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Parallelen in Soshanas Tagebüchern aus Paris und Arthur Schnitzlers " Fräulein Else"

Tagebuch-Aufzeichnungen einer jungen Künstlerin und der innere Monolog einer Romanfigur: Kann man das vergleichen? Ist es möglich, dass Parallelen durch Kenntnis des anderen Textes enstanden? Der ersten Frage wird in diesem Essay nachgegangen, die zweite kann verneint werden:
Arthur Schnitzler starb 1931 in Wien, wo er auch eines seiner letzten und vor allem populärsten Werke, die Monolog-Novelle "Fräulein Else", 1924 verfasst hatte.
Die Malerin Soshana wurde 1927 in Wien als Susanne Schüller geboren, musste 1938 aus Österreich fliehen und verbrachte den Grossteil ihrer Jugend anschliessend im angelsächsischen Raum ( zunächst zwei Jahre in England, dann in den USA). Man kann daher davon ausgehen, dass Soshana keinerlei Kenntnis des Textes von Arthur Schnitzler hatte, als sie 1952 begann, in Paris Tagebücher zu schreiben. Vor der Flucht war sie mit neun Jahren noch zu jung, eine Novelle zu lesen, danach war ihre Sprache meist das Englische. Umso erstaunlicher sind einige Parallelen zwischen dem Schnitzler-Text und Passagen aus den Tagebüchern.
Von aussen betrachtet haben Soshana und Fräulein Else etwas gemeinsam: Beide wuchsen in gutsituierten Wiener Familien mit jeweils einem Bruder auf. Soshana stammte aus einem liberalen jüdischen Elternhaus, ganz ähnlich war es bei Arthur Schnitzler selbst, allerdings gibt es keine Hinweise darauf, dass Fräulein Else einer jüdischen Familie entstammt, daher spielt dies auch keine Rolle im Text und soll hier ausgeklammert werden. Beide verbringen ihre Ferien in San Martino di Catrozza. Während dieser Ferienort in Arthur Schnitzlers "Fräulein Else" der Schauplatz der gesamten Novelle ist, verbrachte auch Soshana ihre Ferien hier, einmal mit acht Jahren und dann wieder im Juni 1953. Eine weitere äussere Parallele.
Soshana begann bereits während einer Bombennacht 1941 in London als 13 Jährige einen ersten Tagebuch-Eintrag zu schreiben. Dann ab 1952 in Paris führte sie regelmässig Tagebuch, auch eine Art von innerem Monolog . Da war sie 25 Jahre alt. Fräulein Else ist als innerer Monolog einer 19-Jährigen geschrieben.
Viele Aspekte der beiden Texte haben nichts miteinander zu tun, Soshana war nie in suizidal veranlagt, niemand zwang sie, Geld zu beschaffen, zwei oder drei Aspekte allerdings weisen Parallelen auf: Die Einsamkeit und finanzielle Not in einer anderen Stadt und die Suche nach dem idealen Lebenspartner.
In der Aufzeichnung der Bombennacht in London, 1941, befindet sich das Kind Soshana in Lebensgefahr, ebenso wohl Else in der Nacht im Park. Hier gibt es zwei erste analoge Stellen, die eine ähnliche Angstfreiheit vor dem Tod spiegelen:
Soshana: "Ich hörte die Luftabwehrkanonen brüllen in den naheliegenden Hyde Park ... es war sehr aufregend, ich stand völlig fixiert, wie im Traum. Ich hatte keine Angst ..."
Fräulein Else im Park, nachdem sie geträumt hat, sie sei als Leiche aufgebahrt: "O Gott, wo war ich denn? So weit war ich fort. Was hab ich denn geträumt? Ich glaube ich war schon tot. Und keine Sorgen habe ich gehabt und mir nicht den Kopf zerbrechen müssen."

