Buch

Konstantin Kaiser: Die Entfremdung ist ein Untermieter der Hoffnung

Cornelia Stahl

Konstantin Kaiser:
Die Entfremdung ist ein Untermieter der Hoffnung

Lügengedichte und kleine Geschichten.
Wien: Theodor
Kramer Gesellschaft, 94 Seiten
ISBN: 978-3-903522-07-7

Den Finger in die Wunde legen. Vor mir liegt die Neuerscheinung des Autors Konstantin Kaiser. Ein schmales Büchlein mit Gedichten und Lügengeschichten.
Anfangs bin ich über das Wort Entfremdung gestolpert. Der Definition folgend bezeichnet sie „einen individuellen oder gesellschaftlichen Zustand, in dem vormals feste, nicht in Frage gestellte Beziehung des Menschen aufgehoben, verkehrt, gestört oder zerstört wird“. Von der Verkehrung der Verhältnisse erzählt Kaiser im ersten Teil des Bandes, in seinen Lügengedichten, wie etwa im Eingangsgedicht „Das Schöne”:
Ein schmaler Grad im Dasein ist das Schöne
So gering an Gewicht wie die elektrische Leitung in
der Masse des Hauses
wie Blütenstaub im Pelz einer Hummel.


Mitunter nimmt der Autor Anleihen bei Märchen und Sagen, um gesellschaftliche Missstände vorzuführen. Ein Beispiel dafür zeigt sich im Gedicht „Reichsein ist teuer” :
Droben in Böhmen
wölbt sich das Land
ist ein Berg mit Ziegen. (…)
Von Mal zu Mal kommt der reiche Graf geritten
die schöne Hirtin (…) zu betrachten.

Im zweiten Teil des Bandes spiegeln Geschichten und Logbuch- bzw. Tagebucheinträge die Haltung des Autors, wie folgender Eintrag zeigt: 15.Mai 1999/2022
Antisemitismus, Verfolgung der Bücher. Man trägt sie, seit sie verbrannt worden sind, mit sich herum. Kaisers Gedichte wie auch seine (Lügen)Geschichten skizzieren präzise Beobachtungen und fordern Leser*innen zum mehrmaligen Lesen heraus.
Konstantin Kaiser, geboren 1947 in Innsbruck, ist Literaturwissenschaftler und seit 1983 als freier Schriftsteller tätig, der seit mehr als vierzig Jahren Logbücher führt. Er erhielt zahlreiche Preise, u.a. 2009 das Goldene Verdienstzeichen des Landes Wien.

Friedrich Zwickl: Wochen, die mein Leben prägten

Gerald Jatzek

Friedrich Zwickl:
Wochen, die mein Leben prägten – ein Tatsachenbericht,

Kral Verlag, Berndorf
2023, 96 Seiten
ISBN: 978-3-99103-135-2

Krieg ist wieder Realität. Videos in den Nachrichten und im Internet bringen den Krieg in der Ukraine in die Wohnzimmer. Doch selbst gestochen scharfe Bilder vermitteln nicht den Verlust von Gewissheiten des Lebens wie Nahrung und Arbeit, Geborgenheit und Vertrauen, Wohnstätte und Heimat.
Friedrich Zwickl beschreibt in seinen Erinnerungen, wie der Krieg in die Kindheit eindringt, zunächst in der Form von zackigem Grüßen und militarisierten Turnübungen, dann als bange Stunden in Bunkern. Und 1944, Zwickl ist gerade elf, beschließt das nationalsozialistische Regime, die Kindheit überhaupt abzuschaffen: „Mit einigen Schulkollegen wurde ich später noch zur Panzerfaustübung eingeteilt.“ (S. 27)
Eine ganze Generation wurde so um Kindheit und Jugend gebracht. Zwickl fasst den Vorgang prägnant zusammen: „Dennoch versuchte ich, den Starken zu spielen und meiner Mutter Mut zu machen, es war ja sonst niemand da, der sie hätte trösten können.“ (S. 29)
Dann ist der längst verlorene Krieg schon vor der Haustüre, und erste Granaten schlagen im Dorf ein. Aber die Verbrecher in Berlin schicken noch Tausende in den Tod. Die Gestalt im Wald, die den jungen Zwickl erschreckt, ist ein alter Mann, der sich vor den Fanatikern versteckt, die ihn für den „Volkssturm“ verpflichten wollen. Wer kann, flüchtet zu Verwandten, und sobald sich dort die Front nähert, weiter. Niemand weiß, ob die Abschiede für einige Tage oder für immer sind: Zwischen 26. März und der Kapitulation am 8. Mai 1945 starben laut dem Totenbuch Puchbergs 204 Menschen, darunter 34 russische Soldaten.
Bald kennen die Kinder die Reichweite von Granatwerfern und den Klang verschiedener Geschosse.
Und schließlich rettet den 16-jährigen Bruder nur ein glücklicher Zufall, als ihn russische Soldaten für ein SSMitglied halten. Dank der lebensnahen Schilderungen in Alltagssprache kann ich den Band auch als Klassenlektüre für 13-Jährige empfehlen.

