53/LitArena 6/1. Platz: Schutt. Mario Wurmitzer

Mario Wurmitzer
Schutt

Frau Professor Wegenrath schlüpfte rasch in ihre Sandaletten und wies die Schüler an, das Gebäude zu verlassen.
Die Kinder versuchten, ihre iPads zu retten. Aus den Schließfächern im Keller trat Rauch aus.

Paul flüchete aus dem Zeichensaal.
Es sind die Geister! Sie kommen, weil wir gelogen haben!
Ein starker Junge warf Paul zu Boden. Schon einmal hatte er Paul befohlen, nicht wunderlich zu sein. Paul hatte sich nicht daran gehalten. Der starke Junge fand, nun sollte Paul verbrennen.

Paul lag auf dem Boden und er erinnerte sich an den Erste-Hilfe-Kurs. Aber er tat es irgendwie falsch. Wenn du in Not bist, brich dir das Schienbein. War das wirklich der Rat des Mannes gewesen, der den Kurs geleitet hatte? Paul brach sich das Schienbein.

Herr Direktor Grubenau sagte, nachdem er die Zahl der Überlebenden notiert hatte: Es schickt sich nicht, wenn eine Lehrerin barfuß unterrichtet. Wo kommen wir denn da hin.
Frau Professor Wegenrath musste ihre Sandaletten und ihren Rock ausziehen. Herr Direktor Gruber wollte ein Schreiben an die Universität, an der Frau Professor Wegenrath ausgebildet worden war und die sie vor eineinhalb Jahren verlassen hatte, aufsetzen und Rock und Sandaletten beilegen.
Es herrschte Unruhe unter den Sportlehrern, sie schossen sich gegenseitig mit Medizinbällen ab und trugen zahlreiche Verletzungen davon.

Paul hustete. Wenn er sich doch nur hätte erinnern können, zum Beispiel an dieses Online-Spiel, in dem es erstaunlich oft um das Löschen von Feuer ging. Warrior-Heaven hieß es. Ihm war immer das Pferd gestohlen oder die Hand abgehackt worden von mächtigeren Spielern. Es war kein schönes Spiel gewesen. Paul brannte mittlerweile.
Paul hätte sehr gerne das Klavier aus den Flammen gerettet. Er hätte dann darin gewohnt oder gelernt, darauf zu spielen. Er wollte sich doch noch verlieben und größer werden und der von ihm geliebten Person Wachsmalkreiden schenken, in die er Kaugummi und Liebe gesteckt hätte. Es wären eigentlich gar keine Wachsmalkreiden mehr gewesen, sondern etwas vollkommen anderes. Die Flammen öffneten Pauls Mund.

Eine Staffelei am Ende des Ganges. Ein Kind stand davor, den Pinsel in Händen. Es malte einen Kreis. Paul schrie um Hilfe. Das Kind hob die Hände, ließ den Pinsel fallen und lief weg.
Hättest du nicht noch kurz, murmelte Paul, mein Leben retten können? Und er brach sich nochmal das selbe Schienbein.

Der Schulchor stand am Fußballplatz und sang: Hurra, hurra, die Schule brennt. Niemand hatte den Schulchor dazu aufgefordert oder hinderte ihn daran.
Herr Direktor Grubenau fragte, weshalb die Schüler so selbstständig und kreativ agieren würden.
Frau Professor Wegenrath antwortete unter Tränen: Aber war es nicht das, was Sie immer wollten?
Ihren Rock und Ihre Sandaletten wollte ich, antwortete Herr Direktor Grubenau.

Paul erblickte den Wandschrank mit den Trophäen und Urkunden darin. Die sechstsauberste Schule im Landkreis. In Anbetracht einer solchen Ehre für die Schulgemeinschaft sollte er sterben?

Der größte Wunsch von Frau Professor Wegenrath war immer gewesen, niemals ein Kind zu verlieren. All die Seminare über ontologische Entwicklung, all die Reflexionen und Forschunsprojekte, wozu? Ihr einziger Wunsch war immer gewesen, nie ein Kind zu verlieren und man hatte ihr nicht gezeigt, wie das ging.

Sabrina und Klaus saßen am Dachboden der Schule. Sie waren nackt und voll Ehrfurcht und Demut. Jeder hielt einen Spiegel vor dem eigenen Körper.
Erkenne dich in mir, sagte Sabrina.
Klaus schüttelte den Kopf.
Immer dieses Esoterik-Zeug, sagte er. Was soll das mit den Spiegeln? Dafür schwänze ich die Flucht vor den Flammen mit dir?
Was hat das denn mit Esoterik zu tun, fragte Sabrina und Klaus nahm ihr das Räucherstäbchen aus dem Haar.
Paul verbrannte.

