Buch

Sarah Elena Müller: Bild ohne Mädchen

Cornelia Stahl

Sarah Elena Müller:
Bild ohne Mädchen.

Roman
208 Seiten. Zürich:
Limmat Verlag, 2023
ISBN: 978-3-03926-051-5

Vom Ausloten der Freiheit: „Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar“. Ingeborg Bachmanns Zitat wird zum Motto in Sarah Elena Müllers Roman „Bild ohne Mädchen“. Darin begibt sich die Autorin literarisch auf Spurensuche von Wahrheit und Erleben im Kontext der Rekonstruktion zurückliegender Ereignisse eines Mädchens.
Das Kind wächst inmitten einer ganz normalen Familie auf. Scheinbar. Die Mutter ist Künstlerin, der Vater Biologe und Forscher. Beide leben zurückgezogen und sind in ihrer eigenen Welt gefangen. Das Mädchen ahmt das Verhalten der Erwachsenen nach und wird selbst zur Außenseiterin. Meist verbringt es viel Zeit allein und ist sich selbst überlassen. Im Elternhaus ist fernsehen tabu, aber bei Ege, dem Nachbarn, einem angesehenen Medienprofessor, darf es unzensiert und grenzenlos in die Glotze schauen. Manchmal übernimmt es auch eine Rolle in Eges Filmchen, die er in einem Hinterzimmer seiner Wohnung dreht. Was genau auf den Videobändern abgebildet ist, will die Mutter viele Jahre später wissen und versucht, die zurückliegende Ereignisse ihrer Tochter zu rekonstruieren: Die Augen der Mutter blicken durch die Augen der Tochter, S.196. Als sie Ege zur Rede stellt, verstummt er, „spitzt
die Lippen (…) kann sich nicht erinnern“, S. 198.
Im atmosphärisch aufgeladenen Roman nähert sich Müller mit sprachlichen Mitteln dem Tabuthema Kindesmissbrauch an und fragt im Subtext danach, wie viel Freiheit in der Erziehung von Heranwachsenden möglich ist und wie viel Grenzen notwendig sind. Darüber hinaus lotet sie den Radius zwischen Wahrnehmung und Wahrheit aus.
Sarah Elena Müller, geboren 1990, ist Autorin und Musikerin. Ihr Roman „Bild ohne Mädchen“ erhielt folgende Auszeichnungen: Literaturpreis des Kantons Bern 2023, Förderpreis Kanton St. Gallen und wurde 2023 für den Schweizer Buchpreis nominiert. Bisherige Veröffentlichungen: Fucking God, 2015 im Verlag Büro für Problem.

Hollie Hughs/Sarah Massini (Ill.): Lena und der Dinosaurier

Eva Riebler

Hollie Hughs/Sarah Massini (Ill.):
Lena und der Dinosaurier

Midas 2023, 32 Seiten
ISBN:978-3-03876-277-5

Das Kinderzimmer verlassen und auf Reisen gehen! Ja, welches Kind möchte nicht seine Träume Wirklichkeit werden lasssen und vielleicht einen Dinosaurier ausgraben?
Lena wohnt zufällig am Meer und ihr Lieblingsplatz ist der goldene Sandstrand. Ihr größter Wunsch ist es, hier fündig zu werden.
Mit viel Geduld buddelt sie Knochen um Knochen eines Skeletts aus. Sie nennt es Ozzy. Und mit diesem netten Saurier kann sie des nachts ihr Kinderzimmer verlassen und auf Traumreisen gehen.
Auch die Luft ist voller Träume. Die Wolken verbergen etwas. Und wenn sie sich teilen, sieht man alles Mögliche, z. B. eine magische Insel.
Die Welt ist voller tag- und Nachtträume. Man muss nur die Geduld haben, sie zu verfolgen. Der Reichtum der Kinder ist das sich Versetzen in solche Welten. Nicht nur jedem Kind, sondern auch jedem erwachsenen Leser gehen die phantastischen Bilder von Sarah Massini zu Herzen. In ganz besonders liebevoller Weise hat sie Traumwelten erschaffen. Hände, Augen des Kindes oder des Sauriers malt sie so behutsam und zieht die Blicke zum magischen Geschehen. In ihren mit Wasserfarben gemalten Bildern herrscht Leben und Treiben, an dem sich Groß und Klein satt sehen kann. Immer wieder sind ganz kleine Details zu beobachten, die die Freude und Fabulierlust der Malerin zeigen.
Text und Bild müssen gemeinsam entstanden sein, denn eines ist ohne das andere nicht denkbar. Oder hat doch die Geschichte erst so viele bunte Eindrücke hervorgebracht?
So gelangen erwachsene Leser auch in den Genuss, Eindrücke zu sammeln, die normalerweise nur in Kinderträumen stattfinden und von den kleinen Träumenden vor den Erwachsenen geheim gehalten werden.
Gut, dass dieses Werk aus 2019 dank des Midas-Verlages aus London in einer deutschen Fassung zu uns fand!
Wundervoll!

