Gespenster: Henrik Ibsen. Rez.: Ernst Punz

Ernst Punz
ZU BODEN GEHEN

 

GESPENSTER
Henrik Ibsen

Ein Familiendrama in drei Akten
Aus dem Norwegischen: Heiner Gimmler
Landestheater NÖ,
Premiere
Samstag, 15.10.2011
Regie: Michael Gruner
Dramaturgie: Barbara Nowotny
Mit:
Juliane Gruner, Katharina von Harsdorf, Florentin Groll
Patrick Jurowski, Othmar Schratt
Bühne und Kostüme: Michael Sieberock-Serafimowitsch
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

„Mutter, gib mir die Sonne!“
Osvald Alving

Der Zuschauerraum ist noch hell erleuchtet. Zuseher tauschen letzte Worte, einige husten sich ein, manche blättern und lesen im Programmheft in den sorgsam zusammengestellten Texten von und über Henrik Ibsen. Wer trotz des hellen Lichts auch im Dunkel gut sieht, kann auf der unbeleuchteten offenen Bühne eine junge blonde Frau erkennen. Regungslos liegt sie am Boden. Schläft sie? Wurde sie zusammengeschlagen, ist sie tot? Neben ihr liegt ein umgestürzter schwarzer Sessel. Ist sie gefallen?

Bei Beginn der Vorstellung kehren sich die Lichtverhältnisse um. Ein dämmriger hoher schwarzer Raum wird sichtbar, der von zwei wuchtigen schwarzen Holzbalken schräg durchragt wird. Der eine Balken von vorne links, oberhalb der Bühnenöffnung nach rechts hinten, gegengleich der andere, nur ein wenig niedriger. Links hinten eine große Wasserpfütze, in die unablässig und monoton Wasser tropft: „Pitsch, pitsch, pitsch, …“ Matt spiegeln sich die Wasserkreise an der rückwärtigen Wand. Wo sind wir? Ein baufälliger Dachboden? Ein leer stehendes Magazin, ein eingestürzter Lagerraum?

Anders wie im Original lassen Regisseur Michael Gruner und Bühnenbilder Michael Sieberock-Serafimowitsch Ibsens Gespenster nicht in einem geräumigen Gartenzimmer spielen. Bei ihnen wirft das Ende des Stückes bereits zu Beginn seine Schatten: Das abgebrannte und nicht versicherte Kinderasyl der Frau Helene Alving. Dargestellt wird Frau Alving von Juliane Gruner: zerbrechlich, sich auflehnend, in Liebe entflammt, behütend, desillusioniert, verwirrt und am Ende vor die schwerste Entscheidung ihres Lebens gestellt. Das Kinderasyl hatte sie zur Ehre ihres vor zehn Jahren verstorbenen Mannes, Kapitän und Hauptmann Alving, errichten lassen und dabei bewusst seine finanzielle Hinterlassenschaft verbraucht. Dem Mann, mit dem sie unglücklich verheiratet war, dem sie sich widersetzt hat und der nicht zuletzt dadurch zu anderen Frauen gefunden hatte, dem wollte sie nach außen hin ein Denkmal setzen und gleichzeitig das aufbrauchen, was ihr von ihm noch geblieben war: sein Vermögen.

Pastor Manders hätte das Asyl einweihen sollen, doch gerade durch einen von ihm unachtsam weggeworfenen glimmenden Docht, wird es ein Raub der Flammen. Pastor Manders, überzeugend gespielt von Florentin Groll, ist ein Mann, der seinen Worten handfest Nachdruck verleiht. Seinen heiligen Zorn lässt er Tischler Engstrand spüren, dem er vorwirft, ein unmoralisches Angebot angenommen zu haben. Engstrand soll gegen Geld Alvings ehemaliges Dienstmädchen geheiratet haben, dass von Alving zuvor außerehelich geschwängert geworden war. Manders fühlt sich von Engstrand absichtlich belogen und in die Irre geführt. Immer wieder stößt er den von ihm zu Boden geworfenen Tischler mit dem Kopf in die Wasserpfütze. Othmar Schratt, in der Rolle des vom Leben und von Pastor Manders gebeutelten Engstrand, ringt nach Luft und versucht zu beteuern, dass er zwar von der Schwangerschaft jedoch nichts von der Vaterschaft Alvings gewusst hatte. Das von seiner Frau mitgebrachte Geld, habe er für die Ausbildung von Tochter Regine verwendet.