Milena Michiko Flašar: Oben Erde, unten Himmel

Eva Riebler

Milena Michiko Flašar:
Oben Erde, unten Himmel

Verlag Klaus Wagenbach
Berlin 2023
286 Seiten
ISBN: 978-3-8031-4363-1

Die Protagonistin Suzu lebt mit Hamster in einer japanischen Großstadt, ist die Ich-Erzählerin und leitet durch den Roman. Sie braucht nicht viel Gesellschaft um sich, ist jedoch traurig, dass ihr Freund sie nicht mal mehr anspricht und sie von einem Tag auf den anderen als Kellnerin wegen „mangelndem Liebreiz” gekündigt wird. Sie braucht jedoch eine Arbeit und landet bei einer Reinigungsfirma, die hinter Verstorbenen (Kodokushi), die oft wochenlang in ihren Räumen lagen, bis der Geruch Nachbarn auf den Plan rief, respektvoll und hygienisch perfekt säubern. Es ist Schwerarbeit, die ganze Verlassenschaft muss geordnet und die Wohnung wieder in einen vermietbaren Zustand gebracht werden. Zum Schluss wird mit einer kleinen Zeremonie dem unbekannten Verstorbenen persönlich Respekt erwiesen. Flasar fügt die Lebensinhalte und Lebensphilosophie des Teams der Leichenfundortreiniger dazu, sie lässt die Hauptperson Suzu minitiös die Nachbarn Fuji oder die Eltern in ihrer kommunikativen Zurückgebliebenheit beobachten und führt als Kontrapunkt den herzensgebildeten, etwas groben und direkten Firmenchef Sakai ein. Seine Sprüche sind die reine Wahrheit und durch ihn bildet sich eine enge Gemeinschaft des Arbeitsteams heraus.
Die Leser werden selbst im Sterbezimmer Sakais noch mit psychologischen Einblicken belohnt. Der eigene Tod wie der eines anderen ist nicht wirklich vorstellbar und trotzdem tut sich die Frage nach ihm und den moralischen Standards auf. Das Werk hält einen Fuß in die Tür des Verabschiedens und legt einen neuen Schwerpunkt auf moralisches Miteinander und auf gegenseitige Achtung.
Ein großartiges Buch, voll von japanisch getönter Philosophie! Wie bei den vorangehenden, mehrfach ausgezeichneten Romanen „Herr Kató spielt Familie”und „Ich nannte ihn Krawatte” sinkt der Leser in die Personen ein und nimmt Einfachheit und Klarheit mit!

