54/blind/Essay: Gertraud Artner - Ossian oder die unendliche Sehnsucht

Gertraud Artner
Ossian oder die unendliche Sehnsucht

Es war einmal vor langer, langer Zeit.....
Genau genommen war es im Herbst 1736, als James Macpherson in der Grafschaft Inverness, Schottland das Licht der Welt erblickte. Nichts deutete darauf hin, dass er bereits als junger Mann für ein literarisches Jahrhundertereignis weit über die Grenzen seiner Heimat hinaus sorgen sollte.
Zunächst begann er als einfacher Schullehrer in seinem Geburtsort Ruthven. Mit 23 Jahren übersiedelte er nach Edinburgh, wo er als Erzieher und Hauslehrer tätig war. In dieser Zeit erhielt er den Auftrag, alte gälische Gesänge der Heimat zu sammeln und zu übersetzen. An sich nichts Außergewöhnliches, lag doch die Hinwendung zu den nationalen Wurzeln, zur Volkspoesie und ihren Sagen voll im Zeitgeist vorromantischer Sensibilität.


Louis Girodet-Trioson, Ossian empfängt die Helden, 1801

Bereits die erste Ausgabe „Fragments of Ancient Poetry“ 1760 wurde ein durchschlagender Erfolg. Die Kritiker und das Leserpublikum waren begeistert von den unverfälschten Naturbildern, hingerissen von dem Naturgefühl insgesamt und den edlen Helden. Bestärkt und ermutigt unternahm Macpherson noch im selben Jahr eine mehrmonatige Forschungsreise in das schottische Hochland, doch dürfte die Zahl der noch erhaltenen Fragmente eher enttäuschend gewesen sein. Kein Problem für Macpherson, der sich nicht bloß als Übersetzer, sondern immer auch als Dichter verstand. Voll Fantasie „vervollständigte“ er die „ancient fragments“, schmückte sie aus und (er)fand - das Wichtigste! - den Hauptprotagonisten seiner Gesänge:
Ossian, der keltische Barde, Sohn des Finn und Held des südirischen Sagenkreises im 3. Jahrhundert n. Chr. Geburt. Kurzerhand transferierte Macpherson die Geschichte nach Schottland frei nach dem Motto: Kelten da wie dort. Aus Finn machte er Fingal, König der Kaledonier, der auf Burg Selma im schottischen Hochland residierte. Schlachten und Tote gab es viele, zuletzt wurde auch noch Ossians Sohn Oskar ermordet. Es war dessen Verlobte Malvina, die treu den mittlerweile greisen und blinden (!) Barden pflegte, der fortan zur Harfe die Heldentaten Fingals, Oskars und der anderen Helden besang.
Anders als der irische Ossian war sein schottisches Ebenbild blind. Ein interessanter Kunstgriff Macphersons, bei dem die Homer–Renaissance im England des 17. Jahrhunderts offenkundig einen starken Eindruck hinterlassen hatte. Schließlich stattet die Legende Homer mit den typischen Zügen des wandernden Rhapsoden aus, zu denen auch Blindheit gehörte. Da konnte Ossian nicht zurückstehen.
Übrigens versuchte sich Macpherson Jahre später an einer Homer–Übersetzung, die ihm den Spottnamen „Homer im Schottenrock“ eintrug. Keinen Spott gab es für die Ossian–Werke, ganz im Gegenteil. Zwar wurden immer wieder Zweifel an der Echtheit der Schriftstücke laut, doch die entfachten Begeisterungsstürme fegten sie mühelos hinweg. Die Euphorie kannte buchstäblich keine Grenzen. Dabei ist die Faszination, die von Ossian ausging, nach heutigen Maßstäben kaum
nachvollziehbar. In schwülstig–romantischer Manier beschwören die Gesänge episches Schlachtengetümmel vor nebelverhangener Landschaft, erinnern an die Schicksale auserwählter Helden, die sich meist um die Rettung von Königreichen bemühten. Offenbar fanden sich hier genau jene Melancholie und Nostalgie, jener Weltschmerz wieder, die – gepaart mit nationalem Gedankengut – für die Epoche der Romantik prägend sein sollten.
Hier eine kurze – ausnahmsweise nicht kriegerische – ostprobe mit prominenter Übersetzung aus „The Songs of Selma“:
What dost thou behold, fair light?
But thou dost smile and depart.
The waves come with joy around thee,
and bathe thy lovely hair.
Farewel, thou silent beam!
Let the light of Ossian`s soul arise.
And it does arise in its strength!
(Macpherson, 1762)

Wornach siehst du, schönes Licht?
Aber du lächelst und gehst;
freudig umgeben dich die Wellen
und baden dein liebliches Haar.
Lebe wohl, ruhiger Strahl!
Erscheine, du herrliches Licht von Ossians Seele!
Und es erscheint in seiner Kraft.
(Goethe, 1771/1774)

In den skandinavischen Ländern war Ossians Einfluss ungeheuer, unterstrichen doch die der eigenen Mythologie ähnlichen keltischen Legenden den Kult der nationalen Wurzeln. Anders in Frankreich, wo der Ossianismus vor allem auf dem persönlichen Engagement von Napoleon Bonaparte beruhte. Ossian war s e i n Dichter, so wie Homer der Dichter Alexanders und Virgil der des Augustus war.
Seine Werke begleiteten ihn auf dem Schlachtfeld und angesehene Maler wurden mit der Huldigung des keltischen Barden beauftragt. Die Wellen des Ossian-Kults umfassten das ganze Kaiserreich. In den Salons, in Kunstausstellungen, überall tauchten ossianische Themen auf. Die Vermarktung hatte voll eingesetzt. Einer der ganz wenigen, der dieser Geschmackswelle widerstand, war übrigens der Skeptiker Voltaire.
Ins Deutsche wurden die Werke Ossians erstmals 1768/69 von dem Wiener Jesuiten Michael Denis, der sich selbst Barde Sined nannte, übersetzt. Besonders im deutschsprachigen Raum vermochten die Gesänge ganze Dichtergenerationen in ihren Bann zu schlagen und trugen wesentlich zum „Sturm und Drang“ bei.
Johann Gottfried Herder, bedeutender Vorreiter der Ro
mantik und auch Sammler von Volksgesängen, brachte seinem Schützling Goethe die Ossian-Lieder nahe. Und auch Goethe entbrannte sogleich leidenschaftlich für den „Homer des Nordens“, was augenscheinlich in „Die Leiden des jungen Werthers“ (1774) seinen Niederschlag fand: als Motiv der Empfindung und Reflexion seines Helden und als Zitat. Werther selbst bekennt: „Ossian hat in meinem Herzen den Homer verdrängt.“ Der Ossian-Kult wurde von nun an von der Werther-Begeisterung mitgetragen. Praktisch alle namhaften Künstler dieser Zeit, ob Dichter, Maler oder Komponisten waren mit dem keltischen Barden befasst. Sogar Franz Schubert verfasste 1815/16 eine Reihe von Liedern zu Ossian. Da war die Fälschung allerdings schon längst offiziell nachgewiesen (nach dem Tod Macphersons 1796) und man würde annehmen, dass damit auch die ganze Geschichte letztlich ein eher unrühmliches Ende fände. Tatsächlich war der Ossian-Kult aber nicht Abschluss, sondern Auftakt, sozusagen Dämmerung einer neuen Epoche, die der Romantik. Seit Beginn des 18. Jahrhunderts in Vorbereitung löste sie etwa um die Wende zum 19. Jahrhundert Aufklärung und Klassizismus ab. Und in keinem anderen Land erreichte die Romantik eine derartige Hochblüte und zugleich Breitenwirkung wie in Deutschland.


