Kindersorgen: Dennis Kelly. Rez.: I. Reichel

Ingrid Reichel
KONTROVERSEN

 

 
KINDERSORGEN
Dennis Kelly
Landestheater NÖ, Theaterwerkstatt
Taking Care of Baby:
Uraufführung: 03.05.07 Birmingham Repertory Theatre
Deutsch von John Birke
Deutschsprachige Erstaufführung: 15.01.09 Theater Basel
Premiere: 23.01.10, 19.30 Uhr
Regie: Johannes Maile
Mit:
Antje Hochholdinger, Christine Jirku, Julia Schranz, Katharina von Harsdorf
Philipp Brammer, Klaus Haberl, Thomas Richter, Oliver Rosskopf, Hendrik Winkler
Bühne und Kostüme: Ilona Glöckel
Dauer: 1 Stunde 50 Minuten
Keine Pause

 

Der 1970 in London geborene britische Dramatiker Dennis Kelly schrieb mit „Taking Care of Baby“ einen unkonventionellen, gesellschaftskritischen Einakter über den moralischen und ethischen Werteverfall. Kelly spricht von einer kompromittierten Wahrheit, die sich in jüngster Zeit breitmache. Man zappt sich durchs Leben, von einem Fernsehkanal zum nächsten, von einer Schlagzeile zur anderen, immer auf der Spur nach Wahrheit. Das ist die eine Seite. Die andere Seite ist, dass das Geschäft zur Befriedigung unserer Sensationsgier besser gedeiht als das mit der Wahrheit.

Anhand eines fiktiven Falls des Kindermordes beginnt der Autor das Experiment der Wahrheits- und Lügendifferenzierung am Publikum zu veranschaulichen. Das Stück ist in Fragmenten aufgebaut, und setzt sich aus polizeilichen Verhören, Gerichtsaussagen, Selbstreflexionen und Interviews zusammen. Eine wegen Kindsmord angeklagte junge Frau, ihr verzweifelter Ehemann und Kindsvater, ihre politisch ambitionierte Mutter und einer ihrer loyalen Mitarbeiter, ein durchaus respektabel erscheinender Gerichtspsychiater und seine Frau, ein Journalist und der recherchierende Autor selbst bilden die Figuren dieses Stücks. Aus Mangel an Beweisen wird die Kindsmutter von dem Verdacht freigesprochen.

 

Die Protagonistin Donna McAuliffe, gespielt von Julia Schranz, hatte zwei Kinder. Eine kleine Tochter, die vor ein paar Jahren auf dubiose Weise durch Erstickung den Tod fand, und einen kleinen Sohn, der nun ebenfalls auf ungeklärte Art verstarb. Nun sitzt sie vor Gericht und muss sich wegen Kindsmord verantworten. Wenn sie den Sohn ermordet hat, liegt es nicht nahe, dass sie auch die Tochter erstickt hat? Man stelle sich vor, es sterben einem hintereinander die Babys weg und man kann nichts dafür, die Gesellschaft verdächtigt einem aber die Kinder ermordet zu haben. Wirkt diese Frau gestört wegen des infamen Verdachts oder weil sie tatsächlich diese grauenhaften Taten begangen hat?

Hendrik Winkler, in der Rolle des Ehemanns und Vaters der verstorbenen Kinder Martin McAuliffe, hatte nur eine leichte emotionale Veränderung an seiner Frau gespürt, hält Donna für schuldig und wendet sich von ihr ab. Welche Versäumnisse könnte der introvertiert wirkende Ehemann in der familiären Situation verursacht haben? Ist er moralisch gesehen mitschuldig? Verhält er sich ethisch, wenn er zur Aufklärung nichts beitragen will, oder hat er etwas zu verbergen?

Die Mutter der Angeklagten, Antja Hochholdinger als Lynn Barrie ist eine Gemeindepolitikerin, die noch Großes vor sich hat. Mit viel Engagement und „mütterlicher Liebe“ schlachtet sie zunächst ihre politischen und medialen Beziehungen aus, um ihre Tochter aus der verhängnisvollen Situation zu befreien. Ihre tragische Biographie kommt schließlich voll zur Geltung, hatte sie doch schon einen Sohn verloren und nun auch noch ihre beiden Enkelkinder. Der Skandal ereignet sich mitten in der Wahlkampagne und erweist sich schließlich als förderlich für ihre politische Karriere. Tief in ihrem Innersten hält auch sie Donna für schuldig. Ist es die mütterliche Fürsorge, die sie um ihre Tochter kämpfen ließ oder war es ein gewagter Coup, um ihre politische Karriere zu retten?

