Bildende

Ein Glück für die Kunst: Gerhard Glück. Rez.: Ingrid Reichel

Ingrid Reichel
DIE ERÖFFNUNG EINES NEUEN ZENTRUMS IM MQ MIT VIEL GLÜCK

 

 

Gerhard Glück:
Gertrud Schweigert
nach
dem Besuch
des Eduard-Munch-Museums

 
EIN GLÜCK FÜR DIE KUNST
Cartoons aus dem Leben von Munch, Mirò & Co
Gerhard Glück
Komische Künste, Museumsquartier Wien/ Arena 21/ Quartier 21
02.12.2010 - 09.01.2011

 

 

 

Eigentlich kommen Thomas Zauner und Fritz Panzer aus der Buchbranche. Noch vor kurzem war Panzer geschäftsführender Gesellschafter und Zauner langjähriger Programmleiter im Ueberreuter Verlag. Nun ist Panzer Geschäftsführer der Komischen Künste Verlagsges.m.b.H. und Vize-Präsident des Clubs der Komischen Künste e.V. und Zauner Präsident des Clubs.
Der Geschäftsführer des Museumsquartiers Wolfgang Waldner freut sich über den Zuwachs in der Arena 21.
Dabei gab es schon eine Initiative im MQ mit einer Comic-Passage für Wort und Bild. Sie dürfte in die Schönbrunnerstraße 143/28 im 5. Wiener Bezirk übersiedelt sein. Seit Jahren gebe es einen anhaltenden Versuch, beteuert Waldner bei der Pressekonferenz, nun etabliere sich ein echtes Zentrum für Komische Künste.
Für Zauner und Panzer sind Ausstellungen Neuland. Mit großem Enthusiasmus gehen sie ans Werk, die Schnittstelle zwischen Kunst und Humor, die Cartoons an und für sich zu fördern.
Artverwandte Genres wie Karikaturen, Comics und Graphic Novels sollen ebenfalls nicht fehlen.
Ausstellungen im MQ, Wanderausstellungen in Österreich und Umgebung, Agenturtätigkeit für Künstler und Jungkünstler stehen auf dem Arbeitsprogramm. Für nächstes Jahr sind bereits zwei weitere Ausstellungen geplant, u.a. mit Gerhard Haderer. Sammler und Förderer sollen mit den Künstlern informell zusammentreffen, so lautet das Motto der beiden Initiatoren. Ab Februar 2011 wird das Zentrum durch einen Shop der Komischen Künste ergänzt. Mit einer eigenen Homepage präsentieren sich die Komischen Künste auch im Internet: www.komischekuenste.com
Der Leiter des deutschen Museums für Karikatur und Zeichenkunst Wilhelm Busch Hans Joachim Neyer erläuterte kurz die Geschichte des Cartoons, die erstaunlicherweise bereits im 16. Jahrhundert begann. Er erwähnte William Hogarth, als ersten Cartoonisten, der davon leben konnte und bezeichnete humorvoll Gerhard Glück als jenen, der wohl als letzter davon leben kann.

Die erste Ausstellung der Komischen Künste ist also Gerhard Glück gewidmet. Er gilt als einer der bekanntesten satirischen Maler im deutschsprachigen Raum. Glück wurde 1944 in Bad Vilbel in Hessen geboren. Aufgewachsen ist er in Frankfurt am Main. Er studierte an der Werkkunstschule Kassel Grafik-Design und an der Kunsthochschule Kassel Kunsterziehung. 1972 erschienen seine ersten Cartoons in der hessischen Allgemeinen. Seit 1991 werden seine Cartoons monatlich in NZZ-Folio der Neuen Züricher Zeitung und seit 1994 im berühmten Satiremagazin Eulenspiegel veröffentlicht. Viele Illustrationen und auch Titelblätter wurden in der Süddeutschenzeitung, Die Zeit und Cicero publiziert oder auch für Buchcover verwendet. Im Verlag Lappan erscheinen seine Cartoonbücher. Dreimal gewann er bereits den Deutschen Karikaturpreis „Geflügelter Bleistift“: einmal in Silber, zweimal in Gold, zuletzt 2005.

 

 
Gerhard Glück: o. T.  

Insgesamt sind 120 Originale – Gouachen auf Papier - zu sehen. Schwerpunkt der Ausstellung sind ausgewählte Werke der letzten Jahre, die sich mit der Kunst auseinandersetzen. Im letzten Abteil sind passend zum Advent, Originale für seine Cartoon-Weihnachtspostkarten zu sehen. Zur Ausstellung erschien mit exklusiver Lizenzausgabe ein Katalog. Die Originalausgabe des Lappan Verlags (Oldenburg) erschien bereits 2006 unter dem Titel Kunst & Co. Für 2011 ist eine Neuauflage in Aussicht. Im Großen und Ganzen gibt der Ausstellungskatalog die Exemplare der Schau wieder.
Glück ist kein gfehrnster Cartoonist, wie man auf Wienerisch sagen würde, keiner, der also mit hinterhältigem Humor nach vorne prescht. Seine Werke sind durchgehend mit einem charmanten Witz behaftet, der aus einer menschenfreundlichen Betrachtungsweise entsprungen ist. Ob er dabei Museumsbesucher und Kulturfreunde aufs Korn nimmt oder renommierte Weltkünstler, man kommt aus dem Schmunzeln wegen seiner genialen Einfälle nicht heraus: Der verdorrte Gummibaum, der dem Besitzer und Kunstkenner Herrn K., wie eine wertvolle Giacomettiskulptur vorkommt; der Demonstrant vor einem Museum, der die Besucherschlange davor warnt, dass sich für eine „scheiß Ausstellung“ anstellen; das Bankvorstandsmitglied K. v. L., der vor seinem Gemälde „Zeigeist“ als stolzer Adabei-Sammler steht, nicht ahnend, dass auf seiner Neuerwerbung ein Scheißhaufen abgebildet ist, der direkt über seinem Kopf, wie ein Heiligenschein zu schweben scheint. Warum es Cézanne unmöglich war das Stillleben „Ingwertopf auf Apfelpyramide“ zu malen, bedarf schon genauerer Kenntnisse um den Witz zu verstehen. Cézanne wurde gerne von seinen Malerkollegen verspottet, da sie meinten er sei unfähig Perspektive einzuhalten. Seine Krüge, Tassen und Orangen auf seinen Stillleben hatten immer eine gewisse Unstabilität aufzuweisen. Man wusste nie, ob nicht bald ein Objekt kippen würde… Es sei gesagt, dass jedes Werk wert wäre, erwähnt zu werden. Wenn Sie Kunstliebhaber sind, lassen Sie sich diese Schau nicht entgehen. Sie ist einfach köstlich.