Was ist mit den toten Kindern?
Sie werden vermisst werden.
Soll uns das trösten?
Eben gerade nicht.
Herr Direktor Grubenau führte das Selbstgespräch beim Urinieren im Gebüsch nahe dem Sportplatz und stellte sich vor, er sei zugleich Herr Schulinspektor Bergmann und er selbst.

Ich habe mich bis jetzt nie gefragt, wie man die Leber eines anderen berührt, sagte Sabrina.
Du bist ja verrückt, sagte Klaus und begann zu husten. Die Flammen breiteten sich schnell aus. Klaus verlor das Bewusstsein. Sabrina zerbrach den Spiegel, den er vor seinem nackten Körper hielt.

Wenn doch Udo Jürgens hier wäre, um uns alle ein wenig zu trösten, sagte Frau Professor Wegenrath, ehe man sie nach Hause schickte. Sie sollte sich ausruhen. Also legte sie sich zu Hause auf den Boden und starrte an die Decke, die bröselte. Polizisten schlugen an ihre Tür. Man habe doch noch ein paar Fragen. Ob die Erhaltung von Leben wirklich so ablief, wie die Erhaltung von Leben abzulaufen hat.

Sabrina trat aus dem Flammenmeer. Sie trug Klaus wie ihr Kind. Er war nackt und drückte sein Gesicht an ihren Hals. Inseinen Haaren schimmerten die Scherben des zerbrochenen Spiegels.
Herr Direktor Grubenau prüfte die Lebendigkeit von Sabrina und Klaus durch Schläge. Ja, es waren Klaus und Sabrina.
Einmal kräftig durchatmen, sagte sich Herr Direktor Grubenau, tat es aber nicht.

Ich hätte nie gedacht, dass das Ende meiner Schulzeit so aussehen wird, sagte ein Junge mit Augenklappe.

Einer seiner Mitschüler fragte ihn, was man nun tun solle.
Eine Bande gründen, sagte er und zupfte an seiner Augenklappe.
Die Kinder rannten los, verteilten sich über die Stadt, verkrochen sich in Ecken und Mülltonnen. Die Feuerwehr löschte die letzten Flammen. Es blieb Schutt zurück. Die Polizei verhörte Frau Professor Wegenrath sehr lange. Herr Direktor Grubenau bekam Kopfschmerzen und legte sich auf den Basketballplatz.

Paul saß auf einem Baumstamm aus Wolle und freute sich, alle bald wiederzusehen. Er würde Wachsmalkreiden verschenken. Es würde Bratwürste geben. Jemand würde Forever young singen. Er würde lachen, bis er weinte und dann würde er wieder lebendig sein. Den Baumstamm aus Wolle würde er mitnehmen. In der Welt der Lebenden könnte er ihn in einer Ausstellung zeigen und so hoffentlich ein berühmter Künstler werden. Er fand, er habe den melancholischernsten Blick für ein Künstlerdasein in New Jersey oder vielleicht sogar in New York.

In den Trümmern der Schule spielten die Eichkätzchen. Die Kinder zogen raubend durch die Stadt und ließen sich manchmal in den Arm nehmen. Ihre Brandwunden versteckten sie unter bunten Tüchern. Herr Direktor Grubenau nahm zur neuen Lage in der Stadt bei einer Pressekonferenz Stellung: Wir haben immer gewusst, dass bald alles vor die Hunde geht. Fragen Sie den Bildungsminister.
Der Bildungsminister wurde gefragt und sagte nichts.

Und außerdem, sagte Herr Direktor Grubenau, ist Schutt ein hervorragender Baustoff. Daraus kann man alles machen.
Alles. Was auch immer Sie sich gewünscht haben, ich garantiere Ihnen, dort, wo die Schule stand, kann es entstehen.
Wir haben jetzt völlig neue Möglichkeiten.

Frau Professor Wegenrath ging in den Zirkus. Als der Löwe in die Manege kam, sprang sie auf und lief zu ihm. Er fraß sie nicht. Er war so zahm. Sie durfte ihn streicheln und dann streichelte der Löwe sie. Er hatte Mitleid mit der jungen Lehrerin, die nun nirgendwo mehr unterrichtete. Er schenkte ihr einen Teil seiner Mähne.

Sabrina und Klaus beerdigten Paul und heirateten wenig später. Sabrina hatte Klaus aus der brennenden Schule gerettet, weshalb er sich zur Ehe mit ihr verpflichtet fühlte. Sie steckten sich Ringe aus einem Kaugummiautomaten an und einer der großen Jungen, ein Bandenführer, erklärte sie zu Mann und Frau.

