Buch

Petra Nagenkögel: Dort. Geografie der Unruhe

Cornelia Stahl

Petra Nagenkögel:
Dort. Geografie der Unruhe.

Salzburg: Jung und Jung.
2019 , 172 Seiten.
ISBN: 978-3-99027-231-2. 

 

Spuren europäischer Geschichte erkunden. „Und immer wieder die Vororte, die Ränder, von denen nicht zu sagen ist, wo sie anfangen“ (S.17). So beschreibt die Autorin Argentinien, ein Land, in dem Che Cuevara 1928 geboren wurde, das  einst zu den reichsten Ländern der Welt zählte, derzeit von politischer Unruhe, Inflation und vom Erbe europäischer Einwanderer geprägt ist. Hier setzt sich Nagenkögel der Fremde aus, beobachtet, spürt europäischer Geschichte nach. Es ist ein Streunen, absichtslos, dann wieder lustvoll, um alles Fragmentarische wahrzunehmen. 

In Notaten hält Nagenkögel ihre Eindrücke unbeschriebener Orte fest, erkundet verdrängte Geschichte: „Juan Pe´ron ... steht am … als Pappfigur, als würde seine symbolische Macht dabei helfen, Raben … von den Feldern zu vertreiben“ (S.49). Kapitelüberschriften wie „verbinden“, „dauern“, „kreuzen“, „erinnern“ sind wie Mosaiksteinchen, fügen sich in Summe als Ganzes . 

Der Stil überzeugt: Beobachtungen setzt Nagenkögel in Verbindung mit persönlichen Erinnerungen, etwa Kindheitserinnerungen im Kapitel „erinnern“: Angstgefühle tauchen plötzlich auf, inmitten einer realen Gefahr: „Die Angst der Gegenwart führt zu vergessenen Bildern, ungerufen, zugleich … auf ihre Art rettend, indem sie mich dazu bringen, stehenzubleiben, … den Fahrer … anzustarren, bis er aufs Gas steigt .. abdreht und fährt“ (S.107). 

Detailgenau folgen wir der Beobachterin an unbekannte Orte Argentiniens, folgen Spuren europäischer Geschichte. Ein unaufgeregter Text, der entspannend wirkt. 

Petra Nagenkögel, geboren 1968 in Linz, studierte Germanistik, Geschichte,Philosophie in Salzburg. Veröffentlichungen:„Dahinter der Osten“, 2002, Gedichtband „da die bäume, die sprache, ein schlaf“,  2012. 

Unbedingt lesen!

Zdenka Becker: Ein fesches Dirndl

Cornelia Stahl

Zdenka Becker:
Ein fesches Dirndl.

Meßkirch: Gmeiner- Verlag
2019, 279 Seiten.
ISBN-13: 9783839223635

 

Lebenslanges Ringen um Zugehörigkeit und Identität. „Das Private ist politisch“, eine Parole der zweiten Frauenbewegung der 1970er Jahre.  Der aktuelle Roman Zdenka Beckers unterstreicht diese Aussage. Becker skizziert das Aufwachsen in einer Diktatur in der Tschechoslowakei, formuliert eigene Lebensentwürfe erzählt vom Neuanfang in Österreich. Schon im letzten Buch „Samy“ dominierten Fragen von Identität, Heimat  und Zugehörigkeit.   

Im Fokus steht Protagonistin Bea, die die Ereignisse ihre Lebensgeschichte erzählend wie eine Perlenkette aneinanderreiht. Dass diese überwiegend deckungsgleich mit denen der Autorin sind, ist kein Zufall. Becker ist selbst vor über vierzig Jahren nach Österreich eingewandert. Rückblickend reflektiert Bea die Anfänge ihrer Kindheit in  der  Tschechoslowakei, beschreibt Alltagssituationen im Kommunistischen System, dem sie so schnell wie möglich den Rücken kehren will, sowie den Neubeginn in Österreich: Vom Erlernen der deutschen Sprache bis hin zum Tragen eines Dirndl`s. Bea`s Lebensgeschichte wird öffentlich und somit Teil der Geschichte, der Migrationsgeschichte Mitteleuropas. 