 

Der Katalog erweist sich als wunderbares Weihnachtsgeschenk und ist mit 25.- Euro ein echtes Sonderangebot!

 

 

Katalog:
EIN GLÜCK FÜR DIE KUNST
Cartoons aus dem Leben von Munch, Mirò & Co
Gerhard Glück
Wien: Komische Künste Verlag, 2010. 110 S.

 

Ein Glück für die Kunst: Gerhard Glück. Rez.: Ingrid Reichel

Mahnmal Viehofen: Catrin Bolt und Tatiana Lecomte. Bericht: Ingrid Reichel

Ingrid Reichel
UM DEN PREIS DER LÄCHERLICHKEIT
oder
SCHANDMAL STATT MAHNMAL?

 
MAHNMAL VIEHOFEN
Catrin Bolt und Tatiana Lecomte
Seedose, Viehofner See, St. Pölten
Eröffnung: 14.11.2010, 14.30 Uhr

Es sind die schrecklichen Geschehnisse vor 65 Jahren, die uns an diesem lauen Sonntag, den 14. November im Naherholungsgebiet der St. Pöltner in der Seedose, dem Lokal am Viehofner See zusammenbrachten: zur Eröffnung des Mahnmals Viehofen.
Ein Mahnmal, das a) an das Zwangsarbeitslager für ungarische Jüdinnen und Juden (Viehofner See) und an das nahe gelegene b) Zwangsarbeitslager der c) Glanzstoff-Fabrik (Ehemaliges Lager der Glanzstoff-Fabrik) während des II. Weltkriegs in den Jahren 1942-1945 sowie an das Massengrab am städtischen Friedhof erinnern soll.
Die ungarischen Juden und Jüdinnen wurden eingesetzt, um den örtlichen Fluss Traisen zu regulieren. Die vorwiegend aus Polen, Ukraine und Russland stammenden Deportierten wurden zur Umschulung und zur Arbeit in der Glanzstoff-Fabrik eingesetzt. (Zur Info: Nicht weit von diesen Orten des Grauens befand sich auch ein Kriegsgefangenenlager, das hier nicht thematisiert wird.)

Anlass war ein von der Stadt St. Pölten und vom Land NÖ (Kunst im öffentlichen Raum NÖ, www.publicart.at) gemeinsam ausgetragener internationaler offener Kunstwettbewerb mit einer Abgabefrist vom 08.06.2009. Eine zehnköpfige Gutachterkommission [1] bestehend aus Mag. Thomas Pulle, Direktor des Stadtmuseums St. Pölten, Dr. Martha Keil, Leiterin des Instituts für Geschichte der Juden in Österreich, sowie Kunsthistorikern, Künstlern, Architekten und Baudirektoren entschied laut Wettbewerbsunterlagen am 22.06.2009 nach folgenden Kriterien: künstlerische Qualität, Eingehen auf die künstlerische Aufgabenstellung, Realisierbarkeit innerhalb des vorgegebenen Kostenrahmens, technische Machbarkeit sowie Betriebs- und Instandhaltungsaufwand. Weiters habe das Gremium die eingereichten Wettbewerbsarbeiten zur Realisierung zu empfehlen. [2]
Ursprünglich waren drei Preise mit Preisgeldern in der Höhe von 5000.-, 3000.- und 2000.- Euro ausgeschrieben. Vorgesehen waren „bei einer Realisierung der künstlerischen Maßnahmen ein Gesamtbudget von 80.000.- Euro (inkl. aller Nebenkosten).“
Die Jury entschied sich jedoch zur Umsetzung zweier Einreichungen, die ex aequo den ersten Preis [3] zugeteilt bekamen: Die Projekte der Künstlerinnen Catrin Bolt und Tatiana Lecomte. [4]

Nach 65 Jahren des Schweigens wusste man zwar im Groben Bescheid, aber von keinen Details, da das Gelände lange im Privatbesitz war, so Bürgermeister Mag. Matthias Stadler in seiner Eröffnungsrede. Der Prozess der Verarbeitung sei noch lange nicht abgeschlossen, es mache ihn schwer betroffen, denn der letzte Moment, Zeitzeugen zu befragen, wäre gekommen. Sein Dank gelte Mag. Manfred Wieninger [5], der bei den Wasserwerken recherchierte und ein paar Zeitzeugen, die sich meldeten, interviewte. Bis dato gab es keine Veröffentlichung über die beiden Zwangsarbeitslager und das Massengrab. Dabei begann es bereits 1997 mit einem Brief von Rózsi Halmos, einer Überlebenden des jüdischen Zwangarbeiterlagers, adressiert an die jüdische Gemeinde St. Pölten, die es nicht mehr gab, und der deshalb nach dem Magistrat St. Pölten an das Institut für Geschichte der Juden in Österreich [6] weitergeleitet wurde. Laut Wieningers Bericht war „60 Jahre über das Thema der jüdischen, aber auch polnischen, ukrainischen, russischen usw. Zwangsarbeiter im damaligen Groß-St. Pölten keine einzige Zeile publiziert worden, nicht einmal das Wort Zwangsarbeiter hatten die Lokalhistoriker vor mir niedergeschrieben.“ (Zitat aus: „Wir leben eh nicht mehr lang. – Das Lager St. Pölten-Viehofen“ von Manfred Wieninger, nachzulesen auf
http://www.mahnmal-viehofen.at/docs/Wir%20leben%20eh%20nicht%20mehr%20lang.pdf)

