59/Gier/Lyrik: Jan-Eike Hornauer

Jan-Eike Hornauer

Ellbogenschorfgericht
für J., L., F., L. und all die anderen Betroffenen

Die Liebe ist in Dich gefahren.
Jetzt stehst Du stetig neben Dir
– und willst zudem das noch bewahren.
Die Liebe weckt in Dir die Gier.
Die Gier nach mehr von diesem Glück,
an jedem Tag, zu jeder Stunde.
Nur dies hält Dich ein Stück zurück:
pro Ellenbogen eine Wunde.
Doch Liebe ohne Doggystyle
– für ihn, da machst Du sogar das!
Denn wahre Liebe ist echt geil,
mit ihr hat jede Stellung was.
Und selbst das Streicheln, Kuscheln, Reden,
so insgesamt Intimität:
Was Du sonst hasst, ist nun Dein Eden,
Du willst es jetzt, so oft’s nur geht.
Hach, Süße, Du bist echt verschossen!
Der Schorf hat hier ’nen tief’ren Sinn.
Und diese Zeit gehört genossen.
Denn ewig ist sie niemals drin.
Drum bau’ mit ihm nur Deine Welt;
die andre siehst Du eh bald wieder.
Auf dass, gleich wie die Münze fällt,
Dir mehr bleibt als bloß neues Mieder.

Der Markt

„Die Gier ist eine große Kraft,
die Böses will und Gutes schafft.”
Das ruft, ganz neoliberal,
der Marktmensch laut mit Restmoral.
Er ist sich sicher: »Will man Gutes,
vertraue man dem Markt, er tut es.
Als Gottinstanz, der Menschen Meister,
da wirkt er groß!«
Doch Scheibenkleister:
Dem Markt, dem gleißend-gold’nen Kalb,
geht’s nur um Gier und Mehr, weshalb
Moral ihn niemals int’ressiert
und er auch nicht zum Guten führt.
(Denn dieses findet sich nicht blind,
das weiß doch schon ein jedes Kind.
Jedoch, wer BWL studiert,
wird schnell vom Glauben infiziert.)
Wer ihn nicht stets im Auge hat,
ihn eindämmt, der setzt sich schachmatt.
Dann ist’s System der Endzweck hier,
genährt durch ewig größ’re Gier.
Bedauern muss man drum den steten
Globalzuwachs der Marktpropheten.
Der Mensch treibt sich in den Bankrott
– und strahlt, denn er hat einen Gott.

Jan-Eike Hornauer
Geb. 1979 in Lübeck, freier Lektor, Texter, Autor, und Herausgeber. Studium der Germanistik und Soziologie in Würzburg. Wohnt in
München. Erster eigener Band: „Schallende Verse” Herausgabe von Prosa-Anthologien, zuletzt „Grotesk!” und Lyrik-Sammlungen, hier
zuletzt „Der schmunzelnde Poet”.
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62/Angst, Furcht und Schrecken/Lyrik: Elfriede Jelinek. Angst 2. Verstörung & Angst 3. Sie haben gut reden!

Elfriede Jelinek
Angst 2. Verstörung.

