Gurdrun Breyer: Vier Wochen

Vier Wochen

 

Woche 1
Diese Krise wird uns stärken.
Danach wird alles besser.
Jetzt gilt es, zusammenzuhalten.
Die Regierung zeigt vor, wie.

Die Menschen hamstern seit Tagen.
Es ist genug da, wird verlautbart.
Aber wovon niemand redet: der Angst hinaus zu müssen, wenn etwas fehlt.

Im Radio Werbung für Geschäfte, die geschlossen sind.

Am Sonntagabend eine SMS des Chefs: Wer auf den öffentlichen Verkehr angewiesen ist, muss bis auf Weiteres von zu Hause arbeiten. Pro Stockwerk maximal vier Personen, eine pro Büroraum, dazwischen ein Büro unbesetzt. Einzelnutzung von Teeküche, Kopier- und Sanitärräumen. Die Hygienevorschriften finden sich im Intranet dort, wo früher der Menüplan der Kantine stand.

Kommuniziert wird nun über eine Slack-Gruppe: Neben technischen und organisatorischen Informationen (zu Remote-Desktop-Zugängen, Datenschutz- und Sicherheitsvorkehrungen, dem Umgang mit Anfragen und Reklamationen) postet die Führung Motivationsparolen, die Belegschaft antwortet mit Willensbekundungen, fragt nach Computermäusen, Verlängerungskabeln, Adaptern und teilt ihre plötzliche Mehrfachbelastung mit. Das mittlere Management sorgt für tägliche Zerstreuung: Am Dienstag vom Marketingleiter ein Foto seines zum – geistreichen - Büro umfunktionierten Weinkellers, die Personalentwicklung geht der Arbeit in der eigenen Schwimmhalle nach. Der ehemalige zweite Stock teilt als Ersatz für den gemeinsamen Gang in die Kantine Fotos vom Mittagessen: Leberkäsesemmeln neben veganen Currys, Schnitzeln und Salatschüsseln. Die studentische Hilfskraft schreibt, dass ihr Handy – made in China – Aufnahmen ihres Chihuahuas als Essen kategorisiert. Das Back Office steuert seine Nervenzusammenbrüche bei. Schuld daran ist das auf Distanz(lernen) gegangene Schulwesen.

Das neue Zauberwort heißt Videokonferenz. Die erste – interne - beginnt holprig. Schließlich sind alle hör- und sichtbar, bis auf Martina – ihr Sohn braucht ihr Headset für eine Schulaufgabe. Ich kämpfe mit meiner Webcam – sie hält nicht auf dem Laptop und auf der Schreibtischlampe macht sie spätestens nach zehn Minuten eine 180-Grad-Umdrehung.  

Der Chef zum ersten Mal ohne Krawatte. Wir sollen nicht mehr von „Home Office“ sprechen. Wir arbeiten von zu Hause. Wir wollen den Arbeitsinspektor nicht in unseren vier Wänden haben und in Zeiten wie diesen ist es besser, nicht an bestehenden Dienstverträgen zu rütteln. Sie könnten genauso fragil sein, wie die Obstbaumblüten nach den letzten Frostnächten.

Die Teambesprechung wird beendet durch
kreischende Kinder
hungrige Lebenspartner
instabile Internetverbindungen
einen Kabelbruch (Miriams Kaninchen).   

In den Nachrichten die ersten drei Toten. Alter, Wohnort, Krankheitsverlauf. Genaue Nennung der Vorerkrankungen. Nette alte Männer, die sich im Wirtshaus zum Kartenspiel trafen, von ihren Enkeln erzählten und gemeinsam die Welt verbesserten.  

 

Woche 2

Natürlich wird alles anders und nichts so bleiben, wie es ist. 
Diese Krise ist eine Chance: Wir werden uns daran gewöhnen, was uns wichtig ist, aus der Ferne zu betrachten, privat und beruflich.
Unser Konsum- und Reiseverhalten wird sich ändern.
Wir werden Verzicht leben und lieben lernen.

Die Tage vergehen mit der Suche nach besseren Headsets und dem Aufstocken von Internetkapazität. Die Webcam gibt ungeschönt wieder, was sie sieht. Damit der Chef keinen falschen Eindruck bekommt:
zu Tode gegossene Topfpflanzen auf den Balkon stellen
Bilder abhängen oder austauschen
Regale abstauben
Fenster putzen
zusammenräumen
oder
einfach den Schreibtisch so zurechtrücken, dass man nur die Wand sieht.  
Im Notfall: Kamera deaktivieren. Eine zunehmend gewählte Option, wo Haare und Augenbrauen nachgetönt werden müssten.