Soshanas Familie hatte keine finanziellen Probleme, der Vater war charakterlich vollkommen anders als Elses Vater, ebenso unterscheiden sich die Beziehungen der Töchter zu den Vätern. Else vergöttert den ihren, Soshanas Beziehung hingegen ist ablehnend-kritisch. Dennoch sitzt Soshana ebenso wie Fräulein Else in einem anderen Land ohne Geld. Beide jungen Frauen, sie sind in einem ähnlichen Alter, 19 und 25, sind von Menschen umgeben, aber ohne ihre engere Familie und fühlen sich ganz auf sich allein gestellt. Beide sind in einer finanziellen Abhängigkeit von ihren Vätern: Else von den väterlichen Schulden, Soshana von den väterlichen Zuwendungen.
Soshana: "Robert Stern, ist ein Schacherer-glaubt er kann mit mir machen wie,“ die verkaufte Braut“ und sogar Geld durch mich verdienen. Manchmal verabscheue ich ihn- genau wie meinen Vater, ein typischer Shylock Typ. Dann fühle ich, dass sie Geld mehr schätzen als alles andere in der Welt- sie lieben es mehr als ihre eigene Frau und Kinder und respektieren es als ihren einzigen Gott und ihr einziges Interesse. Wie mein Vater." (9. Dezember 1952)
Dem gegenüber ist es müssig eine einzelne Passage aus "Fräulein Else" zu stellen, da die Geld-Problematik der rote Faden des gesamten Textes ist. Hier daher nur eine kurze Passage: " Paul, wenn du mir die dreißigtausend verschaffst, kannst du von mir haben, was du willst. Das ist ja schon wieder aus einem Roman. Die edle Tochter verkauft sich für den geliebten Vater, und hat am End' noch ein Vergnügen davon. Pfui Teufel! Nein, Paul, auch für dreißigtausend kannst du von mir nichts haben. Niemand. Aber für eine Million? – Für ein Palais? Für eine Perlenschnur? Wenn ich einmal heirate, werde ich es wahrscheinlich billiger tun. Ist es denn gar so schlimm?"

Von beiden Frauen wird von der Familie erwartet, dass sie in absehbarer Zeit heiraten. Beide sind dem männlichen Geschlecht nicht abhold, haben aber Schwierigkeiten mit der Wahl des idealen Lebenspartners, denn die Männer, die sie interessieren, sind mittellos (Fräulein Else: Filou, Soshana: der junge Afghane), die, die sie heiraten sollen, sind finanziell abgesichert, aber uninteressant (Fräulein Else: Fred, Soshana: Harry Frankel)
So ähneln sich ihre geheimen Träume:
Fräulein Else: "Der einäugige Amerikaner auf der Rosetta hat ausgesehen wie ein Boxkämpfer. Vielleicht hat ihn beim Boxen wer das Aug' ausgeschlagen. Nach Amerika würd' ich ganz gern heiraten, aber keinen Amerikaner. Oder ich heirat' einen Amerikaner und wir leben in Europa. Villa an der Riviera. Marmorstufen ins Meer. Ich liege nackt auf dem Marmor. – "
Soshana: "Das Beste wird für mich sein sich mit Harry Frankel zu verheiraten-zu malen-zu reisen und das Leben zu genießen. Ich wäre nicht glücklich müsste ich immer an einem Ort bleiben. " (11. Dezember 1952)
Fräulein Else behauptet, noch nie verliebt gewesen zu sein, um dann gleich eine ganze Liste von Männern aufzuzählen, für die sie geschwärmt hat:
" Soll ich's dir schriftlich geben, teuere Tante, daß ich an Paul nicht im Traum denke? Ach, an niemanden denke ich. Ich bin nicht verliebt. In niemanden. Und war noch nie verliebt. Auch in Albert bin ich's nicht gewesen, obwohl ich es mir acht Tage lang eingebildet habe. Ich glaube, ich kann mich nicht verlieben. Eigentlich merkwürdig. Denn sinnlich bin ich gewiß. Aber auch hochgemut und ungnädig Gott sei Dank. Mit dreizehn war ich vielleicht das einzige Mal wirklich verliebt. In den Van Dyck – oder vielmehr in den Abbé Des Grieux, und in die Renard auch. Und wie ich sechzehn war, am Wörthersee. – Ach nein, das war nichts. Wozu nachdenken, ich schreibe ja keine Memoiren. Nicht einmal ein Tagebuch wie die Bertha. Fred ist mir sympathisch, nicht mehr. Vielleicht, wenn er eleganter wäre. Ich bin ja doch ein Snob."
Soshana am 26.Dezember 1952: "Die Männer die mich in meinem Leben am meisten beeindruckten:
Eric Cook- London-als ich 13 Jahre alt war. Er war ein englischer Poet- Journalist- Sozialist
 Beys Afroyim- mein Ehemann, Maler, Bildhauer, Kommunist
Toledano- Mexikanischer kommunistischer Arbeiterführer
Vasilie Kuznetsov - sowjetischer Delegationsleiter und in der Arbeitervereinigung
Arnold Schönberg- österreichischer Komponist
Victor Kutten- Chemiker, Ökonom, Schriftsteller, Industrieler. Der Mann der alles hatte und alles verlor. Familie, Fabriken, Vermögen. Der mich in Israel rettete und nach meinem Ehemann mich beriet. Ich liebe ihn aber seine Krankheit und Schicksal machen es unmöglich ihn zu heiraten.
Sir Radhakrishnan- indischer Philosoph und Staatsmann
Picasso- Künstler"