Der tote Paul konnte den Chor hören. Hurra, die Schule brannte, sangen sie. Es klang müde und trostlos und es gefiel ihm. Er fand im dreckigsten Teil der Kanalisation die Schuhe und den Rock seiner ehemaligen Zeichen- und Englischprofessorin Frau Professor Wegenrath und war erregt wie damals, als er nachts den Fernseher eingeschaltet hatte. Neben den Schuhen und dem Rock lagen allerlei Abfälle der Universität. Prüfungsbögen, Studienbestätigungen, sehr alte Wissenschaftler.

Menschen kamen aus der Fremde und wollten die Schule wieder aufbauen. Sie wurden von den Mentalcoaches der Stadt beschimpft und geschlagen, womöglich gefoltert und schließlich vertrieben, denn Hilfe von anderswo habe man nicht nötig.

Sabrina und Klaus erhoben ihre Biergläser auf das Ende der Schulzeit. Herr Direktor Grubenau hielt eine Rede, die von Kindern geschrieben worden war. Er lobte die neue Lage in der Stadt und betonte, Schutt sei wirklich ein hervorragender Baustoff, daraus könne man alles machen.

Mario Wurmitzer
Geb. 1992 in Mistelbach, studierte Deutsch und Geschichte an der Universität Wien. 2010 erschien sein Jugendbuch „Sechzehn”. Danach wandte er sich dem literarischem Schreiben zu und veröffentlichte Texte in Literaturzeitschriften Anthologien. u. a. 2012/2013 Hans Weigel-Literaturstipendium des Landes Niederösterreich und 2013 Aufenthaltsstipendium im Küstlerhaus Schloss Wiepersdorf.

Erschienen im etcetera Nr 53/ LitArena 6 / Oktober 2013 mehr...

53/LitArena 6/2. Platz: Seralin. Denise Kamschal

Denise Kamschal
Seralin

Klack: Quieki ist das einzige männliche Meerschweinchen und weil er die Pfoten nicht von den anderen lassen kann lässt die Familie ihn kastrieren. Nur dumm, dass es am Land keine Kleintierpraxen gibt. Aber weil man sich sowieso untereinander kennt und ein Spezialpreis lockt, darf es auch mal ein Landtierarzt sein. Quieki überrascht mit seinen Minaturorganen und Mutter kommt ohne ihn wieder nach Hause. Sie erzählt uns nichts davon, denn der Tierarzt hat ein derartig schlechtes Gewissen, dass er nicht nur nichts für den Eingriff verlangt, sondern auch noch eine Entschädigung parat hat. Wir sitzen alle gemeinsam am Tisch, als eine Woche später Quieki am Tisch steht. Regungslos. Montiert auf einer Holzplatte.

Klack: Rein objektiv sitze ich in der kleinen Küche, auf der mit pinkem Schlangenlederimitat überzogenen Essecke und würge das Essen meiner Mutter hinunter. Ich esse es kalt. Die inzwischen Schmalz gewordene Sauce stört mich nicht. Ich bin Realist. Ich erwarte von Fertigsaucenpulver keine Weltwunder. Ich starre in den kleinen Fernseher neben dem Herd, während meine Mutter wie immer nackt durch die Wohnung rennt und mein momentaner Stiefvater mit einer Wünschelrute Currykreuzungen ausmisst. TV kills the freak. Naja, aber wenigstens weiß ich jetzt, wo genau ich sitzen muss, um das Gift der modernen Welt mich verstrahlen zu lassen. Ich bin in der Pubertät und meine Wahrheit ist es, dagegen zu sein. Wer bin ich schon die Welt neu zu erfinden.

Klack: Meine Exfreundin heiratet und ich darf dabei sein. Sie heiratet den Typen, wegen dem sie mich verlassen hat. Sie weiß nicht, dass ich ihn eigentlich haben wollte. Zu viel für mich, weil sie mir am Herzen liegt, und ich damals in einigen Belangen einfach zu feig war. Feigheit zuzugeben, ist noch nicht meine Stärke und dieses Eingeständnis wird sie auch nie erfahren, außer ich hinterlasse postvital einen aufklärenden Brief. Jedenfalls ist von vornherein klar, dass ich noch
für einen Skandal sorgen werde, auf das Problemkind ist Verlass. Schnell betrunken und schwer verwirrt, nehme ich all meinen Mut, oder Dummheit, da bin ich mir nicht so ganz sicher, zusammen, und tue das einzig logisch Schlüssige. In ihrem Jugendzimmer, voller Erinnerungen, lasse ich Belehrungen über mich ergehen. Sie sagt nichts Unwahres, aber anhören muss ich mir bei Gott nicht alles. Ich habe sie ja nicht geheiratet. Also springe ich aus dem Sessel auf, drücke sie gegen die Wand und küsse sie. Das war die erste und einzige Ohrfeige, die mir jemals wehgetan hat.