Uwe-Michael Gutzschhahn: Der Name des Glücks

Gerald Jatzek

Uwe-Michael Gutzschhahn:
Der Name des Glücks

Bildervon Manfred Schlüter,
Elif Verlag, Nettetal 2023,
90 Seiten
ISBN: 978-3-946989-76-9

Sprachspaß: Uwe-Michael Gutzschhahn findet neben seinen Tätigkeiten als freier Lektor, Übersetzer und Herausgeber für Verlage wie Reclam, Hanser und dtv erstaunlicherweise immer wieder Zeit fürs Verfassen von Gedichten. Sein bereits vierter Band mit Kinderlyrik ist in fünf Teile gegliedert, doch sind diese keineswegs so streng getrennt wie in Schulbüchern.
Im Abschnitt Nacht findet sich etwa eine gereimte Weltraumgeschichte, und bei den Herzgedichten ist nicht nur Gefühl angesagt; es wird auch ausgiebig geblödelt. Die Wesen in diesen Texten kommen manchmal vor allem durch einen Reim zusammen, weshalb der Hahn sich statt in eine Henne in einen Schwan verliebt.
Tatsächlich laut ist es hingegen bei den Lärmgeschichten, wo gleich ein ganzes Hundrudel über drei Seiten hinweg bellt. Kurz darauf folgt eine ebenfalls lautstarke Schimpflitanei mit Begriffen wie „jodeljuckende Joghurtjacke“ und „klapperköpfiger Knallköter“. Man kann nur hoffen, dass keine beamteten Bodyshamingverhinderungsbeauftragten auf den Plan treten, die an der „pummelpiratigen Pudelpfanne“ Anstoß nehmen. Lehrkräfte können hingegen mit der Suche nach weiteren skurrilen Schimpfwörtern eine Hausaufgabe geben, bei der die Beschäftigung mit Sprache Spaß macht.
Witzige Österreichbezüge tauchen gegen Ende des Bandes auf. Links entsteht ein Wortgetüm aus einer Schneekugel, dem Inbegriff des Andenkenkitsches, der bekanntlich in Wien erfunden wurde. Und auf der gegenüberliegenden Seite geht es um ein staubiges Zimmer mit Wollmäusen. Die würde aber hierzulande bekanntlich der Lurch fressen.
In einem Interview hat Gutzschhahn einmal gesagt, dass am Anfang seiner Gedichte Bilder stehen. Schlüter geht für diesen Band den umgekehrten Weg: Er steuert zu den Texten wunderbare, eigenständige, ganzseitige farbige Interpretationen bei.

Kerstin Fischer: Spiegelglut

Cornelia Stahl

Kerstin Fischer:
Spiegelglut.

Gedichte
Oberhausen: ATHENA Verlag,
Edition Exemplum
2023, 126 Seiten.
ISBN: 978-3-745511475

Farbig feurige Verse: „Fluchtendes Kontinuum“, ein feuerrotes Cover mit dem Bild der Salzburger Künstlerin Christine Pott-Schlager leuchtet uns auf dem vorliegenden Gedichtbandes „Spiegelglut“ entgegen und verweist auf den Inhalt: Auf die expressiven, feurigen und mitunter sinnlichen Verse, die Kerstin Fischer in ihrem neuen Gedichtband versammelt.
Unterteilt hat sie ihn in fünf Abschnitte und beginnt mit dem Kapitel: „Ein Ahnen von Mauerseglern“. Schon das Eingangsgedicht Am Fenster markiert den Sprachduktus der Autorin: ein mit Formen, Farben, Sinneseindrücke und (Sprach)bildern genährter Text:

Über dem Tag Sonnenlicht aus Blei.
Die Küche, eine Scherbe mit dicken Lippen (…)
Am salzigen Rand des Weges liegt ein schmutziger Hut.