Ältere Männer werden als Versoger und Ehemänner ausgewählt, jüngere für die Lust. Wobei beide Frauen nicht von sich aus nach Versorgern suchen, sondern auf Drängen der Familie. Bei Fräulein Elses Aufenthalt im Hotel in San Martino di Castrozza geht es im weiteren Sinne um eine Einführung in die feine Gesellschaft als Kandidatin für den Heiratsmarkt. Noch scheint es niemand Konkretes zu geben. Fred wird immer wieder erwähnt, scheint aber eher ein guter Freund Elses zu sein. Diese potentielle Versorgungsehe mit wem auch immer wird durch die Geldnöte des Vaters gefährdet und die daraus resultierende Erniedrigung vor dem älteren, sehr wohlhabenden Dorsday mündet in einer Art von Prostitution und versuchtem Suizid..
Soshanas Vater verlangt auf ganz andere Art eine Erniedrigung: Sie soll den wohlhabenden, älteren Harry Frankel heiraten, den sie nicht liebt. Beide Frauen sind durch diese Erwartungen und eigenen Lustgefühlen aufgewühlt und in einer verzweifelten Lage:
Fräulein Else: " Ein Italiener könnte mir gefährlich werden. Schade, daß der schöne Schwarze mit dem Römerkopf schon wieder fort ist. ›Er sieht aus wie ein Filou‹, sagte Paul. Ach Gott, ich hab' nichts gegen Filous, im Gegenteil. – So, da wär' ich."
Soshana: "Dann ging ich zu einem Ball ins Palais d`Orsay. Es war wunderbar und ich habe es sehr genossen- ich hatte eine gute Zeit und verliebte mich auf den ersten Blick in einen jungen Muslimen aus Afghanistan, der seinen Phil. in Jus bald machen wird. Er ist so ein schöner junger Mann, wie ich noch nie zuvor je einen gesehen habe. Ich habe mich in ihn verliebt und begann zu überlegen wie es sein würde ihn zu heiraten." (24. Dezember 1952)
Oder auch am 27. Dezember 1952: "Gestern habe ich eine Wahrheit erkannt- wieso ich mich nie in einen jungen Mann verliebe, aber immer in ältere Männer. Ein junger Mann braucht eine Frau die ihm hilft sich zu entwickeln- ihm alles gibt. Ich brauche einen Ehemann, der die Mittel und das Verständnis hat- der mir helfen kann mich zu entwickeln".
Beide jungen Frauen haben reiche Verwandte: Else ist von ihrer reichen Tante in die Ferien eingeladen, aber auch Soshana hat wohlhabende Verwandte in Paris, die Familie Ostier. Beide wagen aber in ihren finanziellen Nöten nicht, sich an diese wohlhabenden Verwandten zu wenden. Sie drohen beide an der ausweglosen Lage zu zerbrechen. Else tut dies tatsächlich, während Soshana sich durch die Kunst zu retten vermag:
Fräulein Else:"Guten Abend, Fräulein Else, so gefallen Sie mir. Haha. Da unten werden sie meinen, ich bin verrückt geworden. Aber ich war noch nie so vernünftig. Zum erstenmal in meinem Leben bin ich wirklich vernünftig. Alle, alle sollen sie mich sehen! – Dann gibt es kein Zurück, kein nach Hause zu Papa und Mama, zu den Onkeln und Tanten. Dann bin ich nicht mehr das Fräulein Else, das man an irgendeinen Direktor Wilomitzer verkuppeln möchte; alle hab' ich sie so zum Narren; – den Schuften Dorsday vor allem – und komme zum zweitenmal auf die Welt . . . sonst alles vergeblich – Adresse bleibt Fiala. Haha!"