Klack: Es ist mitten in der Nacht und ich habe keine Zigaretten mehr. Draußen ist es so lauwarm. Man braucht noch keine Bankomatkarte, um den Automat davon zu überzeugen, mir zu erlauben, bei ihm bezahlen zu dürfen. Wäre ich unangefochtener König, ich hätte die gleiche Haltung. Ich trage eine Boxershort am Kopf und weigere mich sie abzunehmen. Auch nicht als eine Gruppe Jugendlicher vorbei kommt. Ganz im Gegenteil. Ich bewerfe sie mit Müll. Warum auch nicht? Ich mag einfach keine jungen Menschen. Sie rauben uns das bisschen Zukunft, das wir noch übrig haben und spucken uns mit ihrer Lächerlichkeit ins Gesicht. Peinlich berührt gehen sie weiter. Ihrer Meinung nach haben sie mir ja nichts getan. Grund genug um noch einmal in den Abfalleimer zu greifen und noch deutlicher zu machen, was ich von solchen „Scheißkindern“ oder „schirchen Gfrastern“ halte. Im Endeffekt gehe ich mit einem aufgeschürften Ellenbogen und einem Kat auf der Stirn schlafen und diese Zigarette danach, hat endlich einmal wieder geschmeckt. Immerhin.

Klack ohne Objektiv: Ich sitze mit einer Runde am Tisch. Die Stimmung ist getrübt. Entweder wichsen sie mit ihrem Gedankengut gerade auf irgendwelche Missstände oder jemand ist gestorben. Ich weiß es nicht, ich höre ihnen nicht zu. Ich sitze nur hier, um einen Schein von sozialem Verhalten zu erwecken. Ich beginne zu grinsen und bin dabei festzustellen, dass ich mit jeder Person an diesem Tisch Sex hatte und keiner von den anderen etwas davon weiß. Nicht die zwei besten Freunde, nicht das Pärchen, nicht mein Freund. Man schätzt mich nicht für vieles, bis auf meine Diskretion. Und jetzt rechtfertige dich für dein Lachen. Erkläre, warum Parkinson bei seinem Vater dich so amüsiert. Ich sage nur: „Frag deine Freundin“, und die Sache ist gelaufen. In so gut wie allen Fällen erledigt der Satz, frag deine Freundin, alle deine zwischenmenschlichen Probleme, wenn dein innerpsychosomatischer Charakter sich offenbart. Sie habe ich nie wieder gesehen und er, im Nachhinein, war dankbar.

Momentaufnahme. Klack: Ich weine von ganzem Herzen in die Schulter meines Vaters. Wir sind auf einem Begräbnis und der Großteil der Leute freut sich, mich zu sehen. Endlich zeigt dieses rationale, stoische Miststück Emotionen. Mein Onkel fotografiert diesen Augenblick sogar. Was mein Vater nicht weiß, ich betrauere meinen echten Vater. Nicht meinen biologischen. Ein Jahr später stirbt auch er und ich habe beiden nie gesagt, was ich von ihnen halte. Einen Brief gibt es, den ich an ein Grab lege. Ich rede nicht mit Leuten, ich schreibe ihnen Briefe. Meine Mutter meint, der Brief hat sie inhaltlich sehr berührt. Bis heute versteht sie nicht, warum ich ihr nie verzeihen werde.

Klack, klack, klack: Ich habe Kopfschmerzen und sitze in einem Fauteuil in der Luxussuite einer Hotelkette. Der egohygienischste Moment meines Lebens steht kurz bevor. Sieben Männer vögeln gerade eine Freundin aus der Pornobranche. Ja sieben, es ist möglich. Die Fotos von diesem Shooting gibt es als Beweis noch immer auf einer Homepage. Sieben Männer sind zu Gange und sie sehen dabei mich an. Nicht sie. Mich. Der Natur gegenüber habe ich mich somit gerechtfertigt. Der Rest ist mir ziemlich egal. Zur Feier des Tages betrinke ich mich. Just als mir die Abartigkeit von Sex bewusst wird, übermannt mich der Ekel über diesen Vorgang und ich übergebe mich. Gleichzeitig bereue ich, dass kein Mülleimer in der Nähe ist. Ich frage mich, wie heftig Magensäure Seide zerfrisst. Es ist eben nie hübsch, wenn man sich anderen offenbart. Wenigstens habe ich dieses Mal nicht gelacht. Es wäre auch keine Freundin in der Nähe gewesen, um mich jetzt noch zu retten.