In Angst leben, heißt, in sich als im Glashaus sitzen und von innen her gegen sich mit Steinen schmeißen. Nein, eher: sich von innen her mit etwas anspritzen, das einen dann wie Säure zerfrißt. Und man kann sich bei niemandem beschweren, denn man hat sich ja selber angeschüttet, es kommt von einem selbst, das Gift. Hinauszukönnen kann unmöglich die einzige Sehnsucht sein, die einem bleibt, was ist denn schon dort draußen, das durch einen Griff nach dem Fernseher nicht herbeigerufen werden könnte? Wozu noch diese Sehnsucht, die von der Angst hinter einer Stirn verborgengehalten wird? Die Vorstellung, man sei da, und das Außen etwas Schönes, das man sich nach Belieben anschauen könne, gefahrlos, weil man ja dabei in sich ruhen bleibe, stimmt für den Ängstlichen nicht. Er ruht zwar, aber das ist auch schon alles. Er weiß, im Grab könnte er besser und vor allem bequemer ruhen als in sich, und trotzdem kommt er nicht heraus, nicht einmal um zu sterben, was er ja auch fürchtet. Er sieht Tode dort, wo andre Charterflüge und Strände und Schipisten sehen. Er kann nicht aus sich herausschauen, denn draußen lauert die Gefahr, der Tod, obwohl der Tod sicher ein bessergeschnittenes Kleid wäre als er selber, der Ängstliche, es für sich ist, eins, das ihm paßt, denn der Tod paßt jedem, steht aber nicht jedem, er ist aber dennoch jedesmal anders, ein typisches Kennzeichen der Mode, immer dasselbe, aber jedesmal anders, damit es wie neu und einmalig erscheint. Angst ist nicht in Mode, denn Angst ist Stillstand im Stillstand, sie nimmt sich ja nicht einmal die Mühe, etwas anderes, einmal etwas andres, wenigstens vorzustellen, da sie nie etwas andres sein kann (und auch nicht anders aussehen kann) als sie selbst, die Angst, die das falsche Maß genommen hat, das falsche Maß selber ist, und daher paßt nie irgendwas, das man an sich anlegen möchte, nicht einmal die Hand, die einem den Gnadenstoß geben soll. Man braucht auch nichts Neues, man geht ja nie aus sich heraus, und für sich selbst lohnt der Aufwand nicht. In sich, in seinem Körperkleid, das noch lebt, hält der Kranke es irgendwann dann auch nicht mehr aus. Die Angst hebt die Trennung zwischen Innen und Außen auf, wozu überhaupt noch Kleidung? Es heißt doch: die nackte Angst! Man liegt ja sowieso bloß da, und überall, wohin man schaut, man selber, und all die Kleider umsonst. Die Angst fügt dem Innen, das ja auch gleichzeitig das Außen ist, Qualen zu, die ans Vorhandensein der eigenen Person des Angstvollen gehen, wie ans Eingemachte, doch sogar das Eingemachte ist immer irgendwie verschlossen. Da ist immer ein Deckel drauf. Man selbst, als Kranker, empfindet sich nie als verschlossen. Man ist unbeweglich, aber jeder kann in einen hineingreifen und sich einen Löffel voll nehmen. Diese Unordnung der inneren Organe, für den Arzt mag sie ja in Ordnung gehen, weil er sich dort auskennt, aber für den, der immer nur in sich hineinschauen muß, weil er nicht aus sich heraus hinausschauen kann, herrscht überall diese ekelhafte Unordnung. Er kann nichts auf die Reihe bringen, der Angstkranke. Die Wirbel mögen schön in einer Reihe als Rückgrat aufgefädelt sein, in hübscher Beweglichkeit, aber der Wirbel im Änstlichen tobt herum, er hat ja kein Rückgrat, und sein Leben hat auch keins. Das, was er anschauen kann, wenn er sich nicht mehr aus dem Haus bewegen kann, fällt nach und nach mit dem zusammen, was er sich vorstellen kann, und das ist schrecklich, weil das, was er sich anschauen kann, ja immer weniger wird und daher seine Vorstellungskraft immer mehr abnimmt, oder nein, nimmt sie zu? Weil der Kranke nur noch auf sie angewiesen ist, die angeblich alles kann? Nein, sie nimmt leider ab, weil sie sich durch nichts mehr speisen kann, was dem Hauptdarsteller seiner Angst (sie hat ja auch etwas Theatralisches, die Angst! Theater ist ja, aus nichts etwas zu machen, und beim Essen geht das irgendwann nicht mehr. Brechts großer Irrtum: daß es aufs Fressen ankommt... ich sage, es kommt drauf an, daß einem vor Müdigkeit - denn Angst ist sehr anstrengend - die Augen aufgehen, aber nie etwas zu sehen kriegen), was also dem von sich selbst zernichteten Hauptdarsteller, dem, wie gesagt, einfach gar nichts mehr paßt, noch ein Erscheinen abnötigen würde. Die Umgebung hört andauernd, was dem Kranken nicht mehr paßt, dies nicht und das nicht, und sie staunt, denn: woher weiß der Patient das? Er sieht ja nie etwas. Aber er möchte gern. Er möchte gern, aber er kann nicht. Das Leben soll doch wenigstens einmal etwas Neues bringen, damit man sich das Alte im Sinn des Neuen vorstellen