Buch

Anna Herzig: 12 Grad unter Null

Cornelia Stahl

Anna Herzig:
12 Grad unter Null.

Roman.
Innsbruck: Haymon Verlag,
2023. 142 Seiten
ISBN 978-3-7099-8192-4

„Frauenschuldenliste“ - ein fiktives Wort aus der Neuerscheinung von der 1987 geb. Anna Herzig könnte als Unwort des Jahres 2023 nominiert werden.
Was es damit auf sich hat, erzählt Herzig in „12 Grad unter Null“, in dem der fiktive Ort Sandburg eine tragende Rolle spielt und durch einen Gesetzesentwurf, der ab 2024 in Kraft treten soll, in die Schlagzeilen gerät. Dieser besagt, dass Männer das in weibliche Angehörige investierte Geld zurückfordern können. Wenn Frauen dieser Rückforderung nicht nachkommen, „wird ein permanenter Eintrag in die öffentliche Frauenschuldenliste (…) erfolgen“, S.13. Mit verheerenden Konsequenzen, denn er untersagt Frauen zum Beispiel „einen Miet-/Kaufvertrag abzuschließen, ein Bankkonto zu eröffnen oder die Scheidung einzureichen“, S.13/14.
Kein Wunder also, dass die schwangere Greta plötzlich wenig Grund zur Freude verspürt, da ihr Mann und Kindesvater, Geld von ihr zurückverlangt.
Der Roman liest sich zum Teil als Rückblende in der Geschichte, in der Frauen ohne Rechte waren und somit vom Ehemann abhängig. Herzig überzieht bewusst sprachlich in ihrer Erzählweise und spiegelt damit aktuelle gesellschaftliche Phänomene, wie die zunehmenden Femizide der zurückliegenden Jahre. In einer zweiten Ebene wird die Geschichte zwischen zwei ungleichen Schwestern, Greta und Elisa, erzählt. Die zweite wird vom Vater geliebt. Greta und ihre Mutter jedoch misshandelt von ihm verachtet. Am Ende sucht Greta bei ihrer Schwester Elisa Rat und Abhilfe.
Die im Roman beängstigenden Zustände rütteln auf und erzeugen Wut und (weiblichen) Widerstandsgeist, der die im Text geschilderte Dystopie verhindern möchten. Gesten des Widerstandes markiert Herzig am Romanende: „Sie wehren sich“, antwortete Elise (…) während sie Frauen dabei zusah, wie sie begannen (…) jedes Plakat abzureißen“, S.139.
Ein aufrüttelnder Roman, den ich Männern und Frauen gleichermaßen empfehle.

Dieter Lamping: Kafka und die Folgen

Eva Riebler

Dieter Lamping:
Kafka und die Folgen

J. B. Metzler Verlag/
Springer Verlag
2017, 184 Seiten
ISBN 978-3476026538

Dieter Lamping ist ein profunder Kafka-Kenner, gab er doch bereits 1998 den Band: Von Kafka bis Celan. Jüdischer Diskurs i. d. dt. Lit. d. 20. Jhdt. sowie 2007/2008 in Zusammenarbeit mit Sandra Poppe: Franz Kafka.
Gesammelte Werke heraus. Er widmet sich dem von Max Brod herausgegeben Nachlass, den Briefen, Schriften und Tagebüchern. Er stellt die Frage der Anständigkeit, Werke herauszugeben, die für die Vernichtung bestimmt waren und führt dokumentarisch an, dass Max Brod bereits 1921 (3 Jahre vor Kafkas Tod) versichert hatte, dies nicht zu tun.
Der erste Roman, den er herausbrachte, „Der Prozess”, vollendete den Ruhm Kafkas. Lamping beschäftigte sich auch mit der interessanten Rezeption bei Albert Camus, der Kafka als existentiellen Denker klassifizierte, Elias Canetti oder Herman Broch sowie Walter Muschg, der in Kafka den Meister der kleinen Form sah. Wir stimmen mit Muschg überein, der in seinen Erzählungen „die größte Konzentration, die größere sprachliche Könnerschaft, die größere Geschlossenheit”… sah.
Kafka war ein skeptischer Mensch, der sogar mit dem „Heizer“ unzufrieden war. Er nannte letztere eine „glatte Dickens-Nachahmung“. Lamping schildert Kafka als dermaßen zurückhaltende Person, die von ihrem sozialen Unbehagen und ihrer existentiellen Spannung, die manchmal in Verzweiflung, nicht selten auch in Bosheit sich fortsetzte (S. 102), nicht viel nach außen dringen ließ. Er zitiert Brod zum Äußeren, zum Gehabe und zum Eigensinn Kafkas, unter dem seine erste Verlobte Felice Bauer wohl am meisten zu leiden hatte.
Lamping beschäftigt sich intensiv mit der Literatur über Kafka und der Imagination der Person neben dem poetischen Werk. Er zeigt den letzten großen jiddischen Vertreter der Literatur (den Kafka so verehrte) – den Nobelpreisträger Isaac Bashevis Singer – als Ablehnenden in der künstlerischen Gefolgschaft Kafkas. Trotzdem sieht Lampert in Kafka eine wegweisende Figur der Moderne, deren Ausstrahlung weit über die Literatur hinausgeht.
Ein tolles Buch der Kafka-Rezeption!