Gottfried Helnwein Epiphanie (Anbetung der Könige 3), 2013 Privatsammlung © VBK, Wien, 2013

Es war vor allem das nationale Gedankengut, das hier auf fruchtbaren Boden fiel. Friedrich Gottlieb Klopstock, Vorbild der Messiaden-Literatur seiner Zeit und ein Vater des deutschen Nationalstaatgedankens, führte noch in den späten 60er Jahren des 18. Jahrhunderts eine eigene Korrespondenz mit Macpherson, um festzuhalten, dass für ihn Ossian deutscher Abkunft, weil Kaledonier war. Zu dieser Zeit erschien übrigens auch sein wohl bekanntestes Drama „Hermanns Schlacht“ ( erster Teil seiner Hermann-Trilogie). Auch Herder huldigte der nordischen Mythologie in der Überzeugung, dass jeder wahre Dichter seine Ideen „aus der Denkart der Nation“ schöpfen sollte und diese Ideen Gestalt annehmen müssten in einer „ihrer eignen Denkart und Sprache entsprossenen Mythologie“. 1)  Dass es sich bei den Ossian-Gesängen um eine Fälschung handelte, wurde offenbar ausgeblendet. Doch sollte der keltische Sagenkreis in den folgenden Jahren und Jahrzehnten ohnehin an Bedeutung verlieren verblassen angesichts einer sich anbahnenden Götterdämmerung, d e m Heldenepos der Germanen: die Nibelungensage, das deutsche Nationalepos schlechthin. Von der nationalen Gesinnung reichte nur ein kleiner Schritt zum Nationalismus. Karl Popper meinte in „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“ (1945) treffend, dass der Nationalstaat an sich ein Mythos sei, ein Traum von Naturalismus und kollektivistischer Stammeszugehörigkeit. Im Großen Brockhaus wiederum findet sich unter „Romantik“ der rührende Hinweis: „Die Nachwirkung des romantisch Irrationalen, Maßlosen und Schwärmerischen auf das politische Leben ist besonders in Deutschland im 20. Jahrhundert zu einer Gefahrenquelle geworden.“(Ausgabe 1956) Aber worum geht es bei dieser „unendlichen Sehnsucht“, die sich so nachhaltig im deutschsprachigen Raum ausbreitete, überhaupt? In einer Zeit tiefgreifender wirtschaftlicher und sozialer Umbrüche (Industrialisierung!) war die Romantik zunächst eine Reaktion auf das Monopol der vernunftgetriebenen Aufklärung, getragen von einem starken Freiheitsideal. Die Romantiker empfanden die Welt als eine zerrissene, gespaltene und strebten nach der Einswerdung von Vernunft und Gefühl, von Mensch und Natur. Ihre treibende Kraft war eine ins Unendliche gerichtete Sehnsucht nach der Zusammenführung von Gegensätzen zu einem harmonischen, universellen Ganzen, einer auf Treue gegründeten Weltordnung. Symbol dieser Sehnsucht und des Strebens nach Unendlichkeit war die Blaue Blume. 2) Im Deutschland des 19. Jahrhunderts entwickelte sich ein regelrechter Kornblumen-Kult. Zum politischen Symbol deutscher Treue wurde die Kornblume aber vor allem in Österreich. So war sie die Parteiblume der Schönerer Bewegung „Alldeutsche Vereinigung“ 3), seit 1935 Teil des Logos des „Vereins für das Deutschtum im Ausland“ und 1933 bis 1938 Erkennungszeichen der damals illegalen Nationalsozialisten.

Seit 2006 tragen die Abgeordneten der FPÖ zu konstituierenden Sitzungen des Nationalrates neben der üblichen weiß-roten Schleife die Kornblume. Wie jedes Märchen endet auch diese Geschichte über Blindheit und Verblendung mit dem Satz: „Und wenn sie nicht gestorben sind, so leben sie noch heute.“ Was Macpherson anbelangt, brachte er es zeitlebens zu Reichtum und Ansehen, erhielt ein Staatsbegräbnis und ruht seit knapp 220 Jahren im „Dichterwinkel“ der Westminster Abbey.
 

1) Als Quelle der vorliegenden Arbeit diente großteils der Katalog „Ossian und die Kunst um 1800“, Hamburger Kunsthalle, Prestel Verlag München 1974
2) Der Dichter Novalis verwendet erstmals dieses Symbol in seinem fragmentarischen Roman „Heinrich von Ofterdingen“ (1800/1802) über einen sagenhaften Sänger im 13. Jhdt.
3) Georg Schönerer (1842 – 1921), österr. Gutsherr und Politiker, Führer der Deutschnationalen und ab 1891 der Alldeutschen Vereinigung, u. a. Mitglied des niederösterreichischen Landtages. Er war ein heftiger Gegner des politischen Katholizismus und radikaler Antisemit, eines der Vorbilder des jungen Adolf Hitler.

 

Erschienen im etcetera Nr. 54 / blind / Dezember 2013

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54/blind/Essay: Gertraud Artner - Ossian oder die unendliche Sehnsucht

