Philosophie

11. Philosophicum Lech: 3. Tag, F. W. Graf - Part 13

3. Tag

 
Friedrich Wilhelm Graf

Friedrich Wilhelm Graf, Ordinarius für Systematische Theologie und Ethik an der Universität München, wurde als erster Theologe im Jahre 1999 mit dem international höchstdotierten wissenschaftlichen Förderpreis, dem Leibniz-Preis der Deutschen Forschungsgemeinschaft ausgezeichnet. Er hält einen sehr umfangreichen und schnellen Vortrag über die Vielgötterei - „Götterdiskriminierung. Zur Unterscheidung der vielen neuen Gottheiten“.

1. Wir befänden uns in einer Differenzierungsdynamik.
Es gäbe alleine über 33.000 christliche Kirchen. Nicht nur Trennungen und Abspaltungen wären dafür verantwortlich, sondern auch neue Kreationen wären zu beobachten. Seit 30 Jahren wachse mit steigender Wachstumsrate die Religiosität. Eine konfliktreiche Lage spitze sich durch diese Geistesmobilisierung - von Fanatikern, über Charismatiker bis hin zu Predigern aller Art - dramatisch zu. Religionsgewalt und -terror wären oft die Konsequenz.
Die Ignoranz der Akademiker mit ihren konfliktreichen Deutungen sei hierbei nicht gerade förderlich und führe zu einem Dekonstruktionsdiskurs, der Frage in welchem Glauben der bessere Gott wäre.

2. Theodiversität
Je mehr Götter es gäbe, desto höher wäre der intellektuelle Ordnungsbedarf. Graf zählt im Affentempo die vielseitigsten Götter auf, vom Kampf- bis Spaßgott war zu hören. Wir seien weit vom Reflektieren entfernt, meint Graf, da es noch keine Begriffe für die Situation der Vielgötterei gäbe.

3. Funktionsgötter
Funktionsgötter wären eine neue Form der religiösen Kommunikation, wobei das Rechtssystem eine große Rolle spiele. Infolge der Religionsfreiheit habe eine Entgrenzung stattgefunden, die das Rechtssystem fördere.
Wir bräuchten Götterforschung, appelliert Graf. Mit klassischer Religiosität konstruiere man Götter, die dann Eigenmacht bekämen. Fiktionen werden zu knallharten Fakten.

4. Polymonotheismus
Die Mosaische Unterscheidung differenziert in den drei monotheistischen Weltreligionen zwischen „wahr“ und „falsch“ in Glaubensdingen, was es in der vor-monotheistischen Welt nicht gab. Der eine Gott ist selbst vielfältig. Das Modell der Mosaischen Unterscheidung erschaffe ungewollt Feindbilder und führe zum Polytheismus.
Graf spricht hierbei von paradoxen Transformationen in der Moderne, deren hochpluraler Ideenmarkt aus den USA käme. Von Werbepredigern bis zu religiösen Akteuren ist die Rede, die in religiöser Symbolsprache, geprägt von Ambiguitätstoleranz viele Interpretationsmöglichkeiten zulassen und unbestimmte religiöse Vorstellungen ermöglichen.
Eine andere Schöpfungssprache kommt von Seiten der Ethno-Religionen. Hier wird der eine Gott vielfältig ausgelegt. Dies wäre für bestimmte soziale Gruppen geschaffen und käme einer Milieutheologie gleich. Solche Götter wären attraktiv, da sie den Gruppen sehr nahe wären.
Es wäre der Versuch der Überlebensstrategie Gottes. Neben Götterexpansion könne man allerdings auch Göttersterben beobachten, so Graf.

5. Unterschiede
Es gäbe, laut Graf, eine normative Unterscheidung zwischen guten und schlechten Göttern oder Religionen.
Die elementare Ambiguität aller Religiosität könne aber zur Selbstvergöttlichung führen, gefährdet wären hierbei Mystiker.

Graf schließt seine Rede mit der Bemerkung, dass das Wissen um die eigene Endlichkeit eine gute Religion ausmache. Religion diene der Persönlichkeitsbildung zu einem freien Vernunftswesen, wogegen Wissensarroganz sie verhindere.
Im Übrigen sei die Mehrheit der Götter noch unbekannt, ebenso wie erst 10% der Biodiversität erfasst ist.