Josef Enz: Frottage

Eva Riebler

Josef Enz:
Frottage

Eigenverlag, Klagenfurt
2023, 226 Seiten

2022 gab Josef Enz meine Lieblingswerke, die Aphorismensammlung mit Zeichnungen: CAPUT:Kopf sowie den Band KUNST STURZ: Enchiridion der Kunstbetrachtung heraus. Und wie er selber sagt: Hat die Kunstform der Handzeichnung und ein Aphorismus eine bemerkenswerte Gemeinsamkeit – Kein Strich, kein Wort ist zu viel, treffsicher, konzise, nicht genauigkeitsabhängig, dafür aber frei im Geist und in der Phantasie.
Wort und Tun gehören zusammen. Beide Medien wirken nicht ermüdend; es zeigt sich die rasante Gestaltung. Es gibt keine Patina, sondern Allzeitgültiges.
Z.B.: KUNST STURZ (nur! auf S. 47): „Kunst verklemmt sich im Können.”, „Vulgäre Kunst zeigt alles.”, „Kunstgenuss weiß mehr, als sie ahnen kann.”, „Kunst wird durch Reden pasteurisiert.”, „Was der Kunst unerreichbar ist, ist der Wirklichkeit nur natürlich.”
Sein letztes Oeuvre zeigt wiederum seine Neigung zu überraschen, seine Gedanken Haken schlagen zu lassen. Und das ist wahrhaft das „KAFKAESKE“ an seinen Aphorismen.
Seine kurzen Aussagen sind treffend und prägnant. Frottage ist sowohl eine zeichnerische Methode wie eine traditionelle Drucktechnik. Ein Bildnis entsteht durch Abreibung spontan und präzise. Zufälle von Holzmaserung oder Astlöchern setzt Josef Enz kalkuliert ein. Vorwiegend sucht er archaische Figuren, groteske oder mythische, als Motive und fragt: Was kann/darf Kunst sein? Haben Tiere oder Metaphysik in ihr Platz?
Zur metaphysischen Kunst sagt er z. B. Folgendes: Wenn der Kunst die metaphysische Feder bricht, läuft sie irr und leer. Oder: Die eindringlichste Kunstbetrachtung steht vor der metaphysischen Mauer.
Jedenfalls gilt: „Kunst ist Verunklärung traumhafter Deutlichkeit.”
Drei unglaublich intelligente, sprühende Werke, die betrüblicherweise im Handel nicht erhältlich sind! Eventuell online bestellen (www.mail@josef-enz.at), damit die Werke nun in Verlagen herausgegeben werden!

Franz Kafka: Ein Landarzt, Illustr. Kat Menschik

Eva Riebler

Franz Kafka:
Ein Landarzt.

Illustration von Kat Menschik
Galiani Berlin 2016
Kiepenheuer & Witsch.
3. Aufl. 2020
ISBN 978-3-86971-132-4