kann! Aber das Alte zerbröckelt nach und nach, weil nichts Neues nachkommen kann. Es könnte vielleicht, aber es kann nicht. Ein Stillstand, der nie Heimkehr wird, weil man ja endlos lang nicht draußen war, um einmal zurückzukommen. Der Kranke kann nicht auf sich zurückkommen und zu sich auch nicht. Er war ja nie weg. Das Außen ist aber natürlich noch viel schrecklicher. Man kann aber nicht einmal den einen Schrecken des Bekannten gegen den unbekannten austauschen; dieser Austausch, eine natürliche Sache, wenn auch nicht die natürlichste der Welt, funktioniert nicht mehr. Der Ängstliche muß jeden Anblick, der sich ihm bietet (einen neuen Anblick sich holen, das kann er nicht, er muß nehmen, was sich ihm bietet), hinnehmen wie ein ganzes Stück Schicksal, und jedes millimetergroße Schicksal ist für ihn das ganze, denn er lebt immer in dem schrecklichen einen Augenblick gefangen, da es ihn nicht gibt (und das ist noch tröstlich, denn gäbe es ihn, er würde Entsetzliches durchmachen müssen). Indem er Anblicke hinnimmt, die keine mehr sind, weil sie keine Ausblicke mehr sein können, sondern nur noch Innenblicke, nimmt er alles hin, der Angstkranke, er gibt sich selbst ständig sich selbst zurück. Man möchte sich selbst anschreien: danke, ich hab mich schon! Nicht noch mehr von mir! Mehr will ich gar nicht! Aber er übergibt sich weiter nur sich selbst in diesem Hinnehmen, er hat nichts zu geben als sich selbst. Und keinen, dem er sich schenken könnte, als sich selbst. Das ist nicht Vergeblichkeit in dem Sinn, daß der Kranke ja nicht mehr bekommen müßte, was er schon hat, und gern mal zur Abwechslung etwas andres bekäme, sondern es ist viel kreatürlicher: Der Kranke kann nicht mehr der Welt entspringen, im wahrsten Sinn des Wortes, wie ein Gewässer, das irgendwo anfängt, als nicht Greifbares aus dem Nichts des Bodens, plötzlich sieht man es glitzern, das Wasser, aber er kann auch nicht entspringen wie ein Tier seinem Käfig, denn er ist an seine kleine, sehr eingeschränkte Welt buchstäblich gefesselt. Er kann sich nichts mehr anschauen, und er kann auch nichts mehr darstellen, weil er nichts mehr hat, was anschaubar wäre,weder innen noch außen. Die Kraft der Darstellung, der Einbildung, der Imagination ist an die Kraft gekoppelt, sich zu geben, weil man etwas von sich geben kann, etwas wie eine Körperflüssigkeit. Aber auch die Einbildungskraft, mit der man einem andren etwas veranschaulichen könnte, das nicht man selbst ist, na, vielleicht doch man selbst, aber durch einen Etikettenschwindel getarnt als ein andrer, diese Einbildungskraft würde gespiegelt in einem Außen (oder ein Außen, gespiegelt durch einen selbst hindurch, also der Spiegel als simple Glasscheibe, nicht gespiegelt IN einem selbst) das, jedes Außen verschwindet vor der Angst, sie rinnt einem durch die Finger, man selbst rinnt durch sich hindurch, und wo man mündet, das sieht man schon nicht mehr. Indem der Kranke keine Bilder mehr herbeirufen kann, sondern nur noch sich selbst, kann er auch keine Bilder mehr erschaffen. Er hat nichts mehr, was abrufbar wäre. Hat er keinen Ausblick, hat er auch keinen Einblick mehr, dieser Kranke ohne jede Einbildung, weil beides ineinandergestürzt ist und einen unentwirrbaren Trümmerhaufen bildet, der sich nicht einmal mehr Ich nennen kann. Auch wenn man glauben mag, daß die Kraft der Imagination nicht aus dem Anschauen des Fremden herrührt, sondern umgekehrt, daß das Anschauen des Fremden nicht nötig sei, weil Anschauung und Einbildungskraft in eins zusammenfallen (was man nicht in sich hat, sieht man außen auch nicht), würde das für den Angstkranken nicht stimmen. Es stimmt nicht, und zwar in dem fundamentalen Sinn, daß es falsch ist. Es ist falsch, weil nichts richtig sein kann. Es stimmt einfach nicht. Der Kranke verschwindet ins einer Angst, der Verstand kann nichts mehr aufnehmen, das Bett ist belegt mit ihm, dem ungeduldigen Patienten, der aber zusehens geduldiger wird. Was bleibt ihm übrig? Nichts. Da liegt er, das belegte, betretene Brot. Irgendwann sieht ihm keiner mehr dabei zu. Die anderen sind es leid, daß der Kranke so leidet. Er steht still in sich, aber er kann nicht ruhen, weil er immer so aufgeregt sein muß vor lauter Angst. Nicht einmal in Ruhe anschauen kann er sich selbst, weil er so zittert, daß ihm alles verschwimmt. Dieser Kranke hat sich sich selbst eingebildet. Er ist schon um seine Ausbildung gebracht worden (weil er ja nichts andres als sich selbst mehr erfahren kann), er ist um seine Einbildung gebracht worden, denn eingebildet zu sein, dafür hat er nun wirklich keinen Grund.