Klack: Ich warte seit Ewigkeiten bei meinem Auto. Eigentlich ist es das Auto eines Freundes, randvoll mit leeren Zweiliterflaschen. In meiner Langeweile klebe ich mit Gaffaband ein riesiges Anarchiezeichen auf die Rückscheibe, bis meine zwei Kollegen endlich kommen, um das Leergut zu einem Weinbauern zurückzubringen. Einer hat jede Menge Gras dabei. Manche Vorurteile gegenüber Dreadlockträgern sind eben doch wahr. Als wir am Weingut ankommen, empfängt uns der Winzer und überredet uns zu einer Weinverkostung seiner neuesten Werke. Bis es dunkel ist, haben wir achtzehn Fässer verkostet und ein Kollege schläft bereits im Stehen, eingekeilt zwischen zwei Fässern. Nach und nach entpuppt sich der Winzer als waschechter Nationalsozialist und wenig später prügeln wir, oder ich alleine, ich weiß es nicht mehr, uns mit dem Bauern und flüchten mit Geschrei. Es ist ein Wunder, dass wir, zum einen mit gefühlten acht Promille noch Auto fahren können und zum anderen nicht von der Polizei gestoppt werden. Das Leergut füllt noch immer den Wagen.

Klack: Sie redet und redet und redet. Ich mag sie wirklich, aber sie versteht so vieles nicht. Weder mein Desinteresse im Leben weiter zu kommen, noch, warum ich nichts aus mir mache. Auch nicht warum ich Männer neben ihr habe. Dabei ist sie für mich wirklich das unerreichbare, unantastbare Wesen, das mir die Sinne raubt, wenn sie nicht da ist und ich den Verstand verliere, wenn ich sie sehe. Ich verhalte mich wie ein Vollidiot, sobald sie in der Nähe ist, und dennoch habe ich es irgendwie geschafft, dass sie etwas für mich empfindet. Aber ich kann es einfach nicht. Ich schaffe es nicht, mich an sie zu gewöhnen. Ich ertrage ihre Nähe nicht und deshalb tue ich nichts anderes, als exzessiv unsere, nennen wir es eben Beziehung, zu zerstören. Noch während sie ihren, wahrscheinlich zurecht, wütenden Monolog rezitiert, vermisse ich sie schon und weiß, dass ich die nächsten Wochen in einer Achterbahn des Ausschweifens, Leidens und der Euphorie enden werde. Zwischen Zigarettenstummeln, leeren Flaschen und Beinen. Ich und meine Eskapaden. Ich sitze nur da und sage kein Wort. Ich glaube, sie bricht mir gerade mein Herz. Wie jeden Tag. Sie fehlt mir heute noch, aber für mich ist sie in dieser Sekunde der Mensch gewordene Tod.

Rein objektiv, klack: ich sitze in einem Keller. Khachaturians Masquerade dröhnt in die Dunkelheit, während drei Dragqueens und eine übergewichtige Lesbe versuchen eine performative Choreographie auf die Beine zu stellen. Immer und immer wieder. Dafür werde ich bezahlt. Nackte Tatsachen wunderschön aussehen zu lassen. Leider ist die Wahrheit eine hässliche Sache. Aber ich bin Masochist. Mir bereitet es mehr Freude, vergebliche Existenzen mit vergeblichen Projekten vergebens zu fördern, als einem Kleingärtner Beileid zum Tod seines putzigen Goldfisches Wittgenstein zu wünschen. Nein eigentlich doch nicht. Am besten wäre es, beide im Goldfischglas zu ertränken und Klein-Wittgenstein darf die Klospülung betätigen. Ich bin vierundzwanzig, ich habe nichts Besseres zu tun.

Klack: Er sieht großartig aus. Leider ist er Künstler, aber man sieht ihm nicht an, dass er gerade nicht auf der Bühne steht. Es gibt keinen anderen Weg, als mir Mut anzutrinken. Vergebens leider, der Punkt, an dem der Mut steht, rast an mir vorbei und alles, was mir bleibt, ist die Hoffnung, dass er genau so betrunken ist, wie ich, um mich zu vergessen. In den kommenden Wochen folge ich ihm, wann ich nur kann und beobachte ihn. Ich lerne sein Umfeld kennen und mache mich dabei zum Affen. Ich fühle mich unsicher, also hole ich mir meine Bestätigungen anderswo. Diese inzestuösen „Künstlerkollektive“ sind nicht meine Welt. Sie ermüden mich, daher stört es mich nicht, so gut wie alle zu vergraulen. Ich bin der Rowdy am Kinderspielplatz. Bei seinem heutigen Auftritt ist es dann so weit. Seine Blicke auf der Bühne erregen mich derartig, dass es nur schwer zu ertragen ist. Ich überlege sogar, schnell auf die Toilette zu gehen. Eine Stunde später sind wir mit einer kleinen Gruppe in einem still gelegten Kellergewölbe und feiern eine Privatparty, auf der er mit irgendeiner Frau herum macht. Aber kaum später liegen wir zu Viert auf einer ranzigen Couch und sehen verdammt gut dabei aus, Sex Drugs and Rockn‘ Roll zu verkörpern.