14 Erzählungen Kafkas, wie: Der neue Advokat, Ein Landarzt, Auf der Galerie, Ein altes Blatt, Vor dem Gesetz, Schakale und Araber, Ein Besuch im Bergwerk usw. – also auch durchaus Unbekanntes – ausgestattet mit jeweils 1-2 farbigen Illustrationen, sind es wert, gelesen zu werden. Sich malerisch an Kafka heranzuwagen, zeugt von großem Selbstvertrauen, noch dazu mit großem Selbstvertrauen an einen, der weder sich selbst noch jemand anderem vertraute.
Vor allem verwehrte sich ja Kafka vehement, auf oder in dem Band „Die Verwandlung” Gregor Samsa als Käfer abzubilden. Ein vorhandenes Abbild ist eindimensional, die Gedanken jedoch sind kreativer tätig.
Die Zeichnungen zu den „Elf Söhnen” sind winzig und skurril bis lachhaft. Auch Kafka lachte immer wieder, wenn er selber seine Texte zum Besten gab.
Die Malereien sind seitenfüllend, sehr bewegt und meist realistisch. Der Schakal wie der Araber z. B. blicken den Leser direkt an. So auch bei der Erzählung: Ein Landarzt, es schauen der kranke Junge mit vielen, vielen Maden und das unirdische Pferd realistisch hervor – kafkaesk also!
Menschik, wohnhaft in Berlin, ist eine ernsthafte Illustratorin, die sich die Motive und Malarten, Satz und Layout sehr wohl überlegt. 2014 wurde ihr gestaltetes Gartenbuch Der Goldene Grubber unter die schönsten Bücher des Jahres gewählt. Sie scheut vor keinen großen Autoren zurück, denn zeitgleich kam 2016 Shakespeares Romeo und Julia in ihrer Gestaltung heraus.
In diesem Sammelband kommt eine interessante Darstellung zur Geschichte vom Odradek vor, dem spulenartigen Wesen, dem nicht mal Kafka die Wortbedeutung nachweisen konnte. Das Wesen, einem Hausgeist ähnlich, steht – meine ich – schlicht für Kafka, für seine Art Beobachter zu sein oder zu lachen, „wie man es ohne Lungen hervorbringen kann. Es klingt etwa so, wie das Rascheln in gefallenen Blättern.” (S. 66)
Ein außergewöhnliches Werk mit einer geglückten Illustration als zweite Ebene!

Jan-Eike Hornauer: Das Objekt ist beschädigt

Eva Riebler

Jan-Eike Hornauer:
Das Objekt ist beschädigt

Komische Gedichte.
München, Muc Verlag,
1. Aufl. 2016, 207 Seiten
ISBN 978-3-9815181-5-3

Ein leidenschaftlicher Textzüchter (siehe www.textzuechterei.de), studierte Germanistik und Soziologie in Würzburg und lebt als Autor, Lektor und Herausgeber in München, der sich eher eine Zigarette in den Mund als ein Blatt vor den Mund nimmt. In sechs Kapiteln von Liebe & Frauen, Menschliches & Zwischenmenschliches, Kunst & Dichtung, Philosophisches & Politisches, Tierisches & Alltägliches und Fuß & Ball gibt er seine Gedanken kund. Und dies natürlich unverfroren ehrlich und unverhältnismäßig direkt. Er lässt den Leser teilhaben an seinen intimsten Gedanken und vielleicht auch pikanten Situationen. In unverwechselbarem Ton greift er jede Seite ein neues Thema auf und schwankt Möglichkeiten und Unmöglichem.
Gerade das ist an Hornauer so zu bewundern, dass er meist Denkprozesse offen lässt und selten die deterministische Ader spielen lässt. Sein pädagogischer Nutzen erscheint dadurch vielleicht zu gering, ist jedoch umso wertvoller, je gehöriger die eindeutige Aussage wackelt.
Denn das Leben ist nie eindeutig.
Berührend, klar und eindeutig hingegen sind die Zeilen S. 102 über August Stramm, anlässlich seines 100. Todestages 2015. „ … Ungelebt gestorben / auf gleich mehrere Arten // Zerschossene Träume / auf verdrecktem Papier / gemahnen / doch schweigend // Und überall Tod.” Einfach köstlich und frech sind seine Gedichte zu Hölderlin, F. Hebbels „Sommerbild“ oder Rainer Maria Rilkes „Advent“ (…„ Es strebt mit sein und allen Sinnen / die Tanne hin zum Ehrentod …“
Hornauer deckt Inhaltsleere auf und fragt als Dichter S. 115 mal nach: Warum nicht ein winziges Fleckchen ihm und seinen Dichter-Kollegen im Land der Dichter und Denker gehöre. Dies Eckchen sei ihm vergönnt und seinem Band eine 2. Auflage gewünscht! Seine Zeilen sind jeweils so philosophisch bereichernd, stets lustvoll virtuos und manchmal bleibt einem das Lachen im Halse stecken!