Angst 3. Sie haben gut reden!

Ich fordere Ausdruckswaffen gegen meine Angst, ja, genau, wenn ich etwas zu fordern hätte, würde ich fordern, daß ich besser ausdrücken könnte, wovor ich Angst habe. Der Arzt wartet darauf, was soll er mir denn verschreiben, wenn er nicht weiß, welche Macht mich mein dreiviertel Leben lang schlecht behandelt hat. Ich weiß es doch nicht. Ich kann es nicht sagen. Den Arzt, den ich nicht habe, scheint mein Leiden zu erheitern, doch er tut so, als bliebe er ernst. Kann es sein, daß Sie jetzt denken: Tier, Pflanze oder Mineral, was andres gibts nicht, wie können die sich fürchten? Gut, aber das Tier kann es, das Tier will z. B. vorm Gewitter weg, das gestern die 800 Schweine gegrillt, nein, gegart hat, weil ihr Klima im Stall vollständig ausgefallen ist, unsres fällt auch bald, das Klima wird außer sich geraten wie ein Zerstreuter, der seine Teile zur feierlichen Bankrotterklärung und deren Aufklärung nicht mehr finden kann (er ist Fußballfunktionär), also wenn das kein Grund für Angst ist! Ich darf darauf hinweisen, daß es nicht das Klima ist, das sich fürchtet. Ich weiß auch nicht, wieso grade ich mich so gut fürchten kann, wenn auch nicht vorm Klima. Das Klima ist so ziemlich das einzige, wovor ich keine Angst habe. Im Klima kenn ich mich zwar nicht aus, im Klimakterium: schon besser!, doch ich fürchte mich normalerweise auch vor Sachen, mit denen ich mich nicht auskenne, denn die Angst ist meine Welt, aber hallo, was sagt sie mir da, was schüttet sie mir auf die Waage meines Empfindens, die gleich verrückt spielen wird und jetzt schon schwankt und schwankt? Ich habe kaum Zeit, es mir in meinem Schicksalswagerl hier gemütlich zu machen, weil ich vor Angst leider dauernd wegrennen möchte, vielleicht gar schon weg bin, keine Ahnung, ich bin auch schon gar, wie die armen Schweine in Nordrein–Westfahlen, nein, Nordrhein– Westfalen, nein, es war eh in Sachsen – Anhalt, wo sie halt jetzt fahl herumliegen müssen unter keinen Wolken, denn die hat das Gewitter längst wieder weggeweht. Doch die Schweinekörper bleiben uns. Ich möchte auch wegrennen, weil ich schon längst vor etwas anderem Angst habe, es fällt mir aber doch auf, ich kann nichts dafür: daß man Angst nicht erzwingen kann. Man hat sie oder nicht. Sie kann kommen, sie kann gehen, aber zwingen läßt sie sich nicht. Sie kommt von außen und geht nicht mehr weg. Sie läßt sich nieder, um sich über mich zu amüsieren. Was brauche ich jetzt den Arzt, der mich auch noch verspottet? Das kann ich auch ohne ihn! Verspottet werden. Da ich aber immer in Angst bin und mich auch nicht ins Wirtshaus hineintraue, da ich überhaupt keinem traue, kann ich nicht wissen, wie die nette, biergläsertragende, erzherzogjohannjodelnde Angst von außen aussieht, denn dort bin ich ja nie, ich trau mich nicht hin, ich weiß nicht, ich renne und renne dauernd weg, aber dort, egal wo ich ankomme, bin ich dann nie; wie soll ich es sagen, ich weiß andrerseits auch nicht, wie sie von innen ausschaut, die Angst, denn innen, in ihr, bin ja immer ich selbst, und außer mir sehe ich dort niemanden, na ja, außen bin ich selbstverständlich auch, nicht angekommen, aber trotzdem da, wie ich schon sagte: Ich dulde niemand in meiner Nähe, weil ich mich doch gleich vor ihm fürchten würde, aber was außerhalb von mir ist, das wage ich nicht anzuschauen, es kann also ruhig jemand in meine Nähe kommen, ich würde ihn nicht sehen wollen und daher auch nicht sehen. Das ist sehr häßlich gesagt, doch der Gegenstand ist ja auch nicht schön. Also dort draußen kommt irgendwann garantiert der mit dem blutenden Herzen, auf das er auch noch eigens zeigt, als würde man es nicht als erstes sehen, als Mittelpunkt unserer Anerkennung, daß er Gott ist, und diese Dornenkrone dazu, also ich würde sowas nicht tragen, ich ahne, daß ein rehstaunendes Schauen keinen Sinn hätte, denn das Unheimliche, ob Gott oder nicht, ob die Maria oder eher nicht, ist vollkommen durchsichtig, es ist vollkommen, vielleicht weil es durchsichtig ist, ja, auch seine Kleidung, nein, die