Bei der nächsten Teambesprechung erscheint der Chef mit Drei-Tages-Bart. Mittlerweile hat das gesamte Team die Handhabung der Mikros verinnerlicht. Störende Nebengeräusche werden dezent weggeschaltet: Kinder, Schwiegermütter, Wellensittiche. Ich betrachte meine weißen Socken und freue mich, dass ich sie nun endlich austragen kann: Die grünen Kleeblätter passen nicht zu dem Rock. Das sieht niemand, genauso wenig, wie das Loch.  

Die letzte explizite Nennung einer Toten: eine Frau mittleren Alters. Ihre Vorerkrankungen werden nicht erwähnt.

Die Lage stabilisiert sich in China und eskaliert in Italien und Spanien. Ich kaufe nur noch heimisches Obst und Gemüse für meine Großmutter. Alles andere verweigert sie.

Im Radio statt Werbung Appelle der Regierung. Memes fluten mein Handy: von leeren Kaufhausregalen, von Menschen, die sich ihre eigenen Schutzausrüstungen basteln und von Wildtieren im Stadtgebiet.

In den Nachrichten ein Priester, der in einer Kirche Särge mit Weihwasser besprenkelt. Nahaufnahme eines Sargs mit einer langstieligen roten Rose.

 

Woche 3

Auf Abstand bleiben, Rücksicht nehmen, so schaffen wir das.

Wer ist „Wir“?
Warum gibt es noch immer keine Trockengerm und kein weißes Toilettepapier?
Tausche selbstgeschneiderte Mundschutzmaske gegen Obiges.

Im Radio ein Wandel: an die Ausgangssperren angepasste Werbeeinschaltungen. 
Ab Montag eine Hälfte der Belegschaft in Kurzarbeit, die andere passt die Prozesse den neuen Gegebenheiten an: online- oder eingehen. Durchhalteparolen von Geschäftsführung und Regierung, die Koalition geht in den Widerstand, im Parlament und anderswo. Schutzmasken taugen nicht als Beißkörbe.

Wie viel Prozent des Soforthilfepakets werden durch die Einnahme aus Strafgeldern finanziert, die bei Verstößen gegen die Schutzmaßnahmen verhängt wurden? 

Ich sitze in Jogginghose, Bluse und Blazer beim Schreibtisch. Bildschirmpausen sind keine Pausen per se, erinnert die Geschäftsführung. Wir sollen sie nutzen für:
den Gang zum Drucker – entfällt
das Holen der Post (gemeint ist die Geschäftskorrespondenz, nicht die private) – entfällt
das Lesen besagter Post – entfällt
Telefonate (geschäftliche) – sind auf ein Minimum reduziert
das Gießen der Zimmerpflanzen (siehe Trauerspiel am Balkon)
das Lüften des Büros – viel zu windig
den Gang zur Toilette – ich habe weder Reizdarm noch -blase.
das Holen von Kaffee/Wasser – mein Kaffeekonsum steigt fast so rasant wie die die Zahl der Covid-19-Infizierten.

In den Nachrichten eine voll geparkte spanische Tiefgarage. Statt Autos Särge. Keine Rosen. Kein Weihwasser. Kein Priester.
 

Woche 4

Abstand halten.
Durchhalten.
Die Regierung zeigt, wie.

Offiziell über eine Million Infizierte. Die Dunkelziffer liegt höher.
Niemand weiß, wie viele den Virus in sich tragen. Niemand weiß, was er mit den Menschen macht. Was nistet sich in den Körpern ein, in den Köpfen, in der Gesellschaft, in der Wirtschaft? Wird sich das „besser“ und „anders“ mit all dem Abstand tatsächlich gut anfühlen?

Ich halte die Nachrichten nun auf Abstand. Die ersten Krisenherde sind bald überwunden. Die nächsten in Sichtweite. Andere Sprachen, andere Bauweisen, die Gesichter heller oder dunkler, aber die Bilder die gleichen: Atemmasken, Schutzanzüge, Einweghandschuhe. Sie legen sich eng um den Verstand, wie Scheuklappen führen sie die Blicke.

Am Ende des Arbeitstags brennen meine Augenvierecke. Ich schalte auf Stand-by und öffne das Fenster. Knallbunt gekleidete, winkende Rennradfahrer, in Kinderwägen plaudernde Mütter, ihren Vierbeinern hinterher hechelnde Hundebesitzer. Über der Siedlung das Dröhnen eines Notarzthubschraubers.

Meisen bauen sich unter dem Dach ihr Nest. Sie kümmert wenig, was die Menschen in ihren Häusern hält. Sie nisten hoffnungsvoll. Eine alte Frau bleibt stehen. Ich winke ihr zu. „So ein schöner Schnittlauch“, sagt sie und deutet auf meine Kräuterspirale. Ob sie etwas davon haben will, frage ich. Sie nickt und lacht. Die Vögel flattern auf. Ich spüre, wie das Nest wächst.