52/Körper/Essay: Körper. Wolfgang Mayer-König

Wolfgang Mayer-König
Körper

Wie sehr mich der unverhofft auf meiner Terrassenbank angetroffene, eingerollte Körper einer schwarzen Katze rührt und voll Liebreiz entzückt! Obschon ich lediglich einen einfarbigen, tief schwarzen, dickfelligen, eingerollten Rückenbogen sehe, der sich regelmäßig hebt und senkt.
Durch solche, aus eigenem Atmen zwar vertraute, aber abgestumpft als selbstverständlich übergangene, unerhört sanfte Atemzuge, erhalte ich ein Unterpfand, zwar fremden aber unerhört zugehörigen Lebens, obschon ich gerade erst in diesem Augenblick, durchs Terrassenfenster blickend, diesem Körper, diesem Leben, erstmals begegnet bin. So denke ich bei mir: Wie sehr kann man etwas Vorübergehendem so nahe sein, ohne es zu besitzen, ihm angehören, obschon man weder leblose Materie noch Lebendiges besitzen kann, weil beide für sich sind und es auch stets bleiben werden, und unser eigener Körper letzten Endes auch keine Taschen hat, und tragende Hände nur solange tragen, als sie nicht für immer niedersinken. Weil wir nichts und niemanden wirklich körperlich besitzen können, gelange es uns umso mehr, es oder ihn, zu akzeptieren, so zu nehmen, wie er oder es ist, es oder ihn zu lieben, zu pflegen, ja zu umsorgen. Warum sollte allem und jedem dabei das Scheitern der idealen Vorstellung anhaften oder gar innewohnen? Allein schon der Wunsch ist im Stande, anfänglich energiegeladen das instinktive Vermögen zu solchem Tun zu haben sowie das „Im Stande Sein dazu“ zu vollenden. (Sie liegt noch immer eingerollt auf der Terrasse, die Katze!). Mit solchem Verständnis, viele Irrtümer und Missverständnisse des Lebens zu vermeiden und sich den Geheimnissen der Pflege und Kultvierung aller Lebewesen und allen Lebens zu öffnen, lasst es sich, glauben Sie mir doch, liebe Leser, besser leben, lasst sich auch das Zusammenleben der verschiedenen Arten besser regeln, vermag eine solche Sicht, jedem Augenblick des Zusammenlebens eine besondere Wurde zu verleihen. Noch dazu heißt es ja, wir wurden nach dem Tod alle körperlich auferstehen, Menschen wie Tiere. Ich weis, ehrlich gesagt gar nicht, ob ich das will. Ja stellen sie sich doch einmal vor: allen Menschen wieder körperlich zu begegnen, die uns bis zur Weißglut schon zu Lebzeiten gepiesackt haben. Auch den Kriegstreibern, den Massenmördern und Kriegsverbrechern. Eine Art Totschlag im Affekt oder instinktive Mordlust kennen die Tiere zwar auch, aber der durchdachte, von langer Hand vorbereitete Massenmord ist eine eindeutige Erfindung des Menschengeschlechts.

In der Tierwelt wird dem in der aggressiv- defensiven Verteidigung seines Reviers zunehmend entkräftete, in seiner geschlechtlichen Potenz nachlassende Rudelführer oder Platzhirsch naturgemäß der Rest gegeben. Aber ist es bei den Menschen anders? Eine zugleich extrem heuchelnde, pietistische und auf Statussymbole erpichte, wie von Jugendfetischismus, Schönheitswahn und Potenzwettlauf stigmatisierte Gesellschaft, gibt den in all dem Vorgenannten körperlich nicht Nachkommenden den Rest; selbstredend auch den Körpern der nicht in ausreichendem Maße, mit entsprechender Mogelpackung korrigierenden, natürlich auch entsprechend zahlungskräftigen, Klientel. Wer wird künftig erklären, warum man den Großvater, nur weil er, wie es nun einmal bei alternden Saugetieren auch Gang und Gabe ist, im übertragenen Sinn „den Schwanz hangen lasst“, nicht gleich an den Rand der Gesellschaft drangen oder ihn gleich „wegraumen“ kann. Die Volks-, Haupt- und höheren Schulen übernehmen diese Aufklarungsarbeit nicht, das Elternhaus aus verständlichen Gründen ebenso wenig, der Religionsunterricht, der darin eine der wenigen sinnvollen Aufgaben hatte, tut es auch nicht. Die Universitäten vielleicht gar? Wer also kann und soll es tun? Wenn wir unsere Erde insgesamt betrachten, auf der Körper so respektiert werden, dass ein Großteil von ihnen jährlich an Hunger stirbt, obwohl allein schon ein Teil der Rüstungsausgaben und ein Teil der weltweiten Steuerhinterziehung zur vollkommenen Ernährung aller Menschen der Weltbevölkerung ausreichen wurde, schaut es nicht gut um sie aus. Wenn man auch beispielsweise bedenkt, dass in den letzten hundert Jahren dreimal so viele Körper von Menschen in Kriegen ermordet wurden und starben als in den fünftausend Jahren zuvor! Ware es angesichts des wissenschaftlich-technologischen Fortschritts und der Intelligenzentwicklung des modernen Homo sapiens nicht gescheiter, den Körper der Menschen hier und jetzt zu schützen? Das von der Staatengemeinschaft garantierte Grundrecht darauf wird ja mit Füßen getreten, es wird im Argot gesagt, darauf geschissen. Wer kann von uns allen Ernstes verlangen, dass wir darauf salbungsvoll warten, bis wir alle in der bestmöglichen körperlichen Kondition, die wir zu Lebzeiten hatten, wieder endgültig aufgeweckt werden und körperlich auferstehen dürfen? Ganz abgesehen davon, dass ein Großteil der Menschen, seit seiner Geburt, niemals die körperliche Unversehrtheit, diese Ungebrechlichkeit, hatte oder haben konnte, weshalb dies auf einen Großteil der Menschen, oh Schande, gar nicht zutrifft und wirksam werden kann. Von allen den gefährlichen Illusionisten sind mir noch die alten Griechen am liebsten. Es zeigt sich für mich einmal mehr, dass wir uns seit den alten Griechen bis zum heutigen Tag nur in tiefem, viel weiter zu fassendem, Mittelalter befinden. Ja so schaut es aus!

Die aristotelisch-scholastische Körperlehre besagt, dass die „materia prima“ die reine Potenz ist, durch welche jede substantielle Form ihre Aktualität und Individualität erhalt, und dadurch ein bestimmter Körper wird; dass aber die geistige Seele als einzige Wesensform des menschlichen Körpers auch jede beliebige Materie zu ihrem Körper gestalten kann und auch gestaltet. Sehr schon und eigentlich sehr treffend gesagt. Aber auch im Hellenismus, Platonismus und Gnostizismus kommt es zu einer Wiedervereinigung der durch den Tod zuvor vom Körper getrennten Seele mit ihrem nunmehr wieder hergestellten und endgültig nicht mehr der Verwesung unterworfenen Körper. Seltsam! Die anderen durchaus bedeutsamen Altvorderen sind nicht minder schwer zu verstehen, aber nahezu alle Religionen teilen diesen Glauben an ein sogar körperliches, ewiges Leben. Im Zarathustrismus aber auch später im Islam macht die leibliche Auferstehung aller erst die Totenauferstehung aus, wobei nicht ganz klar wird, was dabei „der jüngste Tag“, das Weltengericht, tatsachlich bedeuten soll. Nach der Rabbinischen Theologie, der Mischna, gibt es in der kommenden Welt kein Essen und kein Trinken, keine Fortpflanzung und keine Vermehrung. Das hatte ich mir schon denken können. Aber damit ist es nicht genug.

