Faust 1-3 / FaustIn and out: Johann Wolfgang von Goethe / Elfriede Jelinek. Rez.: Ingrid Reichel

Ingrid Reichel
Ab in den Keller!

 

Faust 1-3 / FaustIn and out
Johann Wolfgang von Goethe / Elfriede Jelinek
Landestheater NÖ, Großes Haus und Theaterwerkstätte
14.12.12, 19.30 Uhr
Gastspiel: Schauspielhaus Zürich
Österreich-Premiere
Regie & Bühne: Dušan David Parízek
Mit Sarah Hostettler, Miriam Maertens,
Edgar Selge, Frank Seppeler, Franziska Walser:
Kostüme: Kamila Polívková
Musik: Roman Zach
Dauer: 2 Std. 15 Min., keine Pause

Unter einem Sekundärdrama versteht die 1946 in Mürzzuschlag geborene österreichische Schriftstellerin und Literaturnobelpreisträgerin (2004) Elfriede Jelinek ein Begleitstück, das nicht ohne das Original gezeigt werden dürfe, steht im Programmheft des Schauspielhauses Zürich, das das 2011 geschriebene Sekundärdrama "FaustIn and out" im März 2012 unter der Regie von Dušan David Parízek uraufgeführt hatte. Seither wurde es auch in deutschen Häusern mehrfach inszeniert und aufgeführt. Jelinek sieht das Sekundärstück als kläffenden Hund der neben dem Klassiker herlaufen soll*, möglicherweise sieht sie sich selbst als den in Goethes Waden beißenden Pudel.

Wie wir wissen: Faust hat genug vom Leben, der gebildete Mann ist des Lebens überdrüssig. Wissenschaft und Religion stehen im Widerspruch. Als Mephistopheles ihm in Form eines Pudels erscheint, schließt er einen Packt mit ihm und verkauft ihm dafür seine Seele. In Gretchen sieht er die Vollkommenheit der Frau erfüllt, sie ist jung, hübsch und unschuldig. Das Begehren wächst und der Teufel macht sich laut Vertrag dienstbar, doch muss er zuerst Gretchen zu Fall bringen, denn einem unschuldigen Wesen kann nicht einmal der Teufel und auch nicht Faust an.

Der Mann (Faust) ist Repräsentant des Menschen, der Menschheit schlichtweg. Da Gretchen im "Urfaust" erst spät in Erscheinung tritt, sondern zunächst nur Objekt der männlichen Begierde ist, scheint sie nicht Teil dieser Menschheit zu sein, vielmehr erscheint sie als Mittel zum Zweck. An diesem Punkt arbeitete sich Jelinek regelrecht an Faust ab. Jelinek transponiert den Klassiker in die Gegenwart, wie es sonst noch kein/e AutorIn gewagt hatte. So gibt es in Jelineks Stück drei Rollen: eine Faustin, GeistIn und eine GretIn. Die Rollen werden untereinander getauscht. Diese Figuren nehmen eine ebenbürtige Rolle zum Mann ein. Sie spielen den Mann, der sich selbst und den die Frauen über Gott stellen. Der Begriff der Dreifaltigkeit drängt sich auf: der Mann, der Vater, Gott. Sie tritt in Form einer Gestalt auf, nämlich als Täter. Dass Jelinek es nicht dabei belässt, zeigt sie anhand der drei Frauenrollen, die eigentlich nur eine Frau darstellen, nämlich das Opfer, das mithelfen muss, sich ihr eigenes Grab zu schaufeln, bzw. sich dem männlichen Spiel der Untat nicht entreißen kann und somit für ihren Niedergang selbst verantwortlich ist.
Subtil reizt Jelinek das Spiel der austauschbaren Täter- und Opferrollen aus. Am Beispiel des menschlichen Dramas von Amstetten, des Falles Fritzl samt seinem 2008 befreiten Kellervölkchens** und des Falles Natascha Kampusch bringt Jelinek das wechselseitige monströse Spiel klar zur Sprache.

Für diese Aufführung wurde das ganze Theater vom Großen Haus bis zur Theaterwerkstatt benötigt. Auf beiden Bühnen wurde synchron gespielt. Im Großen Haus zeigte man Faust I-II von Goethe, in der kleinen Theaterwerkstatt Jelineks FaustIn and out. Zusammen ergibt es Faust I-III. Für FaustIn and out wurde die Theaterwerkstatt als Keller adaptiert. Über zwei Monitore, die tonlos gehalten wurden, konnten die Zuschauer sehen, was sich währenddessen im Großen Haus abspielte. Die Besucher im Großen Haus konnten durch drei Videoübertragungen sehen, was sich partiell im "Keller" abspielt. Durch diesen grandiosen Inszenierungsgriff wurden die Theaterbesucher das Gefühl nicht los, etwas verpasst zu haben. Die im Keller hätten gerne gewusst, wie man mit zwei Männern einen so komplexen Faust spielen kann, die im Großen Haus wissen nicht genau, was sich da im Keller abgespielt hatte. Auch wenn man Faust kennt - und dies ist Grundvoraussetzung, um dieses Stück zu verstehen - bekommt man den Eindruck nur halb informiert zu werden, quasi einer bewussten Wissensunterschlagung zum Opfer gefallen zu sein. Dadurch werden die Zuschauer unmittelbar zu Mittätern und -opfern der Handlung, regelrecht werden sie Teil des Stückes, bekommen die Rolle des stummen Chors zugewiesen. Und so spielt jeder einzeln für sich die Rolle seines Lebens: den peinlich Berührten, den Betroffenen, den Geschockten, den Ängstlichen, den Nicht-Wahr-Haben-Wollenden, den Nicht-Involvierten …
Manch einer musste sich vielleicht ermahnen, dass er in diesem Stück nur stummer Statist ist, dass er nicht mitreden darf, sich an den Wortkaskaden der Jelinek beteiligt, aufsteht und in den in der Mitte des (als schalldicht gezeigten) schwarzen Kellerraums stehenden Metallkübels (-eimers) hineinkotzt.