Soshana schreibt am 27.Januar 1953:  "Mein Vater möchte, dass ich Harry Frankel heirate auch wenn ich ihn nicht liebe. Das ist die traurige Tatsache in dieser Welt. Geld regiert die Welt- und die Welt dreht sich um den Magen. Auch die Liebe. Auch der Krieg.
Für die Kunst und die Seele bleibt nichts übrig. Denn Geld regiert die Welt."

Für die bürgerliche und nur bedingt emanzipierte Else endet der Druck und die Erniedrigung fatal, möglicherweise tödlich. Soshana hingegen gelingt es, sich zu emanzipieren und ein Leben mit ihrer Kunst ganz nach eigenem Gusto zu führen.

Dr.Angelika-Ditha Morosowa
Rigistr 36
CH 8625 Gossau/ZH
email: angelikaditha@gmail.com

 

Jürgen Landt: Als das Dasein sich verpfiff. Rez.: Eva Riebler-Übleis

 
 

Eva Riebler-Übleis
Lebens- und Sterbetheater

Jürgen Landt:
Als das Dasein sich verpfiff
Greifswald: freiraum-verlag.
2015. 74 Seiten
ISBN 978-3-943672-63-3

Wie ist das, wenn „Mann“ alt und schäbig wird? So oder ganz anders? Jürgen Landt, geboren 1957 in Vorpommern und 1983 aus der DDR nach Hamburg ausgebürgert, hat sein achtes Werk vorgelegt. Er beschreibt das Dahinvegetieren eines alternden Mannes, realitätsnahe und meist aus der Innenperspektive. Das Verhältnis zu seiner Frau wird indirekt über sexuelle Gelüste und Wünsche klar. Klar ist jedenfalls für beide, dass das Ehepaar in einer begrenzten Welt lebt, in der es gilt nicht alles mitzumachen, jedoch seine Gelüste auszuleben. Nicht nur die Welt ist begrenzt, auch das erlebte Umfeld und der Blick werden eingegrenzt. Meist schrammen die Personen gedanklich aneinander vorbei. Vor allem unter dem starken Einfluss von Psychopharmaka sind Empfindungen schwer zu bekommen. Die Protagonisten setzen auf erlebte und verbalisierte Sexualität und wollen in der Enge einer sexuellen Beziehung das Leben wieder fest machen. Der Autor führt den Begriff des „Schwitzkasten“ wohl symbolisch ein. Wir alle sind im Kasten, ob wir schwitzen oder nicht. Lebensphilosophie zieht sich höchst wahr und edel ausgedrückt durchs ganze Werk: “Ist man in einer Beziehung nicht ohnehin schon in einem Kasten? Und ein Rauskrabbeln aus dem Kasten war beschwerlich, oftmals gänzlich unmöglich. Mitunter klemmte ein Deckel die Kiste zu, ohne dass man den schweren Verschluss zu Gesicht bekam. Man war in einer Beziehung abgedeckelt, ohne dass es für das eigene Auge sichtbar wurde. Der gekonnte Umgang mit der Sprache begeistert das Leserherz. Die Lebensphilosophie, kurz zusammengefasst auf „So sind wir Menschen nun mal“, wird keinesfalls so einfach dargereicht und fächert sich auf in krumme und unterbrochene Lebenslinien, in Lebens- und Überlebensversuche, klingt abgestanden und trotzdem ruhelos oder bleibt manchesmal auch eingepackt und verschlossen.

