Ingrid Reichel: Gedanken zur Quarantäne in der Quarantäne

Gedanken zur Quarantäne in der Quarantäne

Einen Weg zur Verlangsamung der Verbreitung des Corona-Virus bietet mir persönlich in der Quarantäne die Beschäftigung mit der Phonetik des Wortes <Quarantäne>. Manche mögen es geistige Onanie nennen, aber nein, mir ist nicht fad im Schädel, ganz und gar nicht. Es herrscht nämlich nicht nur Irritation über das Geschlecht des Wortes <Virus>, ob es denn nun maskulin oder neutral sei, sondern auch über die Aussprache von <Quarantäne>.

Es scheint unsere Gesellschaft stößt nicht nur im Gesundheitswesen an ihre Grenzen, sondern auch im linguistischen Bereich. Jede Epoche, jede Periode bringt Wörter hervor oder aus gegebenem Anlass verwendet bevorzugt bestimmte Wörter. So haben wir es seit Corvid-19 gehäuft mit Lexemen wie <Virus> und <Quarantäne> zu tun, wobei zugegebener Maßen <Quarantäne> in den letzten Dekaden eher seltener in Erscheinung trat, <Virus> dagegen sehr häufig, jedes Jahr zur Grippewelle nämlich. Und dennoch sind wir uns über das Geschlecht des Wortes <Virus> nicht einig, die einen sagen /das Virus/, die anderen /der Virus/. Laut Duden sind mittlerweile beide korrekt, wir wissen, die Sprache ist stetig im Wandel, das Lexikon passt sich der Mehrheit der Sprechenden an. Kurzum, das Wörterbuch zeigt die nach allen Regeln der Grammatik und Etymologie korrekte Version an, das Wörterbuch passt sich aber auch der Sprachentwicklung an und fügt die sich im Sprachgebrauch zugetragenen Veränderungen hinzu. Wörter veralten, verschwinden, sterben, und Wörter werden erfunden, geboren und reifen in ihrer lexikalischen Bedeutung heran. Die Sprechenden formen und modellieren sie, inhaltlich, orthographisch und phonetisch. Der Ursprung und die Wandlung des Wortes werden in seiner etymologischen Geschichte archiviert.

Das oder der Virus?

Das Wort <Virus> kommt aus dem Lateinischen und hatte mehrere Bedeutungen wie Schleim, Saft und sogar Gift. Man musste also schon aufpassen, wenn man es zur Zeit der Römer einsetzte, schnell konnte der gereichte Saft sich zu einem Schierlingsbecher aus der griechischen Antike verwandeln. Aber die Römer waren ein strukturiertes Volk, demzufolge hatten sie eine strukturierte Sprache. Alle Dinge waren sächlich, neutral, ist doch einfach, also DAS Virus. Durch die Ausbreitung des Römischen Reiches verfiel auch ihre Sprache zunehmend, es entstand das Vulgärlatein, wie man es nennt, aus diesem von römischen Soldaten mündlich überlieferten Latein entstanden die romanischen Sprachen: Italienisch, Spanisch, Portugiesisch, Rumänisch und Französisch, letzteres entfernte sich am meisten von seiner Ursprungssprache. Auch in der germanischen Sprache verankerten sich lateinische Wurzeln, stammen wir doch alle von dem fränkischen König Karl dem Großen ab, Carolus Magnus wie die Lateingebildeten, Charlemagne wie die Franzosen und Französinnen ihn nennen. Im Laufe der Geschichte fanden die Sprechenden der deutschen Sprache jedoch, dass das Virus eher männlich klingt oder sich mit dem Schleim, dem Gift, dem Saft, eben in die Kategorie der maskulinen Substantive einzufügen hat. Und die meisten der romanischen Sprachen haben aus Bequemlichkeit, sag ich jetzt mal, das ganze Getue um das Geschlecht vereinfacht und es auf männlich und weiblich, maskulin und feminin reduziert. Aus, Schluss, basta! Wo gibt es denn ein sächliches Geschlecht, wo kommen wir denn da hin. Ist doch logisch. Die Mehrheit geht immer einer einfachen Logik nach. So verbreitete sich das Virus exponentiell in kürzester Zeit zu dem Virus, auch in den romanischen Sprachen zu einem Maskulinum. Die NaturwissenschaftlerInnen, die ForscherInnen, die Menschen also, die die Entwicklung unseres Daseins vorantreiben, für unsere Zukunft sorgen, blieben jedoch bei der etymologischen Wurzel haften, sie sagen und schreiben /das Virus/. Natürlich könnte man jetzt von einer Bildungssache sprechen, die Gebildeten wissen es eben besser, während das gemeine Volk von etwas spricht, von dem es nichts versteht. Aber in der Linguistik gibt es kein richtig oder falsch. Denn die Mehrheit bestimmt was richtig ist, auch wenn es noch so falsch ist. Dann spricht man vom Sprachwandel, der sich zwischen konservativen und innovativen Strukturen, zwischen Aufbau und Verfall der Sprache abspielt. Hierbei stehen zwei Kräfte im ewigen Wettstreit, die unseres Bequemlichkeitstriebs und jene unseres Deutlichkeitstriebs (Georg von der Gabelentz, 1901: 256)[1], so wollen wir einerseits schnell, ergo ökonomisch, andererseits aber auch deutlich und verständlich sprechen. Dabei geht es aber nicht immer um einen lautgesetzlichen Wandel oder um einen analogen Wandel, manchmal geht es einfach um eine mehr oder weniger kurzweilige Modeerscheinung, die sich in den letzten Jahren auch durch die sozialen Netzwerke und nicht nur durch die klassischen Medien ausbreiten.