Während oben also Faust nach seinem berühmten Osterspaziergang mit seinem Famulus Wagner, mit dem Teufel in Verhandlungen steht, zeigt Jelinek wie GretIn (Gretchen) sich selbst ihren Keller baut. Rollend spielen Franziska Walser, Miriam Maertens, Sarah Hostettler die Rolle der FaustIn, GeistIn und Gretin. Doch eigentlich ist es eine Beleidigung, denn man hatte nicht den Eindruck, dass diese drei hochkarätigen Schauspielerinnen gespielt hätten. Sie haben es gelebt, das Publikum war mittendrinnen, es wurde Zeuge eines Verbrechens, einer Gefangenschaft eines sündenlosen Mädchens. Schließlich fühlt man sich verantwortlich, als Teil des Publikums, wie man auch als Teil der Gesellschaft schuldig ist, nicht zu handeln, nicht einzugreifen, nicht die Stimme zu erheben, seine bürgerlichen Pflichten wahrzunehmen, seiner menschlichen Intuition zu folgen und dem ganzen Drama ein Ende zu bereiten. Wir wollen uns doch nicht einmischen, das geht uns doch nichts an. Hier in Österreich haben wir eine ganz besondere Art, etwas unter den Teppich zu kehren, uns die Welt schönzufärben.

Diese Inszenierung hat, möchte ich meinen, jede einzelne Absicht der Autorin minutiös ganz in ihrem Sinne ausgearbeitet. Das Publikum im Keller wurde mit Klaustrophobie konfrontiert, mit Demütigung und Demutshaltung, mit Hass und Liebe, mit der Unterdrückungsgewalt und dem Überlebenswillen, mit der Schande und der menschlichen Würde, schlichtweg mit dem schizophrenen Wahnsinn, der in uns Menschen inne wohnt. Für die Länge dieses Stückes konnte das Publikum all diese Empfindungen und auch die Schuld in sich spüren. Doch am Ende des "Faustin and out" wurde das Kellervölkchen befreit und nach oben auf die Bühne des Großen Hauses des Landestheaters geführt. Durch einen engen Gang hinter den Theaterkulissen wurde das kleine Kellerpublikum (max. 50 Personen) über eine niedrig gehaltene Treppe ins "Freie" auf die Hauptbühne geführt. Dort stand es dann regungslos, aneinandergereiht, die Schauspieler unter ihnen wie ein Gefangenen-Chor eine Schweigeminute abhaltend bis es sich auf seinen reservierten Plätzen im Saal setzen durfte.

Die Befreiungsaktion ist justament für jenen Zeitpunkt geplant, als Gretchen Faust erscheint. Mit den hervorragenden Schauspielern Edgar Selge und Frank Seppeler, die alle Rollen in "Faust I", vor allem Faust und Mephistopheles (!) wechselseitig verkörpern, konnte der 1971 in Brünn geborene Regisseur Dušan David Parízek erfolgreich Jelineks "Faustin and out" und Goethes "Faust" zusammenführen.

Jelinek, die gegen Missstände im öffentlichen, politischen, aber auch im privaten Leben der österreichischen Gesellschaft schreibt, ist in ihrem gewohnt sarkastischen und provokanten Stil wieder einmal ein hervorragendes Stück gelungen. Die neue Intendantin des Landestheaters NÖ Bettina Hering ermöglichte dem St. Pöltner Publikum, die Uraufführung dieser meisterhaften Inszenierung mit diesen brillanten wie eindrucksvollen SchauspielerInnen als Gastspiel am 14. und 15. Dezember 2012 zu erleben. Ein Stück mit zweieinhalb Stunden Spielzeit ohne Pause, welches nicht kurzweiliger sein kann. Großartig! BRAVO!

Info: Das vollständige Stück kann man auf www.elfriedejelinek.com nachlesen, das Recht der deutschsprachigen Aufführung liegt beim Rowohlt Theater Verlag.

* E-Mailaustausch zwischen dem Dramaturgen Roland Koberg und Elfriede Jelinek (aus dem Programm des Schauspielhaus Zürich, Datum des E-Mailaustauschs ist nicht angeführt)
** Ausdruck aus dem Roman "Claustria" von Régis Jauffret (Salzburg: Verlag Lessingstraße 6, 2012)

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