Spätestens 1997 hätte man auf Grund der Nachfrage um den Standort eines Grabes und der Beschreibung des Zwangsarbeiterlagers seitens der Stadt und des Landes NÖ mit den Recherchen beginnen müssen. Trotzdem macht man heute im Jahr 2010 gute Miene zum bösen Spiel und bedankte sich bei der Eröffnung des Mahnmals gegenseitig für die reibungslose Zusammenarbeit zwischen Stadt und Land. Was könnte man unter diesen Umständen auch anderes tun?
Mag. Raimund Fastenbauer, der in seiner Funktion als Generalsekretär der Israelitischen Kultusgemeinde Wien (IKG) zur Eröffnung erschien, hielt eine kurze und prägnante Rede. Er sehe die Eröffnung des Mahnmals zum Gedenken der ermordeten Juden als würdiges Begräbnis. Ziemlich nüchtern sprach er nach seinen Worten des Dankes und der Anerkennung ein paar rückblickende Worte der Kritik. Dabei gehe es um den verfehlten österreichischen Bildungsauftrag seitens der Politik in den letzten 60 Jahren. Er selbst maturierte 1968 und weiß, wo der Geschichtsunterricht in Österreich geendet hat. Österreich sei ein Land der Opfer und Täter. Fastenbauer verwies auf die alljährlichen Kranzniederlegungen der gefallenen Soldaten. Der 6 Millionen Ermordeten könne man (nur) privat gedenken. Fazit seiner Rede war: Besser spät als nie: „Es ist ein Gedenken mit moralischer Klarsicht, damit sich das Negative nicht wiederhole: Niemals wieder!“ Er schloss seine Rede mit dem hebraïschen Totengebet, welches er anschließend auf Deutsch vortrug.

Die Geschichte könne sich in eine Landschaft einzeichnen, stellte die Kuratorin des Projekts Mag. Cornelia Offergeld in ihrer Rede fest. Dabei bezog sie sich auf das psychologische Phänomen, wenn Menschen ein Konzentrationslager besuchen, automatisch durch ihre Betroffenheit schweigsam werden.
Hier sei ein neuer Weg beschritten worden künstlerisch mit Erinnerung und Mahnmal umzugehen, bestärkt sie die Entscheidung der Jury. Offergeld erläutert kurz die Funktion von Denkmälern und Mahnmalen, die Trauer- und Versöhnungsarbeit ermöglichen, kollektive Vorgänge in Bewegung setzen, Erinnerungen wachrufen und Trost geben können. In Österreich fand erst in den 80er Jahren Geschichtsaufarbeitung statt, nicht zuletzt waren es Arbeiten von den Künstlern Hans Kupelwieser und Valie Export, die dies ermöglichten, so Offergeld. Die Umsetzung von Bolt und Lecomte seien als aktive Handlung zu sehen und ein Aufruf an die Bevölkerung zur Auseinandersetzung mit der eigenen geschichtlichen Orientierung sowie eine Aufforderung zum Mitdenken. Dies geschehe alles ohne Pathos. Die beiden Künstlerinnen stehen hinter ihren Projekten und nicht im Rampenlicht. Für die Kuratorin stellt sich die Frage: Wie ein Mensch so viele Reaktionen auf sich nehmen kann? Künstler nehmen mitunter die Rolle des Psychiaters ein, viele Emotionen werden ihnen gegenüber freigelassen.

 
Die 1979 in Kärnten geborene und in Wien lebende Catrin Bolt geht mit ihrem Konzept der Orientierungstafeln auf die Gegenwart ein. Gerade in Freizeitarealen werden diese gerne genutzt, um den Standort zu lokalisieren, nach dem Motto: Sie befinden sich HIER.
Bolts Orientierungstafeln bestehen aus einer Luftbildaufnahme vom Standort, aufgenommen im April 1945, wo eindeutig die Lager zu sehen sind. Dieses Foto stammt aus dem amerikanischen Nationalarchiv in Maryland und entstanden (laut Einladungskarte am 11.04.1945) aus einem Aufklärungsflugzeug nach dem Bombenangriff der Amerikaner gegen das Nazi-Regime. Insgesamt sind fünf Tafeln vorgesehen, auf denen die Baracken der Arbeitslager sowie Teile der Strecke des Todesmarsches samt Legende eingezeichnet werden sollen. Durch ein Ätzverfahren werden die Fotos auf Metalltafeln eingeritzt. Weiters steht in der Projektbeschreibung: „Für das Massengrab sieht Catrin Bolt die Entfernung der Kreuze und die Errichtung von mehreren Grabsteinen vor, auf denen die Namen der Verstorbenen festgehalten werden, sowie Texttafeln, die weiterführende Informationen zu Todesursachen oder Erinnerungen der Hinterbliebenen festhalten.“