Klack: Ich bin sechsundzwanzig Jahre alt und scheine unfotogen zu sein. Der gute Mann muss über fünfzig Fotos von mir machen. Anscheinend fand es jemand nicht ganz so lustig, dass ich ihm vollkommen stoned erklärt hatte, warum Gott, wenn es ihn denn gäbe, ihn als Witzfigur auf die Welt geschickt hat, es aber wiederum einen Gott geben müsse, weil so einen Scheiß wie ihn, sich keiner hätte einfallen lassen können. Nun ja, nicht nur das. Ich hatte sicher auch noch andere Thesen, die ihm nicht gefielen, aber anderen Menschen die Würde zu nehmen... seid ehrlich. Er hat mir in die Seite gestochen und danach ins Gesicht geschlagen. Er lief davon und ich blieb einfach in meiner Wohnung sitzen. Ich muss zugeben, ich war kurz perplex. Und das erste „Scheiße“ entkam mir erst, als es anfing weh zu tun. Verdammt weh zu tun. Als mir klar wurde, dass ich sterben werde, unternahm ich nichts. Keine Rettung, keine letzten Anrufe. Nicht einmal den Fernseher habe ich aufgedreht. Ich meine, hey, ich bin high gestorben. Eigentlich hat mich keiner rückblickend wirklich bemerkt, doch bei wem ist das schon der Fall. Aber zuerst, zuerst, rauche ich erst einmal meinen Ofen fertig.

Denise Kamschal
Geb.1986 in Oberstdorf, 2005 Matura am „Neusprachlichen Gymnasium der Ursulinen“ in Graz, lebt und arbeitet seitdem in Wien.
Tüftelt an Sounddesigns, richtet Projektionen aus, stellt Künstler ins rechte Licht und baut Bühnen in einer Lehre als Veranstaltungstechnikerin
im “Koproduktionshaus Wien brut”. Mag die Natur in ihren eigenen vier Wänden.

Erschienen im etcetera Nr 53/ LitArena 6 / Oktober 2013 mehr...

53/LitArena 6/3. Platz: Die Schafweide. Johannes Milchram

Johannes Milchram
Die Schafweide

Und doch bin ich froh, der kräftigste und beste Bock zu sein. Es verstellen keine anderen wolligen Hinterteile meinen Blick, wenn ich als erster frühmorgens über die Flur schreite, hin zu den klammen Gras- und Kräuterhalmen des Rechtecks, das wir bewirtschaften. Nur ich sehe frühmorgens das Feld ganz leer; die Nebelschwaden, den Hauch des Taus zwischen den Distelblüten. Nur ich kann die reine Nachtluft aus dem erkalteten Boden noch erhaschen, bevor ihn der Stallgeruch verschwitzter Wolle verdirbt.

Ich bin glücklich, wenn ich meinen rechten Huf auf die Weide setze und hier den ersten Atemzug des Tages tun kann. Ich rieche Köstlich-Würziges, Verheißungsvoll-Saures, Schmackhaft-Bitteres. Ich rieche auch die Algen in der Tränke. Sie wachsen auf dem Emaille des weißen Gefäßes, welches nahe des Gatters steht: stets volllaufend mit abgestandenem Wasser, stets überlaufend. Es bewässert das schlammige Terrain rundum, in dessen Erdreich wir knöcheltief einsinken, wenn wir hingehen, um zu saufen. Ich rieche unseren Kot in dem Matsch, ich rieche Verwesendes. Kleintiere und Kriechtiere frequentieren die feuchte Gegend, rote und schwarze Ameisen, Schnecken. Diese sterben hier auch und ihre Häuser zerbrechen unter den Hufen der anderen Schafe und ihre zerquetschten Körper vermischen sich mit dem Schlamm, und ihr Schleim blubbert schaumig, während sie verenden. Es ist dauerhaft feucht und doch ist es ungesund für die langsamen Wesen, hier zu leben. Der Dreck ist voller Würmer und Egel, die auf der Wiese und in unseren Bäuchen hausen. Sie legen immer neue Eier, hinaus in die Pfützen zu den anderen Tieren, wo sie groß und beweglich werden und der Welt hier draußen überdrüssig; sie wachsen und fressen, bis sie heimkehren in die Innenwelt unserer Därme.
Ich weiß, wen wir hier fressen.