Regine, die am Anfang des Dramas mit regungslosem Körper am Boden gelegen hatte, wird auch im übertragenen Sinn zu Boden gehen. Doch dort bleibt sie nicht lange liegen. Katharina von Harsdorf verkörpert eine junge Frau, die sich aus Zwangslagen mit Entschlossenheit entwindet. Ihrem Vater schlägt sie kalt und abweisend den Wunsch ab, mit ihm in die Stadt zu gehen und dort in einem Asyl für Seefahrer zu arbeiten, das er mit dem beim Bau des Kinderasyls verdienten Geld aufbauen will. Rasch verliebt Regine sich in Osvald Alving, der ihr als aus Paris und Rom kommender Künstler Avancen macht und ihr nachstellt. Die Rufe und Geräusche der beiden jungen Leute aus der Küche, erwecken bei seiner Mutter Helene traumatische Erinnerungen: „Gespenster!“

Nachdem Regine erfährt, dass Osvald ihr Halbbruder ist und eine Verbindung mit ihm daher nicht möglich ist, entliebt sie sich noch schneller, als sie sich verliebt hat, und will nun doch ihr Glück in der Stadt suchen. Übrig, im wahrsten Sinn des Wortes, bleiben Frau Alving und ihr Sohn Osvald, dargestellt als künstlerischer Lichtbringer von Patrick Jurowski. Osvalds anfangs weißer Anzug wird mit dem Fortgang der Geschichte und der zunehmenden Aufdeckung der reichlich vorhandenen Geheimnisse mit Staub, Asche und Wasser besudelt. Schließlich bricht bei ihm Gehirnerweichung aus, ein Erbe seines an Syphilis erkrankten Vaters. Vor sich hin delirierend, bittet Osvald seine Mutter, ihm die Sonne zu geben. Helene Alving hat sich bei Ende des Stückes noch nicht entschieden, ob sie ihm die von ihm vor Ausbruch der Krankheit gewünschte Sterbehilfe leisten wird.

Regisseur Michael Gruner hat am Niederösterreichischen Landestheater ein Drama inszeniert, in dem sämtliche Darsteller irgendwann im Laufe des Stückes zu Boden gehen oder zu Boden geworfen werden. Dort wälzen sie sich, rollen auseinander, kriechen einander nach, verrenken und umklammern sich. Überdeutlich verbildlicht wird, was Henrik Ibsen in Worte und Dialoge gefasst hat. Doch liegen bleibt keiner. Und würde das Stück heute spielen, wäre selbst Osvalds Krankheit heilbar. Auch bei einer behutsamen Modernisierung des Stückes von der Paralyse hin zu HIV würde das kein Todesurteil bedeuten.

An dieser Stelle könnte eine Diskussion einsetzen, ob Neuerkenntnisse in der Medizin durch wissenschaftliche Forschung den Dramaturgen nicht wesentliche Stoffe wegnehmen und somit vielfach erprobte Spannungsbögen einfach nicht mehr funktionieren? Nein, bedauerlicherweise käme es zu keinem Verlust dramatischer Verhältnisse.. Die Menschen sorgen durch nicht bewältigtes Zusammenleben, wie auch Ibsen in seinem Stück „Gespenster“, für ausreichend Spannung. Den Literatur- und Theaterschaffenden braucht um Stoff und Spielpläne nicht Bang sein.

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