vielleicht doch nicht, sonst könnte man das Unsichtbare ja überhaupt nicht sehen, wenn es nicht seinen dazupassenden (wozu passenden?) Schleier übergestülpt hätte, äh, soll ich nicht doch einen Blick riskieren? Nein, lieber nicht, obwohl Kleidung mich immer interessiert hat, auch die Accessoires, doch dieser Kopfputz, dieser Aufbau, der oben auf dem Haar aufragt wie eine frisch montierte Mansarde, deren Fenster unverhofft zu strahlen beginnen, ganz ohne Sonnenschein – unmöglich! Waren für mich nie unwichtig, diese Beigaben, aber man soll doch den Menschen darunter auch noch sehen, oder? Soll ich etwa in mich hineinschauen? Sinnlos, denn das, worin ich bin, sehe ich nicht, ich will es nicht sehen, das wäre ja vielleicht ich selber, Moment, wenn ich in mich hineinschaue, sehe ich mich ja gar nicht (ich bin doch die Umgrenzung! Die Hülse, die übrigbleibt, nachdem ich abgeschossen worden bin, aber es geht nicht, egal was, nichts geht), sondern meine Organmandate, die dann womöglich alle mir schreiben, diese total kaputten Organe, die alle Zettel ausfüllen werden, welche letztlich mir auf der Tasche liegen. Wo sind sie jetzt hin, die Strafzettel, auf denen diese blöden Krankheiten stehen? Ah, hier sind sie! O Gott! Was in mir ist, das will ich gar nicht wissen. Wenn es die Angst ist, was ich da sehe, dann kenne ich sie schon, dann brauch ich sie gar nicht erst zu sehen, sie sieht ja vielmehr mir zu und freut sich sehr, wie gut sie auf mich wirkt. Sie sieht, wie ich aus dem Körperhäuschen gerate und freut sich über ihren Erfolg. Sie will mir nichts zeigen, diese Phase haben wir hinter uns, ich weiß, daß ich vor allem, was es gibt, Angst habe, die Mühe kann sie sich sparen, sie muß nicht ins Detail gehen (Dornenkrone blutig oder nicht, Heiligstes Herz mit Flamme oder ganz ohne, mit Stacheldrahtreif oder ohne), denn ich hätte viel zuviel Angst, die Augen zu öffnen, um zu sehen, was die Angst selbst, die Angst als solche, mir zu zeigen hat, sehen Sie, bisher hat sie mir ja nur gezeigt, daß draußen alles ist, was ich nicht sehen kann, und daß das alles furchterregend ist, gerade weil es unsichtbar und daher besonders unheimlich ist. Es könnte ja sein, daß es das Unsichtbare gar nicht gibt! Wenn sie sich mir aber selber zeigte, die Angst, ich glaube, das wäre dann der Notausgang zum Aus–der–Welt–Gehen, gefangen wie ich wäre zwischen zwei Zuständen, die einem beide nichts mehr zu sagen haben, nicht die Außenwelt und nicht die Innenwelt, und vor einer dritten hätte ich ja noch viel mehr Angst, bloß das nicht!, denn ich weiß ja gar nicht, ob es sie gibt, ich hoffe: nein, aber was ich mir erhoffe, geht eh nie in Erfüllung. Und ob es sie gibt, wetten?! Sie sehen, sogar der Ängstlichste macht Fehler, denn es gibt viel mehr, das seine Angst schürt, als er sich vorstellen kann, er weiß es erst nachher, wenn er tot ist, wie schrecklich das diesmal wieder gewesen ist, das nächste Mal möchte er gewiß nicht mehr erleben. Aber etwas anderes wäre noch viel entsetzlicher, da bin ich mir sicher, aber ich sage es ihm nicht, dem Ängstlichen, der geht mir sonst ein vor Schreck. O Gott, ja, du bist gemeint, mit den blutigen Fetzen, mit denen du mich abwaschen willst, mit denen hast du dich doch vorher abgewischt, hast den Eiter von deinen Pickeln reingedrückt und gesagt, das wär dein ganzer, absolut wahrer Gesichtsabdruck, hier auf dem Tuch exklusiv in erster Auflage abgedruckt!, aber diesen Dreck will ich nicht ausgerechnet in meinem Gesicht haben, o Gott, wie würde ich mich erst fürchten, sähe ich etwas, das es überhaupt nicht gibt, also dich, lieber Gott! Ich bin meine eigene Grundlage, habe ich beschlossen, und zu meinem Bedauern zeigt mir die Welt (laß, o Welt, o laß mich sein, ja, laß mich doch endlich sein, ich scheiße von vornherein auf deine Liebesgaben! Nicht einmal das gönnst du mir, nicht einmal das will sie, mich sein lassen, denn sie will selber sein, sie will alles sein, bloß nicht mir, die depperte Welt, mir will sie nicht alles sein. Sie hätte damit ja weiter gar nichts zu