Die Gerechten, und nur die Gerechten, sitzen nur da, ihre Kronen auf den Köpfen und genießen den Glanz der Herrlichkeit Gottes. Und was ist mit den anderen? Ja und ist denn das nicht sozusagen auf die Dauer fad? Im ersten und im zweiten Korintherbrief lehrt Paulus übereinstimmend mit manchen damaligen Pharisäern: Die kommende körperliche Auferstehung aller Toten zum Endgericht sei eine endgültige Verwandlung der ganzen Welt. Na schon. Aber der genaue Ablauf, wie diese körperliche Auferstehung vor sich gehen soll, ist umstritten. Besonders die Frage, ob wiederum nur die Gerechten gemeint sind, ob die allgemeine Totenauferstehung auf die getauften Christen beschränkt ist oder eben, wie es die Sprache von selbst interpretiert, allgemein erfolgen soll. Aber auch, ob sie unmittelbar nach dem Tod erfolgt oder zumindest in nützlicher Frist, wie bei Jesus, der schon am dritten Tage wieder auferstanden ist, was ich mir gefallen lasse, oder wann sonst? Ja, und nicht zu vergessen, auch die Tiere sollen mit ihrem Körper auferstehen, so wollte es kein geringerer als Martin Luther. Ein, wie ich finde, sympathischer Zug von ihm. Denn Gott habe die Tierkörper genauso wie den Menschen aus Erde geschaffen und sie besaßen eine gleichartige Seele wie er. Dem stimme ich zu, denn das kann man bei Hund und Katz und Affe und allem Getier schon beobachten und erleben. Noch dazu haben viele Tierarten ein sehr ähnliches Chromosomenmuster wie der Mensch. Das wird vielleicht ein Schauspiel werden, ein unbeschreibliches, wie immer ein die menschliche Vorstellungskraft übersteigendes, ja sprengendes Durcheinander. Alle seit ihrer Entstehung lebenden und verstorbenen Menschenkörper und Tierkörper diesmal sämtlich vereint und auf ewig zusammen. Wer sich das vorstellen kann, ist mir, zugegebenermaßen, um etliche Schritte überlegen und voraus. Und bitte nicht sagen, das sei nur sinnbildlich gemeint. Eben nicht!!!

Jesus selbst weist die sadduzäische Leugnung der körperlichen Auferstehung als Irrtum zurück. Thomas lehrt: Der Mensch wird in seiner größten natürlichen Vollkommenheit auferstehen, wohl im Zustand reifen Alters. Zur Integrität des auferstehenden Körpers gehören auch die Organe des vegetativen und des sensitiven Lebens, weil sie selbst körperlich sind. Sehr berührend und tröstend ist der Glaubenssatz des Thomas, dass wir alle zusammen in voller körperlicher Unversehrtheit auferstehen, frei von Missbildungen, Verstümmelungen und Gebrechen. Man denke nur an alle Contergankinder, die Landminenopfer, die Kinder als Bombenopfer zuletzt in Syrien, all die vielen Down-Syndrom-Kinder, die krebskranken Kinder, die Kinder mit Schmetterlingshaut, die misshandelten, gequälten und missbrauchten Kinder. Aber wenn schon die körperliche Unversehrtheit angesprochen wird, was ist mit der seelischen? Wenn auch die Verletzung und Ermordung des menschlichen Körpers unter Strafandrohung gestellt ist, es gibt doch tausende Methoden einen Menschen seelisch so rasch und wirksam fertig zu machen, ja wirklich zu toten, ohne die geringste Spur der Missetat zu hinterlassen und so allseits geachtet und straffrei davonzukommen? Was ist damit? Die Gesetze der Menschheit sind nicht nur in dieser Hinsicht äußerst lückenhaft. Um das zu verbergen, wird auch ihnen der äußere Anschein eines vollkommenen Körpers gegeben. Die Römer, das Mittelalter, auch wir nennen es „Körper“ wie „Corpus Juris Civilis“ oder „Corpus Juris Canonici“. Alles den moralischen Gesetzen des Kirchenrechts Nachgeformte, sogenannte zeitgemäße, moderne Gesetze, obschon sie gerade das nicht sind. Eine Vielzahl völlig anachronistischer Bestimmungen haben Jahrzehnte und Jahrhunderte überlebt. Völlig unvermittelt, unausgereift und an der Realität vorbei, wurden Neuerungen dazu montiert und Unvergleichbares vermengend und vertauschend einfach dazu gepanscht. Einer staunenden Nachwelt wird eine Massenproduktion an Gesetzen hinterlassen, deren Vollziehbarkeit dabei völlig unbeachtet blieb. Wurde man endlich in den Staaten der Erde die Gesetze entrümpeln und menschliche Vernunft einkehren lassen, wurde man die Staatskassen heilen, weil eine der wirksamsten Verwaltungsreformen darin gelegen ist. Also auch in dieser Hinsicht sind wir weit weg von der Idee eines Körpers, welcher den Namen verdient. Das gilt auch für die Körperschaften öffentlichen Rechts. Für die einen Bevölkerung- und Berufsgruppen haben wir Interessenvereine und Körperschaften für ein und dasselbe Problem in Hülle und Fülle. Für die Werktätigen fühlen sich die Gewerkschaften, die Kammern, die Parteien zuständig. Was aber haben die Alten, die Behinderten, die Kranken, die Kinder, die Jugendlichen, all jene, die an der Bildung und an der Gesellschaft gescheitert sind? Was haben sie, frage ich mich? Entgegen der Auffassungen der seinerzeitigen Anhänger des Kirchenvaters Origenes gehören laut Thomas auch das Geschlecht und der körperliche Geschlechtsunterschied zu den körperlich Wiedererstehenden, wenn auch die diesbezüglichen vegetativen Funktionen nicht mehr stattfinden werden.

Nun das verstehe ich schon. Die Körper werden also wie Engel Gottes im Himmel sein, aber eben nicht geschlechtslos. Soll das beruhigend sein oder beglückend? Mir genügt schon die Heuchelei und Prüderie der einen Seite hier auf Erden und der ausgeschamte, militante und als „en vogue“ angepriesene Sexualbetrieb nicht Trieb, der allzu oft gegen die, noch in ihrer seelischen Entwicklung nicht gefestigt sexualdifferenzierten Kinder eingesetzt wird. Ja, diesbezüglich findet man mich unter der Anhängerschaft der Ansicht Jesu Christi, es wäre besser, man wurde solchen Typen einen Mühlstein um den Hals hangen und sie in die Tiefe des Meeres versenken, all diesen unzähligen kaltblutigen und von der Rechtsordnung verschonten Missetätern, Misshandelnden und Missbrauchenden des Körpers und damit der Seele von Kindern, was beides nachweislich zusammen gehört.