Auch das überraschende Ende des Werkes, das wie viele Szenen vom Sexualleben des Protagonisten zeugt, bringt Skurriles bis fast Idiotisches, das über das geschriebene Wort transportiert wird. Empfehlenswert, aber nicht für Prüde!

Jürgen Landt: Als das Dasein sich verpfiff.  Rez.: Eva Riebler-Übleis

Klaus Haberl: Auf den Treppen der Erde. Rez.: Johannes Schmid

 
 

Klaus Haberl
Die Dinge auf den Punkt gebracht.

Klaus Haberl:
Auf den Treppen der Erde
Gedichte
Oberwart: Edition lex list 12,
2015, 87 Seiten,
ISBN 978-3-99016-078-7

Klaus Haberl, Regiesseur, Schauspieler und Autor, beweist mit seinem in der Edition lex list 12 erschienenen Lyrikband, dass er den Vergleich mit den großen Dichtern der Moderne nicht zu scheuen braucht. Er versteht es, in einer klaren, schlichten und einprägsamen Sprache scheinbar unbedeutende Gegebenheiten zu bannen, und für den Leser den so gewissermaßen konservierten Augenblick als etwas Wesentliches wieder erlebbar zu machen. Seine präzise Sprache, der alles Outrierte, Phrasenhafte, Lärmende völlig fremd ist, erinnert in ihrer Eleganz und Bildhaftigkeit an Hilde Domin oder Heinz Piontek. Seine Dichtung aber verschwendet sich nicht an das Alltägliche und Gemeine, sondern betont oft vielmehr in sentenzenhaften Wendungen dies für sein Leben und auch das seiner Leserschaft Kostbare, Unwiederholbare, von tiefer Einsicht Getragene. Er bringt, um es salopp zu formulieren, die Dinge auf den Punkt, wie alle große Lyrik; jedes Wort ist voll Bedeutung und unabdingbares Element des dichterischen Gebildes, ganz im Sinne Goethes. Wir wünschen dem Lyriker Haberl viele begeisterte Leser, er hat es verdient.

Klaus Haberl: Auf den Treppen der Erde.  Rez.: Johannes Schmid

Maria Seisenbacher: Ruhig sitzen mit festen Schuhen. Rez.: Cornelia Stahl

 
 

Cornelia Stahl
Für Fremdheit Worte finden.

Maria Seisenbacher:
Ruhig sitzen mit festen Schuhen
Wien: Edition Atelier. 2015.
80 Seiten.
ISBN: 978-3-903005-09-9

