Roul Starka: Versuch

Versuch

Der zurzeit wahrscheinlich häufigste Satz weltweit: Wann wird wieder alles normal werden? Ich hoffe nie wieder, weil was wir als normal bezeichnet haben, war nichts anderes als die Welt anzünden. Vielleicht ist Corona unsere letzte Chance, eine globale Ohrfeige. Es gibt nur uns alle, knapp acht Milliarden Kinder, die jetzt gemeinsam das Zimmer aufräumen müssen. Wollt ihr wirklich nachher so sein wie vorher, so leben wie vorher?

Dann werden wir oder die nächste Generation nicht in Mund-Nasen-Schutzmasken herumlaufen müssen, sondern in Sauerstoffmasken und Schutzanzügen. Wie viel Plastik sollen unsere Fische noch fressen, wie viele Verbrennungsmotoren sollen noch falsch parken, um sich ein neues Handy zu kaufen, auf dem sich die Lenker und Lenkerinnen der Welt alles anschauen, nur nicht die eigene schreiende Seele?

Wir haben mit unserer Lebensweise mehr getötet als alle Menschen zuvor. Nur machten wir es so leise, so schön gekleidet, so indirekt, so lachend mit hübschen Proseccogläsern in der Hand. Unser konsumverkleideter Narzissmus zeigt sich in den Tränen dieser Welt.

Was noch keine Philosophie geschafft hat, Corona könnte es schaffen, unsere RTL2-Pizzagatschgenetik zu ändern. Corona wird uns jedoch nicht fragen, ob wir es lesen wollen oder nicht. Corona liest uns, nicht umgekehrt. Wir können uns die gesäuselte Genesis und sonstige Märchen endgültig in die schlecht gefärbten Haare schmieren, es hat sich ausgegottet. Es gibt eine Frau Corona, und ich würde sie mit „Bitte, Mama, darf ich dich etwas fragen?“ ansprechen. Sie wird dir antworten, auf all deine Fragen. Aber erst wenn alle ihre Kinder zu essen haben, ein Dach über dem Kopf haben und vor einem warmen Ofen sitzen, wird sie sich wieder hinsetzen in ihren großen, alten Sessel.

Die Abstände zwischen uns Menschen waren vor Corona wesentlich größer als jetzt. Vor lauter Spieglein-Spieglein-an-der-Wand ist uns das nicht aufgefallen. Nicht Licht- sondern Ego-Jahre waren wir voneinander entfernt. Nur das Abkommen, dass wir im Gucci-Fetzen gemeinsam latte macchiato zum Milchkaffee sagen und unsere Autoschlüssel blöd im Kreis drehen, hat uns glauben gemacht, wir seien eine Gemeinschaft. Unsere frei gewählten Masken vor Corona waren hässlicher als die ab heute.

Noch dürfen wir uns mit den Augen anlächeln, gut so, da kann man nicht schummeln. Ich glaub an uns, ich glaub an dich. Setz bitte die Maske auf, für uns, für eine neue Welt. Danke!

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Roul Starka

St. Pölten, 1.4.20