Zu welcher Erkenntnis es keiner Medizin, keiner Psychologie und auch keiner Religion bedarf. Der irdischen Gerichtsbarkeit, welcher denn sonst, waren immer schon Vermögensdelikte wichtiger, weil an ihnen das bis ins letzte Glied hinunterdelegierte Herrschaftsinteresse klebt, als solche gegen Körper und Seele der schwächsten Glieder unserer Gesellschaft, nämlich unserer Kinder. Deshalb werden die Täter von Richtern und Psychologen und allen mit Humanismus geschmückten Gutmenschen meist geschont und mit Glaceehandschuhen behandelt. Niemand denkt dabei an die Opfer und wie man mit den Opfern verfuhr. Und es soll mir ja keiner mit der Pädophilie der alten griechischen Philosophen kommen, um alles und jedes ins konservative Eck abdrangen zu können, um weiterhin alles und jedes entschuldigen und damit allfällige Unvoreingenommenheit und Unparteilichkeit von allem und jedem ungestört verhindern und gleichzeitig in Wohlgefallen auflösen zu können. Aber eben durch eine solche extreme Bipolarität und Schizotymitat der gesellschaftlichen Sexualitätsauffassung entstehen auch solche seit Jahrhunderten vorherrschenden, aber in letzter Zeit sich besonders extrem gestaltenden Formen der körperlichen und seelischen Unterdrückung junger Menschen. Aber kehren wir zurück zur heuchelnden Prüderie und zum Gefühl der Abgehobenheit des anderen Teils der Menschen, als fälschliches Gegengewicht zum Vorgenannten. Viele tun so, als seien sie anders hervorgegangen als alle anderen Menschen, gelte für sie die Wirklichkeit, aus einem körperlichen weiblichen Schoß hervorgegangen zu sein, nicht, wie für alle anderen. Zu dieser unseligen Differenzierung und damit mangelnden menschlichen Solidarität, tragen die Jungfraulichkeitsdogmen der Kirche bezüglich der Mutterschaft Mariens viel bei. Denn wenn sich einerseits die katholische Religion und Kirche schon zu der revolutionären Tat bekennt, dass Gott durch ein menschliches Wesen, eine Frau, körperlich Mensch geworden ist, dann sollten sie sich nicht versteigen und daran klammern, dass trotz der Geburt, diese Frau eine intakte Jungfrau geblieben ist. Womit sich die Religion und Kirche wieder um allen revolutionären Gedanken ihrer Lehre bringt. Ob das Hymen, also die Jungfernhaut Mariens, jetzt perforiert wurde oder nicht, kann doch nicht die Frage sein, welche in einem sogenannten „abortiven Prozess“ dem „heiligen Offizium“ der Glaubenskongregation des Vatikans als Nachfolgeinstitution der unheiligen Inquisition, die noch bis vor wenigen Jahren ihre Schreckensherrschaft entfalten konnte und die Gedichte Heinrich Heines und ihre Lektüre bei sonstiger Exkommunikation verbot, erlaubt einer katholischen Theologin vor kurzem das Lehramt zu entziehen, wie man es beim Autor Hans Küng nicht anders machte. Wie niederträchtig und armselig geht hier die Kirche vor, anstatt zu sehen, wie einmalig es ist, dass es das Judentum wie der Islam als Frevel erachten müssen, dass Gott durch den Körper einer Frau geboren und selbst Körper, selbst Mensch wurde. Aber, wie gesagt, hat das ein ganz kontraproduktives gesellschaftliches Rahmenmuster ausgelost, sich anders zu fühlen als die anderen. Als ob nicht jeder Mensch durch den Samenerguss eines erigierten männlichen Penis, der zuvor tief in die Vagina einer Frau eingedrungen war, entstanden ist. Anders findet bei niemandem oder nirgendwo eine Zeugung statt. Aus dieser körperlichen Vereinigung zweier Körper, weshalb der Mensch eben auch handelt wie ein Saugetier, aber dennoch anders ist. Weil er über den Sexualtrieb hinaus durch besondere Hinwendung einen Menschen so annehmen kann, wie er körperlich und seelisch beschaffen ist. Der sich um ein ernsthaftes Verständnis seines Wesens bemühen kann und dazu auch im Stande ist. Der seelische und körperliche Gebrechen durch Verständnis kompensieren, mindern oder zumindest mildern kann. Dessen körperliche Liebe so weit gehen kann, sich bei der Möglichkeit oder dem Wunsch nach Entstehung neuen Lebens der Freude und Wurde bewusst zu sein, zu einem Teil zum Erzieher des Menschengeschlechts geworden zu sein, auch zum Hüter über den Aggressionstrieb als lebensnotwendiges dynamisches Agens, so wie über den Geschlechts- und Selbsterhaltungstrieb als dominante Sicherung des Lebens, in der Weise, dass jeder auf seinem Platz und darüber hinaus dafür sorgt und Verantwortung tragt, dass, aus welcher Rücksichtnahme auch immer. Menschen, die körperliche und seelische Zerstörung anderer nicht zulassen dürfen, weder bei sich noch bei anderen. Dass man mit Entschiedenheit für Menschenwurde eintritt und nicht für die Arterhaltung der Systeme. Die körperliche geschlechtsbezogene Mitwirkung, die einzig tatsachlich mit der gesamten Menschheit verbundene, ja verankerte Kunst, wenn auch der dabei meist selbstbezogenen Befriedigung, wenn sie auch wechselseitig vollzogen scheint, bleibt oft die einzige Gemeinsamkeit, die einzige Andeutung von echter Zweisamkeit. Weil es keiner Verlängerung der Triebentladung und der körperlichen Neugier bedarf, um Spaß im Leben zu haben. Freude zu geben, hieße ja, sie zu haben. Sich auf jene Muhe und Gemeinschaft einzulassen, die anhaltende Freude ermöglicht. Weil sie dann nie etwas Einsames ist. Weil sie dann immer für das Lebendige und nicht für das Institutionelle, Kommerzielle, Materielle eintritt, das sonst relativ bedeutungslos in der Welt existiert und womit man alle Hoffnungen auf ein bisschen Zukunft und ein bisschen weiterführende körperliche Lust und Freude eben niemals stillen kann. Niemals dürfen wir diese Körperverachtung vergessen, mit welcher menschliche Abwegigkeit das Menschengeschlecht stigmatisiert hat. Wie sie ihren eigenen Lebenswillen mordend unter Beweis stellten. Merken sie, liebe Leser, wie Worte glühen können, wenn die Materie einschneidend wird? Beim Verdrängen so bemüht wie beim körperlichen und seelischen Foltern. Manche, die noch irgendwelche Skrupel aufbringen konnten, gingen ins Kino, um die täglichen Erlebnisse zu übertünchen, die Bilder all der von ihnen verübten körperlichen Gräueltaten. Jede ihrer niederträchtigen Taten erforderte ein neues Handwerk. Details von Schmerzreaktionen berechnet auf körperliche Leidzufügung und seelisches ertragen können, nicht ohne dabei den größtmöglichen Lustgewinn der Peiniger miteinkalkuliert zu haben. Irreparable Leiden, zu dauerndem Leid verlängert, Tat für Tat, Tag für Tag. Kinder spielzeugklein, ihr Wuchs brauchte nicht mehr gedeihen.  Ihre körperliche Lebensuhr sollte stehenbleiben für die Ewigkeit. Die Seele hatte ihr Schluchzen verloren. Mit Zurufen, Pfeifen und Grölen holten sie sich ihre Opfer, schatzten ihre Körper ab. Auf die Erzwingung von körperlichem Ausgeliefertsein und seelischer Unfreiheit verstanden sie sich ja meisterlich. Immer wieder solch eingeschüchterter Auswahl solch unzerstörbar Verstörtem zu begegnen, stachelte sie noch mehr an. Dieser auch in Gaskammern nicht zerstörbaren, bis auf die Knochen abgemagerten, ausgemergelten, jugendlichen Zartheit zu begegnen, im Gegensatz zur beworbenen Geilheit langer nylonuberzogener Beine, von unten fotografiert in das angedeutete Dunkel schwungvoller Rocke, zwar diffus aber dennoch körperliche Erregung verheißend, jetzt aber nur diese durch Angst und unerträgliches Leid aufgesperrten greisenhaften Augen. Dem allen aber, trotz bestialisch erworbener Befriedigung, nicht und niemals Herr werden zu können. Weil hier offensichtlich etwas war, was über sie hinausführte, hinausging, wenn auch ihre Körper restlos zerstört wurden. Auch vor oder nach der Verwertung ihrer Zahnfüllungen aus Gold, ihrer Brillen und der mit dem Körper verbundenen Habseligkeiten, der Verarbeitung ihrer Körperhaut zu Lampenschirmen, ihrer Knochen zu Seife, als ihre Körper oder was noch davon übrig war schließlich die Heizofen hinabglitten, die zur industriell betriebenen Körpervernichtung installiert worden waren. Bis süßlicher Geruch bis in die Wohngebiete vordrang und alle davon wussten und niemand dagegen etwas einzuwenden hatte.