 

11. Philosophicum Lech: 3. Tag, F. W. Graf - Part 13

11. Philosophicum Lech: 3. Tag, Bruno Binggeli - Part 12

3. Tag

Bruno Binggeli

Der einzige Naturwissenschafter im 11. Philosophicum ist der Astronom Bruno Binggeli.
In seinem neuesten Buch „Primum Mobile. Dantes Jenseitsreise und die Kosmologie“ (Verlag Ammann 2007) beschreibt er eine Reise zum Ursprung der Dinge, zum Urknall unter anderem mit Himmelsforschern aus dem Mittelalter wie Dante, und erklärt, dass das Mittelalter und die Moderne sich viel näher sind, als man glaubt.

In diesem Zusammenhang zieht Binggeli in seinem Vortrag „Physik als Quelle der Spiritualität“ einen Weg von Gretchen zurück zu Beatrice - Gretchen als Fausts Geliebte im Vergleich zu Dantes früh verstorbener Liebe Beatrice Portinari, die in seinem bekanntesten Werk, der köstlich, göttlichen Commedia als Führerin am Weg des Erzählers zum Fegefeuer und durch das Paradies wieder auftaucht.

Laut Binggeli gleicht Dantes Sphärenflug dem virtuellen Vorstoß der Astronomen und Quantenphysiker zum Big Bang. Dante wäre durch seine Anima, durch Beatrice geleitet, doch wodurch würde die Wissenschaft geleitet werden?

Die Begegnung von Physik und Religion sei eine sehr beliebte. Doch sei sie nur auf der Ebene der psychologischen Symbolik möglich, eröffnet Binggeli. Als Pionier dieses Ansatzes nennt Binggeli den Physiknobelpreisträger und C. G. Jung-Freund Wolfgang Pauli.
Das Verhältnis zwischen Religion und Wissenschaft sei jedoch seit Galilei problematisch. Die vorwiegend pragmatisch agnostische Einstellung der Forscher in den Bereichen der Relativitätstheorie und Quantenphysik habe uns entscheidend geprägt. Für Binggeli ist jeder Fortschritt mit einem Seelenverlust gekoppelt. Es verhalte sich wie bei einem Glas Wasser - ein Schluck Wissenschaft führe zum Atheismus, doch am Ende warte Gott.
Die Frage warum eine „von Männern dominierte Disziplin wie die Physik […], selbst zur Quelle der Spiritualität wird“, beantwortet Binggeli in einem Satz: „Weil man seit dem 20. Jahrhundert nirgendwo wie in der Physik so deutlich an die Grenzen der Erkenntnis stößt, und weil die in der Folge vollzogene Abkehr vom materialistischen Weltbild starke Impulse auf unser religiöses Leben überträgt.“

Hier erweitert Binggeli die Begegnung zwischen Physik und Religion auf drei Ebenen:
1. Substantielle Ebene
2. Symbolische Ebene
3. Ethische Ebene

 
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1. Substantielle Ebene
In der substantiellen Ebene käme die Physik der Religion gleich, wenn physikalische Erkenntnisse als theologischen Wahrheiten oder gar als Dogmen übernommen würden. Die Möglichkeit rühre daher, dass sich sowohl Physik, wie auch Religion mit den letzen Dingen beschäftigten. Die Quantenphysik liefe somit auf eine All-Einheitslehre hinaus und münde in eine unio mystica.

2. Symbolische Ebene
Wolfgang Pauli sei nicht in die Falle der substantiellen Ebene getappt, nicht nur weil er einer der großen Genies der Physik war, sondern weil er mit den Lehren C. G. Jungs vertraut war. Paulis Forderung ging dahin das Psychische dem Physischen als etwas Komplementäres zur Seite zu stellen und führe zu einer Rückgewinnung der vita contemplativa, der Spiritualität.

3. Ethische Ebene
Die Wissenschaftskritik führe Binggeli weiter auf die ethische Ebene, die nicht nur seit dem „Sündenfall“ der Atombombe ein Thema ist. Auch dürfe man das Verhältnis von Wissenschaft und Wirtschaft nicht außer Acht lassen. Hierbei zitiert Binggeli Peter Sloterdijk aus seiner Sphärentrilogie in der der Philosoph von einer durch Aufklärung erworbene metaphysische Immunschwäche spricht. „In der menschlichen Befindlichkeit und seiner Äußerung aber kann es nach der Weltbildkatastrophe der Neuzeit nur noch einen Pluralismus geben. So gleicht die heutige Lebenswelt nicht mehr einer Sphäre, sondern einem aus vielen Bläschen bestehenden Schaumgebilde (- soweit Sloterdijk extrem gekürzt).“

Binggeli warnt vor dieser „Entweder-Oder Logik“ Sloterdijks, man müsse die „Sowohl-als-Auch Logik“ der modernen Physik endlich ernst nehmen.