Gestern beispielsweise whatsappte mir eine Freundin: „Die Typen die „kwarantäne“ sagen, reg‘n mi‘ scho‘ auf… kommt aus dem Französischen und man sagt ja auch nicht „kweu“ oder „kwiche“. Kann das bitte irgendwer mal klarstellen im ORF und anderen Sendern?“

Nun, ich gebe zu, ich gehöre zu den Anhängern der /Kwarantäne/, und nicht zu der Gruppe der /Karantäne/-Fans, also habe ich im Duden online und Buchform (24. Aufl., Band 1, 2006) sowie im online Wörterbuch Pons nachgeschlagen, wo ausnahmslos folgende Phonetik für die deutsche Sprache vorgeschlagen wird: [karanˈtɛːnə]. Meine Freundin hätte somit also recht, sich aufzuregen.

[karanˈtɛːnə] oder [kwaranˈtɛːnə]?

Um diese Frage zu beantworten, muss ich etwas ausholen. Das Wort besagt selbst, dass es seine Wurzeln aus dem Latein hat: /quadraginta/ in der Bedeutung von /vierzig/, daraus leitete der Bequemlichkeitstrieb der damaligen Bevölkerung die Verkürzte ökonomischere Form /quarranta/ im Vulgärlatein ab, so belegt es mein Etymologisches Wörterbuch des Deutschen (Hrsg. Wolfgang Pfeifer. dtv, 1995, 6. Aufl. 2003: 1066). Natürlich gibt es keinen phonetischen Beleg aus dem Lateinischen. Latein war lange Zeit bis ins 19. Jh. Schriftsprache, die Gelehrten Sprache, Wissenschaftssprache und Lingua Franca. Gesprochenes Latein, das Vulgärlatein, hatte dagegen viele Variationen. Italienisch scheint die Sprache zu sein, die dem Latein phonetisch am nächsten verbunden blieb. Bis heute sagen die Italiener /quaranta/ [kuaˈranta] zu /vierzig/, die Portugiesen /quarenta/ [kwɜˈrẽtɜ], die Spanier /cuarenta/ [kwaˈren̩ta] oder [kŭaˈrenta], die Franzosen verloren im Altfranzösisch (9. bis etwa 14. Jh.) aus besonderem Bequemlichkeitstrieb, wie ich vermute, gar das /u/ und machten aus dem Wort ein /carante/, ein phonetisches [kaʀɑ͂t]. Später besann man sich wieder der Wurzeln und änderte die Orthographie auf /quarante/ um, im Mündlichen blieb jedoch das /k/ erhalten, das schriftliche /qu/ blieb ein phonetisches [k]. Als der französische König François 1er 1539 in seinem Edikt von Villers-Cotterêts Französisch als alleinige Amtssprache festlegte, hatte Französisch kaum eigenes Vokabular, um über Musik, Kunst und anderes zu sprechen, Italienisch war da schon weiterentwickelt, und die Franzosen bedienten sich der italienischen Sprache, viele italienische Lehnwörter stammen aus dieser Zeit. Das Wort Quarantäne bedeutet: ein Zeitraum von 40 Tagen. Schon Hippokrates beobachtete, dass eine akute ansteckende Krankheit von ihrem Beginn bis zu ihrem Abklingen 40 Tagen dauert. Es waren die Italiener, die im 14. Jh. als erste das Wort /quaranta/ vierzig als sanitäre Isolation einführten. Die mit der Schifffahrt sehr vertrauten Italiener setzten in Häfen ganze Schiffe unter Quarantäne, um sich vor eventuellen Epidemien durch verseuchte Passagiere zu schützen. Erst 1635, weiß Daniel Gonzalez in seinem Artikel über die Quarantäne in der online Zeitung Le Nouvelliste[2] zu berichten, benutzten auch die Franzosen das Wort in diesem Sinne. Die /quarantaine/ wurde im Französischen bis dato nur im Sinne der Fastenzeit verwendet. In der Alltagssprache verwendet man es vor allem, um eine Anzahl von 40 auszudrücken. Die französische Presse verwendet bezüglich des Corvid-19 kaum das Wort /quarantaine/, da es hierbei um eine gesetzlich verpflichtete strikte Isolation geht. Der französische Präsident Emmanuel Macron wählte in seiner „sanitären Kriegsrede“ (Nous sommes en guerre sanitaire) gegen den Corona-Virus an das französische Volk vorletzten Sonntag das Wort /confinement/, welches ein Synonym von Quarantäne ist, aber wohl eine psychologische Abschwächung darstellt. Bei uns sprach Bundeskanzler Sebastian Kurz ja auch von einer freiwilligen Isolation. Das Wort Quarantäne wird überdies von Politikern in dieser schwierigen Zeit gemieden. Achten Sie darauf! Das Wort beherbergt etwas Endgültiges, Definitives. Politiker scheuen das Wort auszusprechen, da ist dann Schluss mit in den Supermarkt einkaufen gehen, dann ist tatsächlich Ausgangssperre.