Die 1971 in Bordeaux geborene und ebenfalls in Wien lebende Künstlerin Tatiana Lecomte überzeugte die Jury mit einer konzeptuellen und interaktiven Arbeit. Ein Tagebucheintrag vom 28. April 1944 des auf Gut Antonshof bei Schwechat und in Floridsdorf internierten 14-Jährigen György Stroch aus Szolnok, der Anfang Mai 1945 in Hofamt Priel (NÖ) ermordet wurde, gab den zündenden Funken: „Postkarten können wir eine pro Person schreiben“. Auf den einzelnen Postkarten musste folgender Satz stehen: „Ich bin gesund, es geht mir gut.“ Dieser Fund inspirierte Lecomte zu ihrem Postkartenprojekt. Sie entschloss sich verschiedene idyllische Aufnahmen von den drei Standorten zu machen: vom Naherholungsgebiet der Viehofner Seen, von dem von Pflanzen überwucherten Areal des ehemaligen Zwangsarbeitslagers der Glanzstoff und von einem saftigen Rasen, worunter sich das Massengrab befindet. Diese Postkarten beschriftet sie eigenhändig mit dem obligatorischen Satz „Ich bin gesund, es geht mir gut.“ und möchte sie an die Hälfte der wahlberechtigten Einwohner von St. Pölten verschicken (angeblich sollen es 20.000 sein).

 
Zum Zeitpunkt der Eröffnung konnten allerdings nur provisorische Tafeln aufgestellt werden, aus Irrtum seitens des amerikanischen Nationalarchivs schickte man Bolt die falsche Aufnahme. Das Stadtmuseum konnte aushelfen. Die versprochenen Legenden auf den Tafeln sind jedoch zurzeit inkomplett. Es fehlen: Urheber, Archiv/Quelle, Datum der Aufnahme, Maßstab usw.
Weiters wurden bei der Eröffnung nichts von den Grabsteinen erwähnt, die ja den dritten Blickpunkt des Mahnmals ausmachen sollten. Auf Nachfrage gab der Leiter des Stadtmuseums, Thomas Pulle, bereitwillig Auskunft: Dieser Teil des Projekts wurde noch nicht durchdiskutiert. Man sehe ihn als zweiten Schritt, die Aufgabe des Wettbewerbs vollständig zu erfüllen. Die Tafeln würden, so das Budget reiche, nächstes Jahr realisiert werden.
Bei seiner Eröffnungsrede sprach Thomas Pulle die Schwierigkeiten beim Projekt von Tatiana Lecomte an. Erst 1000 Postkarten konnten verschickt werden, nun ist es zum Stillstand gekommen. Dabei geht es um die Auslegung des Datenschutzrechts.
Die Errichtung eines Mahnmals nach immerhin 65 Jahren scheint in St. Pölten im Land Niederösterreich zu einem Hindernisparcours auszuarten. Die Intension, der gute Wille, die Vergangenheit zu verarbeiten, wird zu einem undurchsichtigen Vorhaben und führt zur Absurdität.

Argumentation:
Hatte man zu Beginn der Ausschreibung unter regionalen Künstlern gemutmaßt, dass dieser Wettbewerb nur ein/e Architekt/in gewinnen könnte, war man von der Wahl der Jury zunächst überrascht. Offensichtlich ist, ohne die beiden Projekte in ihrem positiven psychologischen Beitrag mindern zu wollen, dass dem guten Willen zum Mahnmal schon gleich nach der Ausschreibung das Budget ausgegangen sein muss. Hier hat man die beiden günstigsten Varianten als ex aequo Gewinner erkoren. Und nicht mal hierfür hat man ad hoc das Geld parat. Wo sind die in der Ausschreibung genannten 80.000.- Euro? Was ist passiert?

„Um mein Vorhaben innerhalb eines Jahres zu vollenden, ist es notwendig, täglich 50 bis 60 Postkarten zu schreiben.“ schreibt Lecomte in ihrer Konzeptbeschreibung auf der für das Mahnmal Viehofen eingerichteten Homepage: www.mahnmal-viehofen.at
Wenn man den Inhalt des Projektes ernst nimmt, warum hat man sich nicht an Schulen gewandt? Mit Schülern als interaktive Teilnehmer hätte man sehr schnell die Postkarten beschriften können und zugleich wäre man dem so nachholbedürftigen geschichtlichen Bildungsauftrag etwas näher gekommen. Die Postkarten sind laut Fotonachweis auf der Homerpage mit einer 55 Cent Marke frankiert. Das ergibt die Gesamtsumme von 11.000 Euro Portogebühren. Es stellt sich die Frage, ob der Mahnmalwettbewerb zur Förderung der Post vergeben wurde. Bei einer Massenaussendung (bereits bei 400 Stück möglich) würden sich die Kosten halbieren. Die Datenschutzprobleme hätte man sich ganz einfach ersparen können, wenn man sich gleich an das öffentliche Telefonbuch gehalten hätte. Was passiert nach dem Postkartenerhalt? Bei genauer Reflexion ist diese Aktion nichts anderes als ein Mahnmal im Wert eines gefüllten Kleinfamilien-Altpapier-Koprophors von 80 kg, der allerdings c.a. 16.500.- Euro gekostet hat (grob gerechnet samt Druckkosten der Postkarten). So gesehen kann hier wirklich nicht von einem würdigen Mahnmal die Rede sein. Vielmehr ist hier eine überteuerte einmalige Aktionskunst finanziert worden und die Wahlentscheidung des Gremiums kann als Torschlusspanik gesehen werden.
Zusätzliche Kritik an dem Postkartenprojekt ist, dass der Quellenhinweis des handgeschriebenen Satzes fehlt, obwohl es sich um ein Zitat handelt!