Schlussendlich gilt für Binggeli, wie übrigens für viele Naturwissenschaftler, den Blick zum Himmel nicht zu verlieren.

11. Philosophicum Lech: 3. Tag, Bruno Binggeli - Part 12

11. Philosophicum Lech: 3. Tag, Rainer Forst - Part 10

3. Tag

 
Rainer Forst

Rainer Forst leitet sein Referat über „Toleranz und Religion“ mit der Frage ein, ob die Mohammed-Karikaturen aus Dänemark ein Zeichen der Intoleranz wären oder eine negative Reaktion darauf. Forst bringt 12 Lehren aus der Geschichte, die für den umstrittenen Begriff der Toleranz in der Gegenwart von Bedeutung sind.

1. Ablehnungsurteil: Toleranz heißt akzeptieren, obwohl man ablehnt. „ Der Toleranzüberlegung zufolge wäre es falsch, das Falsche nicht zu tolerieren.“
Die Ablehnung dürfe nicht auf Vorurteilen gegründet sein.

2. „ Nicht in jedem Fall ist die Toleranz das richtige Rezept gegen Intoleranz.“

3. Intoleranz gegenüber der Intoleranz fruchtet nicht.

4. Die grenzen der Toleranz sind oft willkürlich gezogen. Die Toleranz ist somit ein Akt der Balance zwischen drei Komponenten: Ablehnung, Akzeptanz, Zurückweisung.

5. Die Toleranz selbst ist kein eigener Wert - „Sie ist nur etwas Gutes, wenn sie gut begründet ist.“ – sonst könnte sie eine potenzielle Gefahr der Macht darstellen.

6. Erlaubnistoleranz gewährt Minderheiten Freiheiten (Bsp. Edikt von Nantes über die Hugenotten 1598). Da tolerierte Minderheiten mit Gehorsam bezahlen mussten, waren sie meist, obwohl 2. Klasse, die besseren Bürger (Bsp. Toleranzpatente Joseph II).

Hierbei nennt Forst Kant, der diese Art von Toleranz als „hochmüthig“ bezeichnete, und zitiert Goethe: „ Toleranz sollte nur eine vorübergehende Gesinnung sein: sie muß zur Anerkennung führen. Dulden heißt beleidigen.“

7. Die Toleranz darf nicht auf Hierarchisches oder Strategisches reduziert werden. Sie kann eine positive Einstellung von Individuen sein, sprich eine Tugend.
Sie bildet den Konsens zur Grundlage der Wechselseitigkeit.

8. Konzeptionstoleranz enthält demokratische Lebensform. Gewissen kann man nicht erzwingen, sonst wäre der Glaube geheuchelt.

9. Toleranz kommt nicht aus dem Christentum, nicht nur weil sich Toleranz auch in anderen Religionen findet, sondern weil das Argument der Toleranz sich nur durch viele Kämpfe durchgesetzt hat. „Nur ein frei zustande gekommener Glaube ist gut.“ (Augustinus)
10. Gewissensfreiheit

11. Respektkonzeption der Toleranz: das Toleranzargument muss auf reflexiver Natur begründet sein, sie muss eine normative und eine erkenntnistheoretische Komponente enthalten (Pierre Bayle).

12. Praxis der Toleranz bedeutet Überprüfung der Gesetze.

Forst bringt an dieser Stelle Beispiele der Toleranzproblematik, wie Religionssymbole – Kopftuch und Kruzifix – und Homosexuellen-Ehe mit Antrag auf Adoption.
Forst begreift die Toleranz als hohe Kunst und schließt seinen Vortrag mit der geschichtlichen Lehre, dass wohl keine Gesellschaft den Lernprozess der Ausbalancierung von Gleichheit und Differenz je abgeschlossen haben wird.

11. Philosophicum Lech: 3. Tag, Rainer Forst - Part 10

11. Philosophicum Lech: 2. Tag, Gudrun Krämer - Part 9

2. Tag

 

 

Gudrun Krämer

 

Gudrun Krämer schließt mit ihrem Vortrag „Ist der Islam eine politische Religion?“ an das brisante Thema ob der Bedrohlichkeit des Islams an. Man müsse über das Empfinden der Bedrohung sprechen, und den Islam in einen westlichen Säkularismus einfügen. Die Angst begründe sich auf das politische Potenzial des Islams. Die Einheit Religion und Staat ermögliche den Fundamentalismus. Nach Kolonialismus, Imperialismus und der Globalisierung komme die Identitätspolitik ins Rollen, auch wenn sie noch nicht praktiziert wird. Der Islam bilde viele Diversitäten in der Realität.