Peter Becher: Unter dem steinernen Meer

Cornelia Stahl

Peter Becher:
Unter dem steinernen Meer

Roman
Prag: Vitalis Verlag, 2022.
200 Seiten
ISBN: 978-3899196467

Gespenster der Heimsuchung. „Gespenster erstehen aus unserer Angst vor der Vergangenheit der Räume, in denen wir leben. (…) In unseren Gebäuden sind Dinge passiert, von denen wir nichts wissen“. Daniel Kehlmanns Poetikvorlesung „Kommt, Geister“ (2014) spiegelt atmosphärisch, was uns in Peter Bechers Roman begegnet. Darin treffen sich 1990 zwei Jugendfreunde nach dem Fall des Eisernen Vorhangs, in einem böhmischen Gasthaus, wieder: der deutsche Arzt Karl Tomaschek und der tschechische Ingenieur Jan Hadrava. Das Gespräch ruft in ihnen Erinnerungen und Verdrängtes wach. Sechs Monate später findet man Tomaschek in einer österreichischen Almwirtschaft, erfroren nach plötzlichem Wintereinbruch. Der Autor skizziert die Freundschaft zwischen den Jugendfreunden und menschliche Schwächen wie Verrat, Niederlage und Gewalt. Parallel erzählt er von der ambivalenten Beziehung zwischen Tomascheks Söhnen Andreas und Thomas, die nach dem Tod des Vaters, nach jahrelanger Distanz, erneut aufeinander zugehen und sich Fragen nach der Herkunft des Vaters stellen: Vielleicht, sagte sich Andreas, hätten wir ihn öfters fragen sollen, nach seinen Eltern,(...) die wir eine Kindheit lang besucht und doch nie richtig kennengelernt haben“, S.23.
Besuche führten sie zur mütterlichen Verwandtschaft in die Steiermark, zu bekannten Wegen, im Gegensatz zum Böhmerwald, wo Tomascheks Eltern lebten. Erkundigten sich die Brüder, reagierte der Vater ungehalten: „Seid froh, dass ihr hier lebt, dass ihr euch frei bewegen könnt“. In authentischen Dialogen thematisiert Becher Freundschaft und Verrat, erzählt von Annäherung und Versöhnung, die zeitlos und zugleich dringlich erscheint. Literaturhistoriker Peter Becher, geboren 1952, Vorsitzender des Adalbert Stifter Vereins München, erzählt (Familien)Geschichte, verortet zwischen Österreich, Böhmen und Deutschland. Letzte Veröffentlichung: „Prager Tagebuch“, 2021, ein Kaleidoskop tschechischer und deutscher Schriftsteller*innen.

Adrian Kasnitz: Im Sommer hatte ich eine Umarmung

Gerald Jatzek

Adrian Kasnitz:
Im Sommer hatte ich eine Umarmung

Parasitenpresse, Köln
2023, 90 S.
ISBN: 978-3-988050-09-0

Poetische Vielfalt. Adrian Kasnitz ist zunächst einmal Brückenbauer. Mit der Parasitenpresse stellt er übersetzte Lyrik aus zahlreichen Kulturen vor, darunter auch aus sogenannten kleinen Sprachen wie Albanisch, Birmanisch, Dänisch, Griechisch oder Lettisch. Mit dem Wissen um eine Vielfalt an Traditionen und Stilen entscheidet sich Kasnitz bei den eigenen Gedichten in vielen Fällen für eine an lyrische Prosa angenäherte Form.
Nicht wenige Texte gehen im Sinne Charles Olsons vom Autor, respektive seinem lyrischen Ich aus: „Weil ich keinen Kaffee hatte, geh ich nicht ans Telefon / wenn du anrufst und von Berlin erzählst, der Hype ist doch / längst vorbei (…)“, beginnt ein Text rund um den Morgen eines Verlegers.
Dabei findet der Autor freilich in surrealistischer Tradition poetische Wörter und kombiniert sie mit Slapstick- Einlagen: „Habe mir Reis aufgehäuft und Fleischbällchen dir / versuche meiner Tochter zu erklären, was ein Oxymoron sei / ein Wort in der Nachbarschaft und Okapi / er wohnt im fernsten Ozean, den noch niemand entdeckt / habe mit Fleischbällchen dich hast mit Reis mich beworfen (…)“
In Texten, in denen Rhythmus und Melodie stärkere Bedeutung haben, finden sich lakonische Formulierungen, die – vermutlich seit Leonidas – das beste Mittel gegen Pathos darstellen: „In die südliche Stadt kommen die Leute / aus dem Winter, fassen sich an die Brust (…) dann kommen sie langsam auf dumme Gedanken / und schauen den Einheimischen hinterher“.
Der Band hat freilich noch viel mehr zu bieten, was hier nur aufgezählt werden kann: das – selbstverständlichgebrochene – Naturgedicht, die Reflexion der Lyrik auf sich selbst, parodistische Anklänge an Liebesgedichte inklusive und das vorauseilende Epitaph für Insassen der Intensivstation Instagram. Wobei viele Texte andere Sichtweisen erlauben als meine. Denn: „Jeder hat eigene / Interessen in einem Traum“.