Über bleiben Relikte verzweifelter Hoffnung, ausgeschüttet über den Berg selektiven Auseinanderklaubens. Niemand behauptete mehr, er meine es gut. Niemand musste für sich einen Decknamen erfinden. Ruhig hatten sie so ins Gas zu gehen. Blindlings und barhäuptig sich der Erstickung anzuvertrauen. Niemand Verlässlicher, ob Mensch oder Gott, wurde ihren Körper oder ihre Seele aus diesem bösen Traum reisen, denn es war und blieb alles bittere Wirklichkeit. Die Verlängerung allen Kinderspiels war niemals Ernst, sondern immer nur die Wirklichkeit. Da und dort ein Gesicht, aus welchem erloschene Augen starrten, aufgetürmt in Bergen übereinandergeschichteter Körper, in denen hie und da, einer wie mit dem anderen Körper verbunden, ineinander verkeilt war, als hatte einer den Arm des anderen ergriffen. Oder als ob sich Gesichter einander zukehren wurden, als verharrten sie darin, nicht zu erraten, wozu die großräumigen Duschen wirklich dienten, oder es doch verzweifelt aufbaumend doch zu erahnen. Mit aufgesperrten Augen, ein letztes Mal, millionenfach die unliebsame Menschheit, ausgemergelt aber bis zuletzt noch aufrecht stehend körperlich zu vertreten, bis letzten Endes Bulldozer, die rollenden Körperberge vor sich herschoben, aus allen Richtungen auftürmten. Von Haut zerspannt, von Knochen ausgespreizt, nässend über den Gegenstoß hinaus.

Wie die wenig überlebenden Kinder die Armel ihrer gestreiften Lagerhemdchen aufkrempelten und unendlich traurig und erbost fragend ihre tätowierte Insassennummer auf dem Unterarm ihres bis auf die Knochen abgemagerten Kindermörders vorstreckten. Gleichgültigkeit über allem auch über der Asche der Opfer. Es ist auch hier und jetzt dunkel geworden. Die Katze liegt nicht mehr auf der Balkonbank. Die Bank ist leer. Aus dem Fernseher kommen Bilder und atomare Drohungen des nordkoreanischen Baby-Face-Diktators. Tausende uniformiert bewaffnete Körper im Stechschritt werden gezeigt. Die Welt ist unbelehrbar. Die Zeit und ihre Menschen sind unbelehrbar. Hauptsache es gibt die Ganzkörperphysik, die Kernphysik, was für ein Fortschritt.

Die Frauen rufen, mein Körper gehört mir. Wem gehört dann meiner? Das Wort teilt sich, erwirbt andere Bedeutungen und schmilzt zu neuen Worten zusammen. Die Katze fehlt mir, ich wollte ihr über das Fell streichen, warum habe ich geschrieben und es nicht rechtzeitig getan?

Wolfgang Mayer-König
Geb.1946 in Wien. Lebt als Universitätsprofessor und Schriftsteller in Niederosterreich und in Graz. Gründer des Universitätsliteraturforums „Literarische Situation“. Herausgeber der Literaturzeitschrift „LOG“. Autor von 36 Büchern. Verfasser des Zivildienst-Bundesgesetzentwurfs. Koordinator der intern. Wiederaufbauhilfe für Vietnam sowie der Verhandlungen zur Freilassung der Geisel nach dem OPEC-Terrorüberfall. War ständiger Delegierter bei den Vereinten Nationen. Internationaler Friedenspreis, Theodor-Körner-Literaturpreis, Kulturmedaille des Landes Oberösterreich, Österreichisches Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst I. Klasse, 2012. Ehrenobmann der Literarischen Gesellschaft St. Pölten.

Erschienen im etcetera Nr 52/ Körper/ Mai 2013 mehr...

52/Körper/Essay: Körper die wir sind. Caspar Jenny

Caspar Jenny
Körper die wir sind

Eine Kultur lässt sich gut daran erkennen, wie sich Körper begegnen. Die Beobachtung von Körper bringt den Vorteil, dass wir diese direkt und sozusagen ungeschminkt wahrnehmen. Wie viel mehr kann ein Gesichtsausdruck oder die Körperhaltung darüber aussagen, was jemand von einem halt, wahrend das leere Gerede über einen herschwappt.
Die Direktheit der körperlichen Wahrnehmung vermag uns also weniger über die Absichten des Gegenübers hinwegtäuschen, als Worte es tun. Die Verlogenheit einer körperlichen Geste ist viel augenscheinlicher als jede Höflichkeitsfloskel.
Der Ausdruck „Körpersprache“ weist denn auf diese Beredtheit körperlicher Ausdrucksfähigkeit hin.
Körper können uns einen Subtext von dem vermitteln, was eigentlich gemeint ist. Die Ausdruckstarke körperlicher Agitation zeigt sich in vielen Beispielen. Was ist verletzlicher als eine abgewiesene ausgestreckte Hand, jemanden keines Blickes zu würdigen, auf dem Absatz kehrt zu machen oder mit dem Zeigefinger auf jemanden zu zeigen.

Was bezeugt mehr Zuneigung als jemandem über den Kopf zu streicheln, zu umarmen, fest die Hand zu drucken oder auf die Stirn zu küssen. Wir leben und sterben mit diesen Signalen körperlicher Zuneigung und Abweisung, sie sind unser tägliches Brot in Bezug auf unser Lebensgefühl. Im Film z.B. können Gesten ein Maximum an Ausdruck gewinnen.

