die Pfanne versaut, du Spiegelei des Terrors (Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz Berlin); Ping Pong d'Amour (Münchner Kammerspiele); Ein Chor irrt sich gewaltig (Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz Berlin) hatte erst vor einem Monat seine Uraufführung in der Volksbühne im Prater in Berlin und ist bereits jetzt in St. Pölten im Landestheater zu sehen. Dabei hat das Jahr 2009 doch erst angefangen …

„Un éléphant ça trompe énormément“, ein Film von Yves Robert aus dem Jahr 1976 soll der listige Aufhänger von „Ein Chor irrt sich gewaltig“ sein. Die deutsche Übersetzung des Originaltitels lässt zu wünschen übrig: „Ein Elefant irrt sicht gewaltig“ sollte eigentlich Ein Elefant, das täuscht gewaltig. heißen. Der Originaltitel ist schon irreführend genug, da im Film kein Elefant vorkommt. Vielmehr geht es um vier gut situierte Pariser Freunde mittleren Alters, die die Midlife-Crisis ereilt. Étiènne, der Seriöseste, Treueste und somit Unerfahrenste von ihnen, tappst schließlich in eine Affäre, verliebt sich und kommt auch noch zum Schuss, eben wie ein Elefant im Porzellanladen. Der französische Titel beinhaltet vermutlich ein Wortspiel, heißt doch der Rüssel des Tieres trompe (la), welcher als Assoziation zum männlichen Sex deutbar wäre. Hinweisend könnte auch ein Lied von Roger Whittaker „Un éléphant sur mon balcon“ (Ein Elefant auf meinem Balkon) sein (Quelle: Wikipedia). Elefanten und ihre Tollpatschigkeit hin oder her - wahrscheinlich sind doch die stillen Wässerchen am tiefsten …

Doch zurück zu Polleschs neuestem Stück, welches natürlich nichts mit dem Inhalt des Films an sich zu tun hat, abgesehen von der Leichtigkeit einer typisch französischen Komödie und der Liebe zur französischen Sprache wären da noch einige entliehene Eigennamen, wie die der Hauptrollen Étiènne und Simon, sowie der Nebenrollen Lucien und Mouchy, ja vor allem Mouchy, denn der Name kommt relativ häufig vor und nicht wissend hört man mehr Muschi als Mouchy, dafür gibt es immer wiederkehrend les exercices de prononciation et d’articulation de la langue française für die Schauspieler auf der Bühne, die im übrigen, wie schon in anderen Pollesch-Stücken, geschlechtsvariabel und Rollen unspezifisch sind: Jean Chaize – als einziger männlicher Darsteller – spielt in einem Morgenmantel u.a. den Concierge und die Maman, Brigitte Cuvelier den Briefboten und die Französischlehrerin, Christine Groß die Chorleitung und Sophie Rois die restlichen Hauptrollen (Sic!) ganz musketierisch im Sinne von einer oder eine für alle. Dagegen hält der Chor das Motto alle für einen, bzw. alle für eine Rolle. Er besteht aus zehn Schauspielerinnen, jede einzelne in einem üppigen Rokokogewand aus wunderbaren afrikanischen Stoffen gekleidet, so schön, dass man sich wünscht, die Mode würde in den Boutiquen zum Kauf angeboten werden.

Das Bühnenbild ist äußerst spartanisch, lediglich ein Blümchenvorhang und ein paar Kartons, das ist es! Mehr ist auch nicht notwendig, denn wir befinden uns in einer Wohnung oder einem Haus der Bourgeoisie. Ein Brief informiert die Hauptdarstellerin Sophie Rois, dass Marie-Ange sie verlassen hat und das gesamte Mobiliar, inklusive Chaiselongue und Louis XIV-Sessel - Polleschs unverzichtbare theatralische Symbole – mitgenommen hat, sowie auch die Kinder, wobei der oder die Verlassene, auch das bleibt unklar, sich noch nicht entschieden hat, ob der Verlust der Kinder oder der des Inventars größer ist. Rois bleibt mit ihrem Kummer nicht lange alleine und findet bald Trost durch den Chor, der sich bei ihr als 17-jähriger Liebhaber Lucien bewirbt, oder sich als eifersüchtiger Ehemann manifestiert, oder der sich als philosophischer Gesprächspartner über den Kommunismus und den Kapitalismus äußert.

Pollesch verfolgt konsequent seine Kritik an der Literatur, die als Inhalt abgehandelt wird. Die Wertschätzung, die man der Literatur, aber auch der Musik, schlichtweg dem Handgeschriebenem als moralische Instanz entgegenbringt, ist für Pollesch Grund genug sich verbal und theatralisch auszukotzen. Und dies gelingt ihm auf fulminante Art und Weise, indem er herkömmliche und erstarrte Klischees hernimmt, auf der Bühne neu aufbereitet, so ihre Absurditäten erkennbar macht und sie schließlich durch Chaos zerstört. Die Klischees entdeckt er in Kinofilmen, in politischen Theorien und Gesellschaftsordnungen. So befindet sich die Welt in einer Wirtschaftskrise, und justament als sich Russland und China vom Kommunismus abwenden und in einen Ultrakapitalismus eintreten, erklärt der Westen den Kapitalismus als bankrott. Im gleichen Verhältnis steht die Rolle des Geldes als Machtpotential gegenüber der Liebe, bzw. dem Sex. Hilfreich zum Pollesch’en intellektuellen Erbrechen sind die Analysen von den Gegenwartsphilosophen Giorgio Agamben und Boris Groys, wie man im Programmheft nachlesen kann. Ersterer beschäftigt sich mit dem Neo-Marxismus, Letzterer mit dem Postkommunismus. Pollesch betoniert das Publikum mit Phrasen und Begriffen, dass einem die Luft ausgeht alleine beim Gedanken, wie die Schauspieler sich diese Texte merken können, sie nicht nur in einem Höllentempo rezitieren, ohne sich zu verhaspeln, sondern sie auch noch erspielen! Immerhin beträgt die Spieldauer nur eine Stunde, da kommt Zeitdruck auf. Spätestens jetzt wird klar, dass dies kein leichtverständliches und schon gar kein leichtfertiges Werk ist. Mit dem Schlagaustausch der geistigen Ergüsse, bleibt dann leider auch mal das Lachen des Publikums aus, wie konkret in diesem Fall: „Aber Sie! Mit Ihrer Selbstgewissheit über den eigenen Platz in diesem Leben, die jede Theorie nur wie ein modisches Accessoire neben sich duldet. Aber sonst verlässt man sich auf die Säulen einer christlich-jüdisch geprägten abendländischen Gesellschaftsordnung, die sich mit der protestantischen Ethik zum Leitbild moderner Lebensführung durchgesetzt hat. Dieses Missverständnis über unsere Geschichtlichkeit! Wir sind nicht deshalb historische Wesen, weil wir jeden Dreck unserer Vorfahren wiederholen.“ Vielleicht war das Publikum aber auch nur betroffen …?
Französische Chanson-Einlagen und andere Detailverliebtheiten unterbrechen die Verbalgeschosse, lassen kurz aufatmen, entspannen die Situation.
Ein wunderbare Inszenierung mit Höchstleistung gespielt. Extra-Applaus für Sophie Rois!

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