Zurück zu unserem phonetischen Problem kommend, möchte ich feststellen, dass etymologisch gesehen, die herkömmliche italienische Aussprache des Wortes /quarantena/ [kuaranˈtɛ:na] ist. Ich selbst bin mit dieser Aussprache aufgewachsen. Zudem ist in der deutschen Sprache das Lautgesetz, /qu/ als [kv] auszusprechen, verankert. Deshalb sprechen wir Wörter wie diese folgendermaßen aus: /Qualität/ als [kvaliˈtɛ:t], /Quantiät/ als [kvantiˈtɛ:t], /Quantum/ als [ˈkvantʊm], /Quartett/ als [kvarˈtɛt], /Querele/ als [kveˈre:lə] und viele andere mehr. Aber auch Wörter, die nicht aus dem Lateinischen kommen, dessen Anfangssilbe mit einem /qu/ beginnen, wie /Quark/, /Quacksalber/, /Qualle/, /quatschen/, /quietschen/ etc. sprechen wir mit einem [kv] aus. Warum sollte es sich also bei /Quarantäne/ anders verhalten?

Zurück zu meiner Freundin mit den Einwänden /Queue/ und /Quiche/. Beide sind Lehnwörter aus dem Französischen und wurden nicht germanisiert. Daher sprechen wir sie auch nach den französischen lautregeln aus [kø] und [kiʃ]. So einfach ist das… der Unterschied zwischen Erb- und Lehnwörtern. Aber es wird der Tag kommen, an dem jemand /Kö/ und /Kisch/ schreiben wird, oder jemand wird [kvˈɔɪlə] und [kviçə] sagen und gesellschaftsfähig machen. Beispiele hierfür gäbe es schon genug. Aber das ein andermal.

Analyse

Ich gestehe, ich weiß es nicht, warum viele Menschen sich neuerdings besinnen, [karanˈtɛ:nə] zu sagen und warum es in unseren Wörterbüchern schon länger so steht. Vielleicht hängt es damit zusammen, dass manche sich plötzlich an die alte Sprache der Diplomatie besinnen, welche das Französisch ab dem 18. Jh. ja war, und erst ab der Mitte des 20. Jh. durch die englische Sprache abgelöst wurde. Vielleicht sind wir auch seit Trump und Johnsons Brexit etwas frankophiler geworden. Wer weiß, vielleicht hilft dieser winzige Virus, die Corona Magna, der französischen Sprache zu einem Wiederaufleben, einem sogenannten Revival - einem /revivre/, /revivere/ - einem Comeback, einer Rückkehr, einem /retour/. Macron, der neue Sonnenkönig, würde sich freuen! Vive la France, la couronne et la quarantaine!

Ingrid Reichel, am 27.03.2020

 

[1] Andere Quellen sind u.a.: https://apps.atilf.fr/lecteurFEW/index.php/page/lire/e/205768

[2] https://www.lenouvelliste.ch/dossiers/coronavirus/articles/coronavirus-origine-duree-application-ou-efficacite-au-fond-c-est-quoi-une-quarantaine-917540, 27.03.2010