 
Bezüglich der Orientierungstafeln bedarf es einer zusätzlichen Orientierungstafel, damit man auch zu ihnen findet. Nach meinem Spaziergang von 1, 5 Stunden habe ich gerade vier von fünf Tafeln gesehen.
Dass man zur Aufstellung von Orientierungstafeln eine künstlerische Hand braucht, ist der zweite schwere Kritikpunkt an diesem Mahnmal. Wären sie nicht seitens der Stadt und des Landes schon seit langem obligatorisch gewesen? Denn in und um St. Pölten erinnert uns nichts mehr an all diese schrecklichen Geschehnisse. Dort wo einst das Arbeitslager für ungarische Jüdinnen und Juden platziert war, ließ die damalige (mittlerweile verstorbene) Gutsbesitzerin Franziska Kuefstein (einstige Gräfin von Kuefstein) 1966 eine Sand- und Schottergewinnungsanlage errichten, die bis 1985 durch den Pottenbrunner Unternehmer Karl Paderta in Betrieb gehalten wurde. Die durch den Abbau gewonnenen zwei Seen sind in der Bevölkerung noch heute als Paderta-Seen bekannt. Nach dem Tod der Gräfin erstand die Stadt St. Pölten von den Erben aus einer Konkursmasse die Ländereien im Jahre 2003, so Bürgermeister Stadler in seiner Eröffnungsrede, und man begann 2006 mit der Umsetzung des Projekts Naherholungsgebiet Viehofner Seen. Laut einem Wikipedia Eintrag erhielt die Stadt St. Pölten die Seen als Gegenleistung zu den Aufschließungskosten der Gartenstadt am Kremser Berg. Der Zitat- und Quellennachweis (Punkt 3) von www.st-poelten.spoe kann jedoch nicht mehr eingesehen werden. Gleich nach dem Krieg wurde das Holz der Baracken von der Bevölkerung als Brennholz verwendet. Nur ein paar Betonpfeiler auf dem Privatgelände, wo das Lager für die Ostarbeiter errichtet war, sind die übrig gebliebenen stillen Zeugen des Naziverbrechens aus dem II. Wertkrieg.

Fazit zur aufwendigen Wettbewerbsausschreibung und zur Teilrealisierung des Mahnmals Viehofen:
Zu spät und zu wenig kompetent in der Ausführung!

Begrüßenswert ist der Diskussionsabend um das Mahnmal Viehofen am Mittwoch, den 24. November 2010 um 20 Uhr im Stadtmuseum St. Pölten (Prandtauerstr. 2) mit Mag. Catrin Bolt, Dr. Martha Keil, Univ.-Prof Hans Kupelwieser, Dr. Susanne Neuburger, Dr. Heidemarie Uhl und Mag. Manfred Wieninger, als Moderator tritt Dr. Peter Huemer auf.

Hinweis:
Ausstellung zum 20.-jährigen Jubiläum der Städtepartnerschaft:
„Die jüdische Gemeinde in Brünn und St. Pölten“
13.11.-10.12.2010, Foyer des Rathauses St. Pölten (Mo-Do: 7-17 Uhr; Frei: 7-13 Uhr)

[1] Gutachterkommission: Mag. Thomas Pulle (Direktor des Stadtmuseums St. Pölten), Dr. Martha Keil (Institut für jüdische Geschichte Österreichs), Prof. Dr. Hildegund Amanshauser (Kunsthistorikerin), Dipl. Ing. Friedrich Fischer/ Baudir. Dipl. Ing. Peter Morwitzer (Landesbaudirektor), Dipl. Ing. Wojciech Czaja (Architekt), Mag. Norbert Fleischmann (Künstler), Dr. Brigitte Huck (Kuratorin), Christian Kobald (Künstler), Dipl. Ing. Dr. Wolfgang Krejs (Stadtbaudirektor, Krems), Mag. Andrea van der Straeten (Künstlerin)
[2] Wettbewerbsausschreibung: www.mahnmal-viehofen.at/docs/Wettbewerbausschreibung.pdf
[3] Die beiden Gewinnerinnen erhielten jeweils 4000.- Euro. Der 3. Preis (2000.- Euro) ging an die Architektin Judith Engelmeier aus Dresden mit einem Entwurf von 20 Stufen unter dem Wasserspiegel als kontemplativen Gedenkraum, der von drei Seiten vom See umspült ist.
[4] Die Preisverleihung fand bereits am 14.09.2009 im Stadtmuseum St. Pölten statt. Die 12 besten Entwürfe wurden vorgestellt: Catrin Bolt, Matthias Braun, Ulrich Brüschke, Bernhard Cella, Judith Engelmeier, Tatiana Lecomte, Aron Itai Margula, Hansjörg Mikesch, Nicole Six & Paul Petritsch zusammen mit Jeanette Pacher, Ulla Rauter, Rene Rheims und Peter Sommerauer
[5] Mag. Manfred Wieninger: Magistratsbeamter und Krimiautor (Marek Miert Krimi)
[6] Das Institut für Geschichte der Juden in Österreich existiert seit 1988 und ist in der ehemaligen Synagoge in St. Pölten untergebracht. www.injoest.ac.at

LitGes, November 2010

Mahnmal Viehofen: Catrin Bolt und Tatiana Lecomte. Bericht: Ingrid Reichel

Öffentlicher Brief an Bischof Küng: Kritik an der Ausstellung "Generator of the heart"/ Mark Rossell

S. g. Bischof Küng, Ihre Exzellenz!

Mit Betroffenheit und Sorge wende ich mich an Sie wegen des Artikels „Eine 'Kondom'-Madonna und die 'christliche' ÖVP“ vom 09.11.2010 im Kath.net. bezüglich der zurzeit laufenden Ausstellung in der Landhausbrücke „Generator of the heart“ von Mark Rossell (http://www.kath.net/detail.php?id=28845).