Der Roman liest sich unterhaltsam, mitunter witzig. Das Einfügen tschechischer bzw. slowakischer Redewendungen erzeugt Spannung, ermöglicht einen Perspektivenwechsel. Die Figurenzeichnung gelingt der Autorin sehr gut, sodass eine ausreichende Identifikation entstehen kann.  

Zdenka Becker, geboren in Eger/Tschechien, kam vor über vierzig Jahren nach Österreich und lebt seit vielen Jahren in St.Pölten/Niederösterreich, schreibt auf Slowakisch und Deutsch. 

Ihre Theaterstücke wurden im Landestheater Niederösterreich aufgeführt. 

Allen an Migrationsgeschichte interessierten Lesern/LeserInnen empfohlen! 

Eva Schmidt: Die untalentierte Lügnerin

Cornelia Stahl

Eva Schmidt: 
Die untalentierte Lügnerin.

Salzburg und Wien:
Jung und Jung 2019
208 Seiten 
ISBN: 978-3-99027-230-5 

 

Pendeln zwischen Nähe und Distanz. Maren, Anfang zwanzig, lebt seit vielen Jahren mit Mutter und Stiefvater in einem luxuriösen Haus am See. Nach abgebrochenem Schauspielstudium kehrt sie an ihren Heimatort, ins elterliche Haus zurück, bezieht erneut ihr Kinderzimmer. Als die Spannungen zwischen ihr und der Mutter, einer egozentrischen wie erfolglosen Künstlerin, eskalieren, bietet ihr der Stiefvater kurzerhand an, in  seine Firmenwohnung zu übersiedeln. Maren entdeckt ziemlich rasch nach ihrem Umzug, dass der Stiefvater ein Doppelleben führte und unter dem Vorwand von Dienstreisen sich mit Frauen in der angemieteten Wohnung traf. 

Die in der Folgezeit sich entwickelnden Freundschaften zu Lisa, Max und Alex sind wie ein Lichtschweif am Sternenhimmel, jedoch leider von kurzer Dauer. Auch der verzweifelte Versuch, Kontakt zu den beiden Stiefbrüdern wieder aufleben zu lassen und das Bedürfnis nach Nähe und Zugehörigkeitsgefühl zu stillen, scheitern. Erst die Arbeit in Thomas Fotoatelier und die Übersiedlung in sein Haus bringt eine Wende in Marens Leben, wenn auch nur geringfügig und langsam. Das Vertrauen zwischen den Beiden entwickelt sich jedoch nur zaghaft. 

Der Autorin gelingt mit der Protagonistin eine brillante Figurenzeichnung, die ausreichend Identifikation ermöglicht. Sie lässt diese selbst zur Literatin werden, die mit der fiktiven Figur Ellen ihre eigene Geschichte aufzeichnet und um Wünsche, Träume und Visionen ergänzt. 

Eva Schmidt, geboren 1952, lebt in Bregenz und schreibt eindringliche Prosa. Ihr Roman „Ein langes Jahr“ wurde 2016 für den Deutschen Buchpreis nominiert. 

Das Buch entwickelt eine Sogwirkung, sodass man darüber die Zeit vergisst! 

Eine wichtige Erzählstimme im Frühjahr 2019! 

Chris Novi: I am Highly Sensitive

Gerhard Hönigl

I am Highly Sensitive – Christus lebt!
Chris Novi

Akustikroman,SAG7 Music, 
myMorawa, BDM Records
2019, 604 Seiten
ISBN: 978-3-99084-556-1

 