tun, sie müßte nur ihre Hand von mir endlich abziehen, wie bei einem Abziehbild, die Folie abreißen und mich da hinpicken, meinetwegen auch einen Magneten aktivieren, damit das Zeugs hält, egal wohin mich heften, wie die Liebe ihre Augen, keine Ahnung, kenne ich nicht, ich würde dort sowieso nicht sein wollen, egal wo, nein, auf die steil aufragende Kühlschrankwand will ich auch nicht drauf, womöglich auch noch in der Form eines Marienkäferchens!), daß sie gerade in diesem wackligen Zustand, in dem sie mir erscheint, da ich einen Fuß schon draußen aus ihr, einen noch drinnen in ihr habe, eben die Welt ist, die ich nicht kennenlernen konnte, als ich noch lebte, als ich mich noch nicht verzweifelt aus ihr herausarbeitete, ohne es zu wollen. Also das ist Quatsch. Wenn ich zu Lebzeiten gewußt hätte, wie super toll die Welt ist, hätte ich doch gleich in ihr drinnenbleiben können! Der bekannte Schrecken ist bekanntlich weniger schrecklich als der unbekannte, das bekenne ich hier, an dieser Stelle, die ich bekommen habe. Die größte Angst habe ich davor, daß die Welt vielleicht gar kein Schrecken gewesen wäre. Ich habe nicht die Wahl, denn andere haben sie schon gewählt, die Welt. Von der Speisekarte gestrichen. Zuviele haben sie gewählt, zuviele haben sie bestellt wie einen Acker. Doch dieses Land ist unwirtlich. Schöner Zustand Angst: Daß du mir ja nicht durch mein ständiges Fürchten zunichtegemacht wirst! Halten Sie mich bitte nicht auf! Ich muß raus aus der Welt, auf der Stelle, nein, nicht auf dieser, aber auf einer anderen Stelle, um wenigstens einmal kurz diese Welt zu sehen, die ich zu Lebzeiten niemals anzuschauen wagte, dort, in meinem kleinen Pfefferkuchenhaus, wo ich gewohnt habe, das war mein Lebzelter, mein Lebenselixier, obwohl ich nicht in einem Zelt gelebt habe, gewiß nicht. In einem Einfamilienhaus ohne Familie, allein. Wer sagt, daß es darum geht, in der Angst, wenigstens in der Angst, sein Sein als etwas zu begreifen, dem es um sich selber geht und um sonst nichts? Egal, wer das sagt, ich glaube ihm, denn wenn es um mich geht, geht es um nichts. Das ist mir angenehm. Ich glaube nämlich nicht, daß ich Angst habe, damit es um mich selber geht. Ich würde gern woandershin gehen, damit es etwas anderes wäre, worum es mir ginge. Vielleicht auch zu einem anderen Menschen. Aber leider, es geht mir in meiner Angst immer nur um mich herum, aber nicht in mich hinein. Nicht einmal dorthin trau ich mich. Ob ich das nun will (nein!) oder nicht: in mich gehen. Das Sein selbst kann seine Flügel gar nicht mehr ausbreiten und kreischend, einen alten Apfelbutzen im Schnabel, der durchs Kreischen prompt rausfällt, davonfliegen, denn davon wäre ich ja weg, ohne zuvor in mir gewesen zu sein, ja will ich das denn nicht, will ich denn nicht weg? Also so will ich es auch wieder nicht. Ich weiß nicht, was ich will, doch ich will es anders. Ich wäre davon, wir müssen doch alle davon, alle, aber wo alle sind, dorthin würde ich nicht wollen, ich will ja nicht einmal dorthin, wo, außer mir, noch sagen wir etwa 45 andere Personen wären, die alle ihr Sein herumtragen, wohin sie wollen, den Eingang in den Krebsenkeller finden Sie aber schon noch, oder soll ich Sie nach Graz begleiten?, sicher wollen auch sie einmal davon, und davon müssen sie ja auch, sie dürfen also dorthin, wohin sie sowieso müssen. Herr, lehre mich, daß ich davon muß, das gilt für alle, das stört diese Leute doch gar nicht, daß sie weg müssen, sie sind ja ganz in sich zuhaus, bevor auch sie abhauen müssen, aber ich, bitte, bitte, bei mir ist es anders, mein Sein gehört nicht ausgerechnet dorthin, wo ich bin, ich lehne mein Sein nämlich komplett ab und will ein anderes, bevor es zu spät ist, das wäre dann aber womöglich dort, wo ich nicht hin will, was noch nicht der Weg wäre, das Weg (das Hinweg, nein, nicht der Hinweg, der ließe ja noch einen Rückweg denken), das wäre kein bewohnenswertes Haus mehr, wo es um mein Sein ginge, das mir endlich zeigen könnte, wovor und warum ich eine solche und keine andere Angst habe.