Für Fremdheit Worte finden, so definierte Maria Seisenbacher in einem Interview die Auseinandersetzung mit der Krankheit Alzheimer, die im Fokus ihres neuen Gedichtbandes steht. Ein Befremden und Angst kann diese Krankheit bei Angehörigen auslösen, sagt Seisenbacher, die mit ihr im engen Familienkreis in Berührung kommt. Literarisch verarbeitete sie die Begegnung und Auseinandersetzung mit Alzheimer in der ihr vertrauten Lyrik. Vier Jahre hat sie an diesem Gedichtband gearbeitet, sich mit Buddhismus und japanischen Traditionen auseinandergesetzt. Nicht von ungefähr erinnern manche Gedichte an Haikus. Worte finden für leere Räume, so beschrieb sie die Arbeit an diesem Lyrikband. Auch wenn sich Alzheimer jeglicher Ordnung entzieht, Wörter und Begriffe neu kombiniert, hat Maria Seisenbacher eigene Zuordnung vorgenommen. In drei Kapitel unterteilt sie ihr Buch. Sich einlassen auf die Veränderungen, die die Krankheit Alzheimer mit sich bringt, war die Voraussetzung für das Entstehen des Gedichtbandes, resümierte Seisenbacher rückblickend. Berührende Gedichte sind entstanden, die nicht leicht konsumierbar sind und sich eventuell erst beim zweiten Mal Lesen erschließen. Auch hier gilt für den Leser: sich Zeit nehmen und einlassen, auf jede geschriebene Zeile, oder sich von jemandem vorlesen lassen. In den meditativ anmutenden Verszeilen schwingen Weisheit und Mystik Japans mit, die durchaus mit dem auf dem Cover abgebildeten Ginkoblatt korrespondieren und eine Einheit bilden. Die Wiener Autorin Maria Seisenbacher erhielt zahlreiche Preise und Stipendien, 2014 das Wartholz- Literaturstipendium des Bundesministeriums für Unterricht, Kunst und Kultur. Für Ihren aktuellen Gedichtband erhielt sie 2015 eine Buchprämie vom Bundeskanzleramt Österreich.

Maria Seisenbacher: Ruhig sitzen mit festen Schuhen. Rez.: Cornelia Stahl

Marco Kerler: Schreibgekritzel. Rez.: Cornelia Stahl

 
 

Cornelia Stahl
Von Wahrnehmungsstörungen und Nachtschwärmereskapaden

Marco Kerler:
Schreibgekritzel
Göppingen: Manuela Kinzel
Verlag. 2015.
78 Seiten.
ISBN: 978-3-95544-033-6

Schon 2007 machte Marco Kerler mit seinem Lyrikband „Damn Poetry“ auf seine Dichtkunst aufmerksam. Es folgten „Chapbook“ 2010 und „Schreibgekritzel“ 2015. In seiner derben, nicht immer blumigen Sprache bringt Kerler Sozial- und Gesellschaftskritik zum Ausdruck, die nach Veränderung schreit. Dabei legt er den Finger nicht direkt in die Wunden, sondern verwendet subtilen schwarzen Humor. Die Karikierung des modernen Menschen im digitalen Zeitalter, der scheinbar ausgeliefert googelnd durch die Welt surft, dabei eigene und fremde Gedanken, von Werbeblöcken überflutet, nicht mehr zu unterscheiden vermag, steht im Fokus des aktuellen Lyrikbandes Schreibgekritzel. Teilweise lesen sich die Gedichte als Fortführung seines Debüts „Damn Poetry”, doch viel prägnanter und ausgereifter. Die Kunst der Reduktion beherrscht Kerler wie kaum ein anderer der Literaturszene. Subversiv und humorvoll kommen die Verse daher, spiegeln unverkennbar Zeitgeist und Popkultur wieder: „Wir stricken/immer die gleichen Muster/ Maschen/ lass ich gern fallen”. Die Inspiration schöpft der aus Ulm stammende Autor aus dem Alltag, bedient sich teilweise realer und zeitweise auch fiktiver Figuren, strickt draus mit neuen Maschen Textkompositionen, die keinem Rahmen entsprechen und die nicht nur bei jungen Menschen Gehör finden. Mit seiner Rockband „MarcoBeatZ“ vertont Marco Kerler eigene Texte, schreibt fürs Theater und Hörspiele. 2011 erhielt er beim Förderpreis für junge Ulmer Künstlerinnen in der Sparte Literatur die Anerkennung der Stadt Ulm. 2015 wurde sein Hörspiel „Goldhähnchen” für den 6. Jenaer Hörspielwettbewerb nominiert. Im Oktober 2015 las der Autor auf der Buchmesse MQ im Museumsquartier Wien aus seinem aktuellen Gedichtband.

Marco Kerler: Schreibgekritzel. Rez.: Cornelia Stahl