In der Einleitung steht, dass Sie „scharfe Kritik an einer perversen Darstellung der Gottesmutter Maria“ äußerten.
Ich bin selbst Künstlerin und habe bei der letzen Fastenbesinnung der Künstler teilgenommen, auch nehme ich mit zwei Digitalprints an der Ausstellung „Unsere Heiligen“ im Bildungshaus St. Hippolyt teil.
Ich bin außerdem Vorstandsmitglied der Literarischen Gesellschaft und Redakteurin der Literaturzeitschrift etcetera. In dieser Funktion schreibe ich auch Ausstellungskritiken. Mark Rossell ist mir als Künstler-Kollege und in meiner journalistischen Aufgabe seit 2006 bekannt. Er war Heftkünstler der etcetera Ausgabe Nr. 27/ März 2007 zum Thema „Letzte Dinge“. Ich verfolge seither seinen künstlerischen Werdegang mit großem Interesse.
Ich sehe es daher als meine Pflicht, Sie auch auf meine Interpretation und Ausstellungskritik aufmerksam zu machen, die Ihnen vielleicht einen anderen Zugang zu dieser Ausstellung ermöglichen kann.

Es ist offensichtlich, dass Mark Rossell und seine Kunst als Spielball einer politischen Machenschaft der FPÖ gegen die Kulturpolitik der ÖVP benutzt wurden. Alle Anschuldigungen sind völlig absurd.
In der Landhausbrücke werden absolut keine Steuergelder für Perversitäten ausgegeben. Hier wird auch nicht gefeiert auf Kosten der Bürger. Die Künstler bekommen keinen Cent. Die einzige Förderung, die der Künstler hier erhält, ist die Möglichkeit in der Landhausbrücke auszustellen mit der eventuellen Option eines Werkankaufs des Landes oder der Ausstellungsbesucher.
Was Mark Rossells Gesamtinstallation „Generator of the heart“ anbelangt, gibt es absolut NICHTS Anrüchiges zu sehen. Es ist eine interessante Ausstellung, in der Mark Rossell auch hier wieder seinen sensiblen Zugang zu religiösen Themen unter Beweis stellt. Sein eigenes abgedrucktes Statement, in dem er den pubertären Wunsch, die Madonna zu beschmutzen, äußert, ist im Zusammenhang der Psychoanalyse Freuds zu sehen. Es geht hierbei um den Ödipuskomplex. Wir leben nun mal im Land, wo die Psychoanalyse erforscht und entwickelt wurde und auch wenn die Kirche die Bücher über die Psychoanalyse auf den Index stellte, liegt es klar auf der Hand, dass ein Künstler, der sich wahrhaftig mit dem Thema Religion und Sexualität auseinandersetzt, nicht umhin kommt, das Phänomen des ödipalen Komplexes zu behandeln.
Wenn also Betrachter in der „Spuckeflasche“ einen Dildo erkennen wollen oder gar vermeinen ein Ejakulat an der Madonna hinunterfließen zu sehen, dann entspringt dies ihrer Phantasie, bzw. wird hier die Kunst zum Auslöser dieses Ödipuskomplexes. Die Betrachter müssen lernen mit Kunst umzugehen. Es geht hier um Kausalzusammenhänge. Durch die Betrachtung wird der Betrachter sich seines eigenen Komplexes bewusst, nicht die Kunst oder der Künstler ist beschämend, sondern die Phantasie des Betrachters. Um sich von dieser „Sünde“ zu befreien, will so mancher Betrachter nun die „Schande“ an den Künstler und seine Kunst wieder abwälzen. Das ist der psychologische Effekt mit dem Künstler leben müssen, sie sind dann die Perversen oder die Nestbeschmutzer.
Das ist natürlich alles nichts Neues und mit Verlaub in der Bildenden sowie auch in der Literatur ein alter Hut.
In dieser Installation geht es darum, dem Betrachter klar zu machen, dass wir alle diese Madonna mit unserem Verhalten beschmutzen und die Mutter Gottes dennoch souverän diese Schändung erträgt.
Ich frage Sie, gibt es einen ehrlicheren Zugang zum Glauben, als ihn Mark Rossell in dieser Ausstellung vorgeführt hat?
Ich wünschte Sie würden auch so beherzt und mutig sein wie der Künstler. Nehmen Sie sich die Zeit, besuchen Sie diese Ausstellung und machen Sie sich selbst ein Bild. Ich lade Sie herzlich ein, mit mir und dem Künstler die Ausstellung zu besuchen. Ich richte mich ganz nach Ihrem Terminplan und bitte Sie diesbezüglich um Rückmeldung, damit ich mit Mark Rossell den Termin fixieren kann.
Mark Rossell hat mit dieser Ausstellung eine Diskussionsplattform ermöglicht. Nutzen Sie sie. Es wäre ein weiterer Schritt die Kirche zum Thema Sexualität, um auch ihren Anhängern gegenüber glaubwürdig entgegen treten zu können, in ein neues Licht zu rücken.

Hochachtungsvoll
Ingrid Reichel
LitGes & etcetera Redaktion

Generator of the heart: A. M. Rossell. Rez.: Ingrid Reichel

Ingrid Reichel
DIE PSYCHOANALYSE IN DER KUNST

 
GENERATOR OF THE HEART - EIN MÄRCHEN
Andrew Mark Rossell
Ausstellungsbrücke, Regierungsviertel NÖ, Haus 1/ 3. Stock
Eröffnung: 03.11.2010, 18.00 Uhr
Ausstellung: 03.11. - 25.11.2010