Elfriede Jelinek Geb. 1946 in Mürzzuschlag (Steiermark), studierte in Wien Theaterwissenschaft, Kunstgeschichte und Musik. Ausbildung zur Organistin, seit 1966 freie Autorin. Für ihr Werk erhielt sie zahlreiche Auszeichnungen, darunter 1989 den Würdigungspreis der Stadt Wien für Literatur, 1998 den Georg-Büchner-Preis, 2002 den Theaterpreis Berlin und den Heinrich-Heine-Preis. Im Oktober 2004 folgte schließlich der Literatur-Nobelpreis. Zuletzt: Aufführung von „Die Schutzbefohlenen“ (2015, Burgtheater) http://www.elfriedejelinek.com/ mehr...

62/Angst, Furcht und Schrecken/Lyrik: Mario Kern: Die Ruhe vor dem Sturm

Mario Kern
Die Ruhe vor dem Sturm

Die Vögel verlassen den Himmel
und die Wipfel wankender Bäume,
der laute Tag verebbt in leisem Donner,
die Wolken sind schwer geworden…
Bald wird der Sturm beginnen,
aber noch ist alles friedlich,
noch bellen vereinzelt die Hunde,
noch zwitschert es von niederen Ästen…
Zu Mittag ist es Nacht geworden
und Blitze erleuchten das Dunkel,
sie verlieren sich in der Weite
und Donner durchsägt die bleierne Stille…
Bald wird der Sturm beginnen,
aber noch ist alles friedlich,
noch spielen die Blitze
wie lachende Kinder ein finsteres Spiel…

 


Mario Kern Geb. 1978, wohnt in St. Pölten. Hauptberuflich journalistisch/ redaktionell in der NÖN tätig. Verfasst vorwiegend Lyrik und das seit seinem 18. Lebensjahr. Mit 21 hatte er seine erste Lesung auf einem alten Gehöft in Norwegen, wenig später die erste auf heimatlichem Boden. Insgesamt führten ihn bisher rund 30 Lesungen nach Wien, in die Steiermark, ins Pielachtal, nach Herzogenburg und selbstverständlich immer wieder nach St. Pölten, wo er u.a. das Cinema Paradiso, das Rathaus, das Stadtmuseum, die Bühne im Hof, die Evangelische Kirche, den Dom, frei:raum und den Sonnenpark „besprochen“ hat. Bisherige Publikationen: Lyrikband „Traumverwoben“ (Luna, 2006), zahlreiche Veröffentlichungen in Literaturzeitschriften. mehr...