Der etwas an Alkoholmissbrauch leidende Psychiater Dr. Millard, gespielt von Klaus Haberl, erkannte bei einer kurzen Einvernahme das Leeman-Keatley-Syndrom (LKS) an Donna. LKS, ein Syndrom welches er bei 34 anderen Frauen bereits diagnostiziert hatte. Beim LKS handelt es sich um ein Verhalten, welches vorwiegend bei jungen Müttern beobachtet wurde, die mit ihrer geschädigten Umwelt dermaßen mitfühlen, dass sie durch die Unerträglichkeit des gefühlten Mitleids den Menschen, den sie am meisten beschützen und lieben, von der bösen Welt befreien wollen und ihn folglich ermorden. Für Millards LKS Theorie gibt es jedoch keinerlei wissenschaftliche Beweise, und der Psychiater wird sich einer Untersuchung stellen müssen, bei der er seine Approbation verlieren könnte. Seine Frau, dargestellt von Christine Jirku, leidet jedoch unter den Ereignissen, da sie ihren Freundeskreis verloren hat. Die freundlichen aber kleinbürgerlichen Leute aus dem Dorf, in dem das Paar wohnt, haben für solche Skandale nichts übrig und stellen das Ehepaar Millard ins gesellschaftliche Out. Da kommen Mrs. Millard zunehmenst Zweifel um die Kompetenz ihres Gatten auf. Will sich Millard mit dem LKS nur profilieren, hat er am Ende das LKS erfunden, um wieder ins Rampenlicht zu rücken?

 

Dennis Kelly spielt mit dem Publikum. Es geht nicht um Wahrheitsfindung, denn die Wahrheit im Falle Donna, kennt nur Donna selbst. Hier geht es um Disziplinierung unserer Phantasie. Wir müssen lernen uns an Fakten zu halten, wir müssen lernen uns nicht von Geschichten hinreißen zu lassen, wir müssen lernen unsere Neugierde, die all zu gerne lüstern nach Sensation giert, zu beherrschen.

Kleine Anmerkung: Suchen Sie nicht nach dem LKS-Syndrom, es ist wie alles andere vom Autor frei erfunden…

 

Ein durchwegs zeitloses Thema, welches aber durch die allgegenwärtige Medienpräsenz als äußerst brisant gelten darf. Trotz hervorragender schauspielerischer Leistung jedes einzelnen Schauspielers des Ensembles des Landestheaters NÖ und einer durchaus interessanten Regie konnte das Stück jedoch nicht gänzlich das Publikum erreichen. Diskussionen während der Premierenfeier belegen dies. Äußerst kontroversiell wurde es aufgefasst. Die einen fanden es packend, die anderen konnten sich nicht identifizieren, fanden die Regie unausgereift und bemängelten das Timing. Manche meinten das Stück eigne sich nicht für die Bühne.

 

Einigkeit herrschte allerdings darüber, dass das Stück zu lange ist. In der Mitte der Aufführung machte sich ein Durchhänger bemerkbar. Zuschauer verloren die Konzentration und konnten oder wollten dem Stück nicht mehr folgen. Dies war daran zu erkennen, dass etliche Theaterbesucher Christine Jirku nicht als Mrs. Millard identifizierten. Ich selbst muss gestehen, dass ich beim Schreiben dieser Kritik bemerke, dass mir die Rolle des Brian entfallen ist.

 

Woran auch immer es wohl liegen mag, der Abend dieser Premiere endete so, wie es sich der Autor nicht besser wünschen könnte, in einer Debatte um „richtig“ oder „falsch“. Dabei ist es unerheblich, geht es doch um unsere Zweifel und wie wir Gewissheit erlangen können.

In diesem Sinne kann man zur Auswahl des Stückes nur gratulieren und dem Ensemble in diesem extrem schwierigen Stück Durchhaltevermögen für die Saison wünschen.

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