Nach der großen Einzelausstellung „Zwischenreich“ im September 2007 und der Beteiligung an der Gruppenausstellung „GOD : The Fossil Record“ im Februar 2009 zum 200. Geburtstag von Charles Darwin im Stadtmuseum St. Pölten sowie der Beteiligung an der Ausstellung „EVO EVO! 200 Jahre Charles Darwin. 150 Jahre Evolutionstheorie“ im Künstlerhaus Wien im September 2009 sind nun die neuesten Werke Andrew Mark Rossells in der Ausstellungsbrücke in St. Pölten bis Ende November zu sehen. Die vorhergehenden Ausstellungen sind bezüglich der Weiterentwicklung des in Neuseeland geborenen und bei St. Pölten lebenden Skulpteurs von großer Bedeutung. Rossell, der stetig an der spirituellen Verbindung zwischen Leben und Tod arbeitet, präsentiert uns nun eine neue Betrachtungsweise der christlichen Mystik. Rossell, der auf unbestimmte Weise mit Rudolf Steiners Anthroposophie liebäugelt, entwickelt eine persönliche künstlerische Metaphysik. Ein Erlebnis in Lourdes während einer bereits 2002 stattgefundenen Pilgerfahrt nach Santiago de Compostela ließ Rossell nicht mehr in Ruhe. Es war der Kitsch in den Verkaufsständen am Weg zur Grotte, die ihn dazu bewegten, sich „mit dieser Blasphemie und der ausgetrockneten Glaubenspraxis“ auseinanderzusetzen. Besonders das marktschreierische Angebot einer Madonna als Plastikflasche dürfte der Auslöser zu einer radikalen Veränderung des Zugangs zur christlichen Mystik herbeigeführt haben. Vordergründiges Ziel war eine „physische Madonna zu schaffen, an die er glauben konnte“. Doch Rossell geht in seiner Werkbeschreibung noch viel weiter. Er spricht von dem Wunsch „trotz seines pubertären Bedürfnisses die Madonna zu beschmutzen“, dass sie „ruhig und souverän“ bleibe.

Die Ausstellung eröffnet uns somit den persönlichen Weg des Künstlers, wie er der Madonna begegnet. Ein UFO-artiges Gebilde mit einem an einen Fötus erinnernden Passagier schwebt entlang der Wand der Erde zu, es ist ein „Geburtsshuttle“ mit gigeresken Zügen. Wände mit Augen sind Zeugen dieser Niederkunft, begleiten den Suchenden und sprechen zu ihm aus einer anderen Welt. Diese Augen bezeichnet Rossell als „Augenschwellenschilder“. Sie sind in verschiedenen Größen und Farben aus Polyester, Epoxy und Silikon hergestellt. Hände und Füße in grünen Silikonblocks zieren den Weg zur Jungfrau. Interessant hierbei ist die Geschichte dieser Hand- und Fußabgüsse. Eine der Hände ist zum Beispiel, erzählt der Künstler einem Betrachter während der Ausstellungseröffnung, die einer alten Frau. Sie war einst Nationalsozialistin. Nun verwebt sich ihre Hand schützend mit der eines anderen Menschen. So leicht kann Versöhnung in der Kunst geschehen. An Händen kann man keine politische Gesinnung sehen, dennoch möchte man ihnen charakterliche Eigenschaften attestieren. Gibt es so etwas wie ehrliche Hände? Auch wenn man diese Geschichte nicht kennt, haben diese verschiedenen Hände, die Rossell miteinander kommunizieren lässt, etwas Rührendes. Der Weg zum Glauben wird begleitet mit einem pulsierenden Ton aus der Ferne. Ein Rhythmus wie ein Herzschlag ist zu spüren. Es folgt eine Landschaft mit anmutenden sich links und rechts kreuzenden Ästen, die man leider aus Rücksicht auf die Kunst nicht durchschreiten kann. Dennoch schafft es Rossell uns den Eindruck eines Dickichts zu vermitteln. Am Boden sind anthropomorphe Gestalten in verschiedenen Größen. Ob es nun Geister sind, die einem den Weg versperren, oder Steine, die einem den Weg weisen, bleibt der Phantasie des Betrachters überlassen. Die Landschaft passt sich an die individuelle Vorstellung an. Schließlich gelangt man zu einem großen Schwellenbildschirm, er ist an der einen Seite an der Wand befestigt und geht quer in dem Raum und scheint auf den Boden zu tropfen, durch den Schmelzvorgang hat sich eine Säule auf der anderen Seite des Bildschirms gebildet und wird sich auf den Boden verteilen. Natürlich nur in der Imagination des Betrachters, denn der Bildschirm, der an einen überdimensionalen angefrorenen Pkw-Außenspiegel erinnert, ist erstarrt. Schräg vis-à-vis sind an der Wand zwei Denkpolster montiert. Hier wird mir rotem Wein und (weißer) Milch der Kreislauf des Menschen simuliert. Stetig tropft es aus den Schläuchen, in denen von den herzförmigen Polstern die Flüssigkeit durch eine Umlaufpumpe in Bewegung gesetzt wird. Die Installation mit dem Wein trägt die Schrift „Forsake me“ (Verlass mich), die mit der Milch „Heimkehr“ (Return home). Sobald die Pumpe in Aktion tritt, soll auch ein leichter Seufzer aus den beiden dunklen und hellen Weichgummipolstern zu hören sein. Dazu bedarf es allerdings einer gewissen Konzentration und eines sehr guten Gehörs, denn ein Meter weiter steht der „Herzgestaltkorb“, der Verursacher des (lauten) hämmernden Pochens in der Ausstellungsbrücke ist. Vielleicht ist auch damit der Titel „The generator of the heart“ gemeint. Der etwas klinisch wirkende Teil der Ausstellung versetzt uns in die Stimmung, einen OP-Saal zu betreten. In diesem „Korb“ - einem großen Holzkonstrukt – liegt aufgebart wie in einer Krippe ein überproportional großes, aufgeschnittenes Herz. Das Herz selbst bewegt sich allerdings nicht.