Vom Sternenkind zum Unstern. Die romaneske Autobiografie von Chris Novi zum Thema Hochsensibilität schildert sehr anschaulich und plastisch den Lebens- und Leidensweg des Protagonisten, insbesondere dessen Schwierigkeiten in Kindheit und Jugend, als Hochsensibler nicht erkannt und akzeptiert zu werden.  Die sich wiederholenden Schilderungen in Bezug auf Lebenskrisen als Folge der Missachtung seines Talents verlangen dem Leser ein gewisses Durchhaltevermögen ab, lassen ihn aber die Ausweglosigkeit ergreifend miterleben. Das bewusste Lösen psychischer Konflikte und die aktive Entfaltung seiner Veranlagung vergleicht der Autor mit einer Art Auferstehung. In den dunkelsten Zeiten seiner Existenz bejaht Chris sein Dasein und beginnt das volle Potenzial seines Genius zu entwickeln, um seine ganz persönliche Vision vom Leben zu entfalten. Dieses Werk fesselt, erschüttert und regt  zum Nachdenken an. Mit dem Buch bringt der Künstler seine gesamte Kreativität zum Ausdruck und teilt sie in leidenschaftlicher Art und Weise mit der Welt. So beinhaltet der Akustikroman auch 14 Songs, welche mitten im Buch über QR-Codes nachzuhören sind. Diese Möglichkeit schafft ein gänzlich neues Lesegefühl. 

Der Roman möchte dazu ermutigen, schambehafteten Themen offen gegenüberzustehen, sich damit auseinanderzusetzen und er will darauf hinweisen, dass hochsensible Menschen nicht als psychisch Kranke zu stigmatisieren sind. Für mich beruht dieses Buch auf einer wahren, dem Leser sehr authentisch vermittelten, Lebensgeschichte, die einen tiefen Einblick in die Seele des Autors ermöglicht. Mit großem Respekt gegenüber Chris Novi für dessen Mut, die Thematik so offenherzig anzusprechen. In diesem Sinne dient das Werk als bereichernde Lektüre. An Material zur Auseinandersetzung  fehlt es jedenfalls nicht.

 

Chris Novi, geboren 1976 in Wien, ist Autor, Komponist und Sänger. Er ist reiner Autodidakt. Interview  s. S. 8

Thomas Mulitzer : Tau

Eva Riebler

Thomas Mulitzer: 
Tau 

Roman 
Wien: Kremayr & Scheriau, 
2017, 288 S.
978-3-218-01080-1

 

Auf den Spuren von Thomas Bernhards Icherzähler in „Frost“. In Bernhards Erstlingsroman, geschr. 1931, wird ein Student nach Weng/Szb. geschickt, um den Maler Strauch, der als krank und verrückt gilt, zu observieren. Der Maler zeigt in Wirklichkeit  in endlosen Monologen die Kälte der Menschen auf, berichtet vom Frost, der in die Seelen gezogen ist, vom Leiden, vom Eckel beim „Anblick der Fetzen von Kindern auf den Bäumen“ (nach dem I. WK geschr.) und von der Besessenheit der Menschen, die die Welt zur Hölle machen.

Thomas Mulitzers Erstlingsroman nimmt ebenfalls einen jungen Mann als Icherzähler, der an den selben Schauplatz in das Gebirgsdorf Wenig reist. Dort ist er bei seinem ruppigen, einsamen, arbeitsamen Großvater einquartiert und sucht Spuren des Malers und  Th.  Bernhards, der dort den Grundstein seiner Kunst und seiner Berühmtheit gelegt hatte. 

27 Tage lang führt er Aufzeichnungen und versucht, ohne im Ort aufzufallen, alles über Thomas Bernhard und seinen Aufenthalt herauszufinden. Ihm begegnet die kafkaeske Frauenfigur, die Kellnerin des Cafés Julie, die sich ihm anbiedert. Jedoch hat die Ichfigur keine Zeit für sich entblößende Mädchen und feuchte Lippen, gilt es doch über Bernhard und den Maler Strauch zu recherchieren. Viel interessanter für ihn ist, dass die Kellnerin ein Indiz ist, dass der Maler Strauch und Bernhard in Weng waren, da sie Strauch auf einem Foto, das er mit sich führt, als ihren Urgroßvater erkennen kann.

Der Icherzähler leidet immer mehr an der Fremdheit dieses Ortes. Zitat S. 282: Ich komme nicht recht voran, aber ich werde weitermachen, bis meine Gedärme und mein zuckendes Herz auf diesen Blättern kleben. Wie Kafka oder Bernhard spürt er die Fremdheit der Dinge, die sich anscheinend gegen ihn verschworen haben. Wie frostig es ihm in Wenig weiterhin ergeht und wie und in welchem inneren Zustand er seine Recherchen abschließen kann, ist in diesem spannenden Debütroman nachzulesen!