Der Koran sei das Fundament, die Überlieferungen des Propheten und die vielen Denkschulen haben jedoch keine Gedankeneinheit ermöglicht. Deshalb wäre auch die richtige Bezeichnung für den Islam die englische Version: „Islamic way of live“. Um den Islam als Gesetzesreligion zu verstehen, müsse man die Shari’a erläutern, die ein Pfad, bzw. ein Weg in Paradies bedeute und demzufolge mehr als ein weltliches Gesetz darstelle. Auch hier gibt es verschiedene Auffassungen, man könne dies am Beispiel des Schleiers sehen.

Krämer lässt sich auf einen geschichtlichen Diskurs ein und spricht vom Islam als einer dominanten Religion mit hegemonialem Anspruch, die zuerst die Herrschaft anstrebe, um die Islamisierung ohne Zwangskonvertierung über Jahrzehnte und Jahrhunderte durchzuführen. Historisch gesehen herrschten islamische Obrigkeiten über eine Bevölkerung, die großteils nicht islamisch war.
Eine Apostasie oder ein Religionswechsel wurden als Verrat gesehen. Am Beispiel Ägypten sähe man jedoch dass seither modernes politisches Denken eingeflossen sei.
Eine Über- oder Unterordnung sollte nicht zur Kernfrage werden. Obwohl islamische Parteien die Mehrheit besitzen, sei die Bevölkerung in islamischen Staaten der Ansicht, die politische Präferenz richte sich nicht nach dem Islam.
Krämer weist weiter darauf hin, dass es mehr als eine Milliarde Muslime gebe und daher kaum die Chance auf eine Einigung bestehe. Der Islam sei wohl die Religion, die von Anfang an bis heute am meisten pluralisiert wurde.

Im Gegensatz zu Ednan Aslan glaubt Gudrun Krämer nicht an die Möglichkeit einer Säkularisation in islamischen Staaten, alleine aus dem Grund, weil es keine Kirche im institutionellen Sinne gäbe. Der Islam sei als Lebensform zu verstehen, den man folglich vom Staat auch nicht trennen könne.

 

 

Eine heiße Podiumsdiskussion wurde vom Großteil der Zuhörer erwartet Die Hitze blieb jedoch aus. Das Öl welches Liessmann versuchte ins Feuer zu gießen, wurde prompt von Krämer mit dem Kommentar gelöscht: „ Ich habe es wirklich satt, dass die Al-Qaida immer wieder mit dem Islam verwechselt wird.“

 

Die Diskussion um den Islam ging im Publikum in den Pausen, sowie in der abendlich besetzten Philosophen-Bar weiter. Enttäuschung seitens des Publikums war zu hören, von Scheinheiligkeit war die Rede. Offensichtlich hätte ein Teil der Zuhörerschaft eine größere Kontroverse, ob der Bedrohung und den ausgehenden Terrorismus durch den Islam erwartet.

11. Philosophicum Lech: 2. Tag, Gudrun Krämer - Part 9

11. Philosophicum Lech: 2. Tag, Ednan Aslan - Part 8

2. Tag

 
Ednan Aslan

Der Nachmittag des 2. Tages des Philosophicums war dem Islam gewidmet.

Ednan Aslan sieht den „Säkularismus als eine Herausforderung an die Muslime“. In seinem Vortrag „Gottes Erde ohne Gott“ beschreibt er den Islam nicht als Religion, die einen Anspruch erhebt, ein geschlossenes Gebilde darzustellen. Es bedürfe, wie in allem, einer Entwicklung.

Woran Muslime glauben, bzw. glauben sollten, resultiere aus den vielen verschiedenen Denkschulen. Schon zu Lebzeiten Mohammeds wurde vielfältig interpretiert und gab es verschiedene Auslegungen. Mohammed ist nicht als Prophet verstanden worden, sondern als Mensch, daher könne er sich immer wieder neu definieren. Eine Reflektion über die Säkularisierung und Integration der Muslime in Europa folgt. Der Islam kenne geschichtlich verschiedene Gesellschaftsmodelle, in denen unter islamischer Legislatur unterschiedliche Kulturen und Religionen zusammenlebten. „Die Präsenz des Islams in Europa fordert die Muslime also heraus, ihre Religion in ihrer neuen Gesellschaft neu zu definieren.“ Da diese neue Gesellschaft ihre Regeln nicht aus dem Glauben bezieht, ist sie eine Herausforderung.
Und zwar einerseits für die europäischen Muslime, weil sie nun in einer pluralistischen Gesellschaft leben, andererseits für die Politiker Europas, aber auch für die islamische Theologie, da die ausgewanderten Muslime Europa als neue Heimat empfinden
Die Stellung der Religion im Leben müsste neu definiert werden. Wenn der Prozess der Integration positiv verläuft, kann man, so Aslan, auf das Verständnis der Säkularisation bauen.