Im gemeinsamen Sterbeprozess eines Ehepaars zieht die Frau ihre Hand aus der Umschliessung der männlichen Hand: Wie konnte man Unversöhnlichkeit und Abweisung besser darstellen. Als in einem Film des japanischen Regisseurs Akira Kurosawa die Frau eines Reisenden von einem Räuber erotisch überwältigt wird, zeigt sich dieser Hohepunkt vollstandiger Hingabe, als die Frau das Messer aus ihrer Hand fallen lasst, das sich in den Erdboden bohrt. Eine Szene die einen Archetypus filmischer Umsetzung geleistet hat, wenn es darum geht, diese Emotion körperlich darzustellen. Körperbilder sind demnach im Repertoire unserer Wahrnehmung so fest verankert wie die Sprache.

Die alltägliche Erfahrung von körperlichem Verhalten prägt unser Verständnis davon, wie sich Körper begegnen. Die Regeln körperlichen Verhaltens aber sind zufällig und gehorchen keineswegs einem universalen Prinzip, sondern vielmehr einem kulturell ausgerichteten Bedürfnis. Wer hat nicht schon Männer aus Italien oder aus Ex-Jugoslawien gesehen, die sich zur Begrüssung gegenseitig auf die Wange küssen. Ein Körperverhalten, das unter Schweizern, Deutschen und Osterreichern wohl kaum praktiziert wird. Es ist offenkundig, dass Menschen aus dem mediterranen Raum in ihrer Körpersprache sehr viel direkter und sinnlicher sind. In einer Distanzkultur, wie der unseren, ist der Körper sehr viel starker ein Objekt der Scham, und körperliche Direktheit eher unerwünscht. Mit dem ausgelebten oder reduzierten Körperverhalten tritt gleichzeitig eine Geisteshaltung zu Tage. So wie sich Körper begegnen, so denken Menschen. Körper die wir sind verraten unseren Geist bzw. Ungeist, und sind keineswegs vom Intellekt zu trennen. Der domestizierte Körper einerseits und der dionysische Körper andererseits sind jene Pole kulturellen Behagens oder Unbehagens, die wir täglich erfahren. Eine behagliche Körpererfahrung war nun folgendes Erlebnis.

Auf einer Indienreise machte ich an der Ostküste die Bekanntschaft mit einem Mädchen aus einem Fischerdorf bei Puri. Es folgte ihrerseits eine Einladung in ihre Hütte zu einem Fischessen mit der ganzen Familie. Nachdem wir gegessen hatten, gingen wir alle an den Strand. Wahrend wir so gingen, fühlte ich wie der Vater des Mädchens meine Hand nahm und in die seine schloss. So gingen wir Hand in Hand dem Sonnenuntergang entgegen, ohne dass wir ein Wort miteinander gesprochen hatten. Ich konnte kein Hindi  und der Vater des Mädchens kein Englisch. Es war zugleich erschütternd und schon mit einem mir vollständig unbekannten Mann so zu gehen. Mein gesamtes kulturelles Verständnis wurde über den Haufen geworfen, weil mir dieses Körperverhalten völlig fremd war. Es ist aber in Indien durchaus üblich, dass Männer Hand in Hand gehen, ohne dass dies eine sexuelle Konnotation nach sich ziehen wurde. Es ist so normal, wie sonst etwas für normal empfunden wird. In dieser körperlichen Begegnung lag etwas Versöhnliches, wie ich es nie mehr erlebt habe. Man konnte beinahe sagen, so begegnen sich Menschen, die sich der Gattung Mensch zugehörig fühlen. Die Überbrückung des Fremden war dem Vater aus dem Fischdorf mit einer einzigen körperlichen Geste gegluckt, und von einer Ausdrucksstarke, wie es keine Grussformel vermag. Es war selbstverständlich, so wie das Mädchen in der Hütte mir den Schweiss mit der blossen Hand von der Stirn rieb, so selbstverständlich, wie dass man mit der rechten Hand isst und mit der linken Hand den Hintern säubert. Eine Milliarde Inder halt dies für selbstverständlich, so dass es ein starkes Argument wird, das eigene Körperverhalten zu überdenken und vielleicht für nicht normal zu halten. Der Ekel vor dem Körper des anderen wird in einem Land wie Indien obsolet. Die Missachtung, die man einem anderen Körper entgegenbringt, kann sodann sehr verletzend sein. Vergewaltigte, gefolterte und kriegsgeschädigte Körpern bilden den Zenit dessen, was an Grausamkeit gegenuber Körpern möglich ist. Die Summe der Schmerzen, die Körper erleiden müssen, ist unvorstellbar, wenn man weiter an all die Krankheiten denkt. Ins öffentliche Bewusstsein haben sich vor allem die ausgemergelten Körper von an Aids erkrankten Menschen eingebrannt. Dass Körper den Prozess der Agonie schonungslos protokollieren können, machen ihn zu einem unheimlichen Ort, von dem man lieber nicht wissen will, was er alles auszubrüten vermag. Dem Körper als ein Ort des Todes, der Krankheit, des Schmerzens und der Demütigung steht der gesunde, lebendige, lustvolle, sexuelle und junge Körper gegenuber. Die Idealvorstellung eines schonen Körpers ist im Abendland seit der griechischen Antike ein Bedürfnis nach vollendeten Proportionen. Wie kann man im Vergleich dazu die Vorstellung von körperlicher Schönheit verstehen, zu deren Zweck die Füsse bei chinesischen Mädchen abgebunden wurden, oder die Lippen einen Teller tragen oder der Hals von Kind an mit Ringen aufgestockt wird. Körperliche Schönheit scheint demnach sehr relativ zu sein und lasst z.B. Frauen aus der Modelbranche bis an den Rand eines Skeletts hungern. Ein unbehagliches Erlebnis, das mit dem Körperverständnis einer Kultur sehr viel zu tun hat, soll ein Licht darauf werfen, wie Körper wahrgenommen bzw. ignoriert werden. Es war der letzte Tag im letzten Jahr, als ich mit meinem Freund S. eine Bar in meiner Strasse besuchte. Es handelte sich um eine thailändische Bar, die im hellen Licht in allen Farben schillerte und wie ein Magnet wirkte. Mein Freund S., den ich unlängst kennengelernt hatte, ist ein Opfer des Contergan-Skandals, einem Arzneimittelskandal in der BRD, der in den Jahren 1961 und 1962 aufgedeckt wurde und in der Folge eine Reihe von gesetzlichen Massnahmen nach sich zog. Das Beruhigungsmedikament wurde gegen Schwangerschaftsübelkeit eingesetzt, bis man herausfand, dass der Wirkstoff Thalidomid zu schweren Fehbildungen und Fehlen von Gliedmassen und Organen bei Neugeborenen fuhrt. Meinem Freund sind infolge dieses ärztlich verschriebenen Medikaments keine Arme gewachsen. Man muss sich also vorstellen können, dass alles, was wir mit den Händen erledigen, mein Freund mit den Füssen erledigen muss. Wir setzten uns an die Theke und bestellten eine Cola. Die Theke war ziemlich hoch, so dass S. seine Beine über die Theke heben musste, um die Flüssigkeit aus der Flasche in das Glas giessen zu können. Als mein Freund die Cola-Flasche wieder abstellte, war ich nicht schlecht erstaunt darüber, wie sicher und gekonnt er alle diese Bewegungen ausfuhren konnte. Wer mit richtigen Augen sieht, musste an ein besonderes Kunststuck denken, wenn es nicht die schiere Notsituation ist, die meinen Freund dazu veranlasst, statt der Hände seine Füsse zu gebrauchen. Wahrend wir so sprachen und bereits bei der zweiten Runde angelangt waren, sah ich, wie mir der Besitzer des Restaurants mit einem Wink verständlich machte, zu ihm nach hinten zu kommen. Es ginge nicht an, so sagte dieser, dass ich solche Leute in sein Restaurant bringe, die ihre Füsse auf der Theke haben, das wurde den Leuten vielleicht den Appetit verderben, die sich im gleichen Raum aufhalten und so oder so, wäre es für das Geschäft sicher nicht förderlich. In meiner situativen Feigheit versicherte ich ihm, sobald als möglich sein Lokal zu verlassen. Das Unglaubliche war geschehen. S. war als ein Mensch mit einem extremen Handicap in dem Lokal nicht erwünscht, weil er in den Augen des Besitzers die Anstandsregeln nicht einhalten konnte. Als wir wieder draussen auf der Strasse waren, fragte mich S., ob es vielleicht etwas mit ihm zu tun gehabt haben konnte, dass der Besitzer mich zu sich gerufen hat. Das dies so war, konnte ich S. nicht abstreiten und das Gefühl gedemütigt worden zu sein, war für S. unvermeidlich geworden, und es war klar, dass ich dieses Lokal nie mehr betreten wurde. Dieses Erlebnis scheint mir sprechend für den geistigen Zustand einer Gesellschaft zu sein, die ihre defizitäre Menschlichkeit täglich unter Beweis stellt. Das Fatale an diesem Ereignis ist seine logische Konsequenz. S. ist es letztlich nicht mehr gestattet in dieses Lokal zu gehen, weil er an Stelle der Hände seine Füsse gebrauchen muss. Sind Füsse schmutzig? S. versicherte mir, dass in unserer Kultur Füsse oft für schmutzig angesehen werden. Interessanterweise wusste er mir zu berichten, dass er bei asiatischen Menschen oft negative Erlebnisse gemacht hatte, und dass Menschen aus dem afrikanischen Kulturraum überhaupt kein Problem mit seiner Beeinträchtigung hatten. Ein noch toleranteres Körperverständnis erlebte S. in Jamaica, als Lehrer S. baten in die Schule zu kommen, um den Kindern zu zeigen, wie das ist, wenn man alles mit den Füssen machen muss. Vor Hunderten von Schülern bewies S. seine Fussfertigkeit. Das kulturelle Verständnis scheint derart grundsätzlich verschieden, dass in einer Kultur mein Freund ausgestossen und in der anderen aufgehoben wurde.