Dicrocoelium dentriticum – Eindrücke des Saugwurms auf Halm 1
Ich bin der Auserwählte. Durch den Chitinpanzer der Ameise höre ich gedämpftes Blöken. Im Hinterleib macht sich freudige Unruhe breit. Langsam wird es wärmer; ich drücke fester auf das Nervengewebe und verstärke den Krampf in den Mundwerkzeugen, die sich in den Halm graben. Das Blöken kommt näher.
Ich bin der Auserwählte. Irgendetwas oder Irgendjemand da draußen wusste das wahrscheinlich schon, als ich mit all den anderen die heimatliche Leber verließ und durch Gallenblase und die gewundenen Gänge des Nutztierdarms auf die Wiese gelangte und von der nächstbesten Leberegelschnecke aufgefressen wurde. Irgendetwas oder Irgendjemand wusste, was mir bevorstand, noch lange bevor wir überhaupt daran dachten, die Schnecke vorschriftsgemäß lahmzulegen und sie so elendig krepieren zu lassen, dass sie dabei die größtmögliche Menge zuckerhaltigen Schaums ausatmete. Eine seltsame Stimmung entstand in so einer Schaumblase, irgendwo auf dem Außen des verendenden Schneckenkörpers. Licht und Schatten wechselten einander ab, während die Cercarien geduldig wartend ausharrten; ‚Zeit spielt hier keine Rolle‘, flüsterte jemand, und jeder Begriff von Raum löste sich zielstrebig auf. Die Schaumblase, das erkannte ich damals, war eine Anderwelt zwischen dem, was gewesen war, was immer noch bestand, und gleichzeitig ging, verging, unter der schillernden Hülle unserer Herberge, und dem, was kam, unerbittlich angezogen von der Zuckersüße des schäumenden Schneckenkadavers: auf sechs Beinen näherte es sich, fraß, und schluckte.

Ich bin der Auserwählte, der Hirnwurm, der Held, das einzige Opfer.
Zu diesem Zeitpunkt weiß auch ich es.
Die vorherige Egelgeneration hatte uns davon erzählt, davon, was uns bevorstand, hiervon. Sie hatten gesprochen von der langen Reise durch das vertraute, und doch so fremde Innere des Schafgedärms; von den Monaten ihrer Kindheit als Miracidien in Mitteldarmdrüse und Leber der Schnecken, von ihren gewundenen Körpern, die in eigenartigen Kalktürmen steckten. Doch ihre aufregendsten Geschichten, voll Spannung und Komik spielten im Inneren des Ameisenhinterteils, den sie alle vorübergehend bewohnt hatten. Die Ameise bewegte sich viel schneller als die Schnecke, und sie konnte auf hohe Pflanzen klettern. Der Held der Geschichte war immer ein Einzelindividuum, das am Unterschlundganglion der Ameise saß und sie lenkte. Die Älteren glänzten vor Begeisterung, als sie davon sprachen, doch stets wichen sie der Frage aus, wer von ihnen der Held gewesen war.

Ich erinnere die Erzählungen und stoße ein bitteres Lachen aus. Ich befinde mich inzwischen im Unterschlund. Ich bin der Held. Zu diesem Zeitpunkt weiß es auch die Ameise. Sie biegt ab und läuft querfeldein in das Dickicht der Grashalme, bis es Abend wird, klettert im abnehmenden Licht bis zur Spitze der nächsten Blume und hält daran fest; in ihrem Hinterteil die anderen Cercarien meiner Generation, pubertär, unruhig und ungeduldig in ihrer Freude auf das verheißungsvolle Innenleben eines gesunden Schafbocks; auf heimatliche Winkel eines Gallengangs. Ich schlucke eine bittere Träne.
Das Blöken ist nun über uns. Ich bin der Auserwählte.
Das ist das Ende der Ameise. Mein Ende.