Das Wort Säkularisation selbst ist im Arabischen eine schwierige Übersetzung. Global könnte man es mit Verweltlichung oder Verwissenschaftlichung übersetzen. Aslan weist daraufhin, dass im Persischen Säkularisation als Atheismus oder gar Verirrung bezeichnet wird, während man im Türkischen das französische Wort Laizismus übernommen hat. Da es auch im Westen für diesen Begriff keine Vereinheitlichung gibt, verstärkt sich die Problematik der Sprache bei der Übersetzung. Daher könne man nur in sozialwissenschaftlichen Diskussionen zu einem Konsens kommen. In islamischen Ländern bedeute Säkularismus Diktat des Staates und entspräche nicht der Wirklichkeit der Völker.

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Am Beispiel Algerien, Pakistan und der Türkei beschreibt Aslan die problembehafteten Erfahrungen der Säkularisierung durch Fremdeinwirkung – Bsp. Kolonialismus - im Islam.
Radikale Eingriffe, wie Verbot der Sprache und der Gottesdienste, Unterdrückung der Sprach-, Religions- und Pressefreiheit fanden einst in Algerien statt. Der Islam wurde bestenfalls als archaische Religion geduldet. Der 11. September hat das Klima nicht verbessert. Da die patriarchalische Struktur beibehalten wurde, gab es auch keine positive Weiterentwicklung.
Es schiene, dass die Verbindung vom Islam und der Demokratie zum Scheitern verurteilt sei. Muslime leben in der Gegenwart in einer „Parallelgesellschaft“. Talibankulturen wurden entwickelt, um das zu schaffen, was der Staat nicht verwirklichen konnte. Ein weiteres Problem bestehe darin, dass der Islam keine institutionalisierte Religion sei. Er schreibe kein politisches System vor, sondern regle das Zusammenleben durch eine gesellschaftliche Ordnung. Demzufolge wäre der Islam auch keine politische Religion. Auch wäre das Verständnis der Muslime vom Christentum falsch. Im westlichen Islamverständnis, auch von wissenschaftlicher Seite, würden dem Islam nach wie vor weder moralische noch rationalistische Fähigkeiten zur Modernisierung der Gesellschaft zugeschrieben. Eine solche Auffassung reduziere den Islam auf den Koran und sehe die anderen Bestandteile des Islam, sowie die Leistungen der Muslime nicht. „Die europäische Islam-Forschung weigert sich oder zögert den Wandel in der islamischen Welt als eine Realität anzuerkennen. […] Das Koranverständnis der Muslime und auch der innere Demokratisierungsprozess werden weder wahrgenommen, noch werden den Muslimen entsprechende Kompetenz überhaupt zugeschrieben. […]. Dieses […] versteinerte Islambild […] in Europa trifft leider auf ständige Berichte über Gewalt, die in den islamischen Ländern selbst oder von extremen Gruppen in Europa ausgeübt wird.“

Als Schlusspunkt bringt Aslan drei unerlässliche Voraussetzungen um den Säkularismus als eine religiöse Ethik unter den Muslimen verwirklichen zu können:
1. Identifikation: Eine Identifikation der Muslime mit dem Säkularismus muss stattfinden. Dazu benötigt es Zeit, um demokratische Erfahrungen zu sammeln. Den europäischen Muslimen komme hier eine wichtige Brückenrolle zu.
2. Universalisierbarkeit: Demokratische Werte müsse man als universale Werte verstehen, die theologisch begründet sind.
3. Realisierbarkeit: Nur durch Demokratisierung der innermuslimischen Strukturen kann der Säkularismus verwirklicht werden.

Aslan schließt seinen Vortrag in guter Hoffnung mit dem Beispiel der Türkei, die mit einer Wahlbeteiligung über 85 % der Muslime die gegenseitige Befruchtung des Islams und des Säkularismus beweise.

11. Philosophicum Lech: 2. Tag, Ednan Aslan - Part 8