Etwas Undefinierbares, nicht Greifbares, bleibt in der Schwebe. Unausgesprochen lauert es über den Dächern wie Mauersegler (in der Kapitelüberschrift), und spiegelt sich bereits in den Titel gebenden Überschriften der Gedichte, wie das folgende Beispiel zeigt (S.17):

Schattenkinder. Schwerelos
Die Schleife um mein Haus. Ultramarin.
Ich löse ihre Lizenz und sammle
gefrorene Schmetterlinge von den Stufen.

Die Autorin greift in ihrer Lyrik Daseinsmomente wie Leben und Tod auf. Sie thematisiert Momente zwischenmenschlicher Beziehungen sowie Leerstellen, die das Schweigen hervorbringt. Ihre Sprache bleibt vielschichtig und lässt Mehrfachdeutungen zu.
Kerstin Fischer, geboren 1965, studierte Germanistik und Geschichte an der Universität Bremen. Sie lebt als Schriftstellerin, Lyrikerin, Malerin in ihrem Lyrikatelier. Zahlreiche Veröffentlichungen, u.a.: etcetera. Zwischenzeit, Oktober 2020.

Ana Marwan: Verpuppt

Florian Müller

Ana Marwan:
Verpuppt

Aus dem Slowenischen
übersetzt von Klaus D. Olof
Salzburg - Wien: Otto Müller
Verlag 2023, 217 Seiten
ISBN 978-3-7013-1302-0

Irrenhaus oder Ministerium? Es ist der zweite Roman der in Slowenien geboren und aufgewachsenen Autorin, die in Ljublijana Vergleichende Literaturwissenschaft studiert hat und seit ihrem Romanistik-Studium in Wien lebt und arbeitet. Und es ist ihr erster Roman als Ingeborg-Bachmann-Preisträgerin, die „Oh, Ingeborg!“, natürlich im Buch Erwähnung findet.
Den renommierten Preis hatte sie 2022 mit ihrem Text „Wechselkröte“ gewonnen. Und bleiben wir gleich bei Ingeborg Bachmann: Die Fiktion ist dem Menschen zumutbar.
Denn in Anna Marvans Roman „Verpuppt“ sind die Grenzen nicht so klar gesteckt und das erweist sich als reizvolles Spiel. Gehen wir mit einer Alltagsperspektive in den Roman hinein, gehen wir vielleicht davon aus, dass sich die Haupt-Protagonist:innen Rita und Jež sowie Nebenfiguren wie Frau Klammer, Frau Lah oder Lidija Šmit frei in einer Gesellschaft bewegen. Doch nach und nach kommen Zweifel auf. Befindet sich diese Illustre Gesellschaft tatsächlich im Verkehrsministerium in der Abteilung für Raumfahrt oder ist es doch eine Irrenanstalt?
Wer spricht in den inneren Monologen zu uns? Ist es Rita? Sind das ihre therapeutischen Gespräche?
Ähnlich wie in ihrem Erstlingsroman „Der Kreis des Weberknechts“ (2019) steht die Beziehung zwischen einer Frau und einem Mann im Zentrum. Eine gesunde und berechtigte Skepsis zur derzeit vielzitierten „normalen“ Gesellschaft wohnt ihnen inne. „Gestörte ins Theater zu begleiten ist eine mindestens so gute Tat wie Lammfleisch zu essen, das von einem Flüchtling zubereitet wurde“, lässt das Buch auch die so genannte Gutmenschengesellschaft nicht ohne Kritik. Ana Marwan, Chefredakteurin der Zeitschrift „Literatur und Kritik“, schreibt ihre Kurzgeschichten, Gedichte und Romane auf Deutsch und Slowenisch. Den 2021 auf Slowenisch erschienen Roman übersetzte Klaus Detlef Olof. Diese ist offensichtlich gelungen, weil sie die sprachliche Brillanz des Textes wiedergibt.