Der Umgang mit Körpern ist demnach ein radikal anderer, in welcher Kultur wir uns jeweils bewegen. Dort schmiegen sich die Kleinkinder an den Rucken der Mutter, hier werden sie in einem Wagen herumkutschiert. Wenn wir davon ausgehen, dass körperlicher Ausdruck immer auch zugleich geistiger Ausdruck ist, musste ein verkümmerter Geist auch körperlich verkümmert erscheinen. Leider zeigt die Erfahrung, dass intellektueller Geiz tatsachlich mit körperlichem Geiz einhergeht. In protestantischen Gefilden ist die Körperfeindlichkeit bzw. Lustlosigkeit tatsachlich bis in den eigenen Körper spürbar und ein Leiden sonderbarer Art. Der gelahmte Körper vermag sich nicht mehr richtig zu freuen, sondern sieht sich nur noch als Ort der Tauglichkeit und Funktionstüchtigkeit. Die hier zelebrierte Befangenheitskultur erzeugt eine Verkrampfung solcher Art, dass die Körper Sinnlichkeit vermeiden und Distanz und Abgeschlossenheit gegenuber anderen Körpern signalisieren.
Ein toter Geist wohnt in toten Körpern. Offenbar ist es sogar im Gegenteil so, dass den funktionierenden Körpern ein verkümmerter Geist innewohnen kann. Schamlos sind nicht die Körper die wir sind, sondern wie wir ihn vorstellen.

Schmutzig sind nicht die Füsse auf dem Tisch, sondern eine Moralvorstellung, die das Dinghafte über den Menschen stellt und damit den Körper verdinglicht und ihn als entseelte Hülle behandelt. Das Unbehagen in der Kultur ist somit ein körperliches. Das zivilisatorische Betragen erzwingt eine Rationalität des Körperverhaltens, die vom Denken destruktiv kompensiert wird. Der frustrierte Körper ist soweit entsinnlicht und sexuell tabuisiert, dass er andere Körper als Bedrohung empfindet. Die vollständige Separierung der Körperbetätigung zeigt im Grunde genommen ein perverses Körperverständnis: In Fitnesszentren halten sich die Körper fit, in der grössten Hitze rennen Jogger um ihre Gesundheit, es ergibt sich ein Bild anonymer und einsamer Körper, denen keine wirkliche Lebensfreude mehr entrinnt.

Das unerotische Klima arbeitsamer und korrekter Körper aber findet sein Äquivalent in kleinlichem Gedankengut. Das protestantische Denken verstummelt alles, was sowohl körperlich als auch geistig seine Grenzen übersteigen will. Das Dionysisch-Rauschhafte bleibt diesen Körpern fremd, weil es nicht sein darf, dass ausgelassene Körperlichkeit das Klima geregelter Körper durcheinanderbringt. So wenig rauschhaft wie die Körper am Morgen in der Trambahn in sich gekehrt ruhen, so wenig rauschhaft wird das tägliche Leben. Füsse auf einem Tisch sind in diesen Augen anstössig, in den Augen jener aber, die körperliche Ekstase auch im musikalischen Ausdruck des Reggae zelebrieren, ist die stark körperliche Beeinträchtigung von S. Anlass, Menschen darüber aufzuklaren, was alles möglich ist, und was man aus dieser Situation machen kann. So lassen sich Bedeutungssinn und Wahrnehmungssinn eigentlich nicht voneinander trennen, vielmehr fallen Körpersinn und Inhaltssinn zusammen, wo wir von wahrhafter Kultur sprechen wollen. Unkultiviert ist ein Geist, der im Körper etwas dem Geist Untergeordnetes versteht. Unsinnliche Körper beherbergen einen unsinnigen Geist, bleiben auf der Strecke dorthin, worum es geht: die Angst vor dem Körper zu überwinden und den anderen in die Hand zu nehmen, wenn es uns nur gelingt.

Caspar Jenny
Geb. 1971 in Basel. Arbeiten als Kunstmaler, Postangestellter, Strassenmusiker und in einer Verlagsauslieferung. Reisen nach Indien und Sudostasien. Studium der Philosophie, Germanistik und Ethnologie. Veröffentlichung von Gedichten in mehreren Literaturzeitschriften.

Erschienen im etcetera Nr 52/ Körper/ Mai 2013 mehr...