Fasciola hepatica – Eindrücke des Saugwurms auf Halm 2
Wir haben es uns bequem gemacht. Die aufgehende Sonne glänzt rötlich auf den grünen, wogenden Halmen. Wartend schaukeln wir auf und nieder.
Ich richte den Blick nach oben, in den kühl grauenden Morgen. Schäfchenwolken überflocken den Osthimmel, zerfransen in dünne Fasern, so fein, dass sie sich kaum noch von der harten Platte darüber unterschieden. Ich habe in meinem Leben nie die Muße gehabt, mich in ihr Mäandern zu vertiefen. Erst seit ich meine Geißel abgestreift habe und auf einer sattgrünen Halmspitze klebe, bemerke ich den Wandel der Formen auf dem Kreisrund zwischen dem Auf und Nieder des Horizonts der anderen Halme, auf denen ich die übrigen Cercarien meiner Generation weiß, gleich mir, im langsamen Auf und Ab.
Und eine Ameise. Sie scheint wie festgenagelt. Ihr Blick ist fest auf die Pflanzenfaser geheftet, in die sie sich verbeißt. Die ganze Nacht hat sie in dieser Stellung verharrt.
Ich bin ihr gefolgt, nachdem wir die Schnecken verlassen hatten. Ich erinnere mich widerwillig an diese Gegend. In den feuchten Pfützen bewegten sich die Türme belebter Schneckenhäuser zwischen faulenden, verendenden, gerade verlassenen Weichtieren. Wir mussten uns durch den Strom neu ankommender, halbstarker Miracidien drängen, die uns mit ihren Fühlern immer wieder tief in den Dreck tauchten. Wir hatten als gereiftere Cercarien nur mehr eine einzelne Geißel, mit der es ungleich mühsamer war fortzukommen als damals, mit den feinen Härchen der jungen Miracidien. Sie konnten es kaum erwarten, von den Schnecken gefressen zu werden. Die Jungspunde stürmten, als glaubten sie in den Innenräumen der Schnecken verheißungsvolle Leberpasteten zu finden statt schale Organe von Zwischenwirtinnen. Die angewiderte Ausstrahlung unserer Gruppe steckte jeden Einzelnen der kreuchenden Organismen an. Die Aggression der älteren Würmer, die mit ihrem einzelnen Bein durch den Dreck humpelten, war förmlich greifbar. Entnervt sonderte ich mich von den anderen ab.
Ich hatte den Rand der Pfütze erreicht und die letzte der Schneckenleichen passiert. Sie war von einem eigenartigen Schaum überzogen, wie ich ihn auf dem Tier, aus dessen Inneren ich gekommen war, nicht bemerkt hatte. Ich erinnerte mich nur, die dünne Haut durchstoßen und mich gleich in der fauligen Luft über der spiegelnden Pfütze wiedergefunden zu haben. Da bemerkte ich die schwarzen Stangen der Ameisenfühler, die durch den Schaum pflügten. Mein Grund, ihr zu folgen, war der Ausdruck schieren Wahnsinns in ihren Facettenaugen. Mit übertrieben hastigen Bewegungen hatte sie das tote Tier verlassen und war in das Dickicht der Wiese gestürzt. Ich folgte den Fußabdrücken, sie dufteten intensiv nach einem Gemisch aus Schlamm und Schneckenhaut. Erst als die Luft in der Wiese mit dem abnehmenden Licht erkaltete, hatte ich sie eingeholt. Ihre süßlich stinkenden Fußabdrücke führten den Stängel eines Spitzwegerichs hinauf, und da ich ohnehin vorhatte, meine Reise zu beenden, erklomm ich den benachbarten einladend breiten Grashalm.
Ich konnte meine Geißel abstoßen und ruhen.
Aus der Ferne dringt lautes Blöken herüber. Ich verabschiede mich von der farbigen Platte über mir und freue mich auf das verheißungsvolle Innenleben eines gesunden Schafbocks. Auf das üppige Mahl eines Leberlappens. Die heimeligen Krümmungen des Gallengangs. Das Leben ist schön.

Ich bin der erste, der sein lautes Määh! über die stille Weide blökt und dann zu mähen beginnt. Ich weide die frischesten Huflattichtriebe ab und die jüngsten Sauerampfer und ich schlucke als erster die neuen Cercarien. Manchmal frage ich mich, ob die dummen Schafe der Herde über die Mitessenden in unseren Eingeweiden wissen. Sicher haben sie die Kleinstlebewesen nie bemerkt, die an ihren Hufen kleben, sobald sie die Tränke verlassen. Sie rupfen am Gras rund um die Pfützen und rülpsen.
Manchmal streift mein Blick über die wolligen Gestalten meiner Herde, doch ich bin nicht angewidert. Verschwitzte Haarbüschel verfangen sich in den Drahtschlaufen des Zauns, der die Weide einfriedet. Der Morgentau wäscht sie aus und die Mittagssonne bleicht sie, doch ihren Geruch verlieren sie nicht. Sobald ich das Feld betrete, schnuppere ich nach dem Hauch alter Schafwolle.
Denn ich weiß es: Wir sind die Weide; die Schafe, das Labkraut, die Schnecken, die Leberegel und Tau und Nebel.

Johannes Milchram
Geb. 1989 in Neunkirchen, lebt und arbeitet in Wien. Studiert vergleichende Literaturwissenschaft an der Uni. Wien und ist seit 2010
Teilnehmer am “offenen Schreibkreis Acht Uhr” im Literaturhaus Wien.

Erschienen im etcetera Nr 53/ LitArena 6 / Oktober 2013 mehr...