Lebensgroß steht „Fegefeuer Ramses“ dem Korb mit dem Rücken zugewandt in einer

 
   
 
   
 
   
 
leichten Schieflage nach vorne. Er hält seine Beine fest aneinander gepresst, die Arme halten sich schnurgerade und streng an den Körper gepresst, die Schultern wirken nach vorne beinahe ausgekegelt, so steht er mit steifem Genick und einem ohrenlosen und kahlen Kopf, mit gesenkten Lidern und einem Grinsen im Gesicht vor der Madonna. Es ist der Künstler selbst. Nackt und geschlechtslos präsentiert er sich, stellt er sich der Madonna als Ramses vor. Für Rossell ist die Geschichte des Alten Ägyptens mit seinem Volk, das daran glaubte, mit dem eigenen Körper und den irdischen Werten ein Leben im Jenseits beginnen zu können, Thema in seinem gesamten Œuvre. So ähnelt Ramses einerseits einer Mumie, andererseits einer verkohlten Leiche, die durch das Fegefeuer gegangen ist. Die gleichgroße Madonna in ihrem hellblauem Kleid mit weißem Oberteil scheint jedoch durch den Fegefeuermann durchzublicken. Sie hält ihre rechte Hand schützend vor ihre Brust, ihre linke vor ihrem Bauch. Die Madonna ist hochschwanger. Wie ein Brautschleier ist eine dicke transparente mit Löchern perforierte Gummifolie über sie gestülpt. Es ist, als hätte Rossell dieser Madonna ein ausgeleiertes Präservativ über den Kopf gezogen. Trotz Schutzschicht sind Eindringungslöcher von oben bis unten rund um das Kondom festzustellen. Trotz pubertierendem Bedürfnis das Reine, das Unantastbare, das Heilige zu beschmutzen – wir erinnern uns – bleibt diese Madonna erhaben, ruhig und souverän, wie Rossell es sich vorgestellt hat. Sie richtet ihren Blick durch ihn hindurch auf die Zwischenwand, die einen Durchblick zum nächsten Raum ermöglicht, wo in Augenhöhe auf der Durchreiche 20 rosa-rote „Madonnaspuckeflaschen“ gestellt sind. Bereits in der Gruppenausstellung „God : The fossil record“ hatte Rossell eine Serie von „Urspucke“ als Standpunkt zur Evolutionslehre gezeigt. Liegt es hier nicht klar auf der Hand, dass Rossell auf Körpersekrete wie Sperma und Menstruationsblut hinweist, die mit Fruchtbarkeit und Lebensspendung zusammenhängen?

Rossell bricht mit dieser Ausstellung sämtliche Tabus. Manch konservative Seele wird hier Blasphemie wittern. Weder die Kunsthistorikerin Alexandra Schantl noch der in Vertretung des Landeshauptmanns Erwin Pröll erschienene Landesrat Johann Heuras sprachen das Thema während ihrer Reden an. Hat man es nicht gesehen, will man es negieren? Während der Eröffnung der Schau ist eine direkt peinlich wirkende oberflächliche Betrachtung der Kunst Mark Rossells geschehen.

Dabei ist klar und eindeutig festzustellen, dass Rossells „Märchen“ vom „Generator of the heart“, wie er die Schau unter anderem betitelt, keine Provokation beinhaltet. Die Gesamtinstallation, wie ich sie nennen möchte, ist in der Tat die ernsthafte Suche Rossells nach der verloren gegangenen Reinheit des Glaubens. Mit der Leugnung des immer wiederkehrenden Phänomens der menschlichen Sekrete im Zusammenhang von Glauben und Evolution im Werk des Künstlers macht man seine Kunst mundtot. Dabei wäre hier gerade der Ansatz eines offenen Gesprächs ermöglicht worden, eine Brücke gebaut worden zwischen den erstarrten Regeln des Strukturkonservativismus und der tatsächlichen menschlichen Sehnsucht nach Mystik!

Die beweglichen Seitenwände zur Aufhängung von Bildträgern wurden zum ersten Mal während einer Ausstellung so eingesetzt, wie es der Architekt ursprünglich konzipierte. Es liegt wohl an der Überzeugung und Beharrlichkeit des Künstlers und letztendlich an der Zustimmung der Leiterin der Ausstellungsbrücke Ingrid Loibl, dass diese Wände endlich den langen Schlauch dieser Galerie durchbrechen konnten. Alles an dieser Ausstellung schreit förmlich nach Aufbruch verhärteter Richtlinien.

Schade, dass man hier versucht wegzusehen, sich nicht die Mühe gemacht hat, kunsthistorisch zumindest, während der Eröffnung das zahlreich erschienene Publikum darauf hinzuweisen, was uns diese Schau wirklich zeigt. Der Nebentitel „Ein Märchen“ bekommt so gesehen eine ganz andere Bedeutung.

Generator of the heart: A. M. Rossell. Rez.: Ingrid Reichel

Private Wurm: Erwin Wurm. Rez.: Ingrid Reichel

Ingrid Reichel
WER DEN SCHADEN HAT, HAT AUCH DEN SPOTT

oder
WO DER WURM BEGRABEN LIEGT

 

 

Erwin Wurm:
Polizeikappe, 2010
Styropor, Epoxitharz, Stoff
53 x 91 x 99 cm
© Studio Wurm,
Foto: Mischa Nawrata

 

PRIVATE WURM
Essl Museum - Kunst der Gegenwart, großer Saal
Eröffnung: 19.10.10, 19.30 Uhr
Ausstellungsdauer: 20.10.10 – 30.01.11
Kurator: Günther Oberhollenzer
Realisierung: Brüder Gollinger

Agnes und Karlheinz Essl haben scheinbar wieder das Unmögliche möglich gemacht. Innerhalb von zwei Jahren wurden Thema und Konzept der Ausstellung mit dem mittlerweile international renommierten österreichischen Künstler Erwin Wurm 2-3 Mal neu verhandelt bis es schließlich zu dieser Form der Schau mit dem Titel „Private Wurm“ kam, erzählt Karlheinz Essl in der Pressekonferenz am Vormittag der Ausstellungseröffnung. Dass nicht immer Privates drinnen ist, wo Privat! draufsteht, gehört mit zum Spiel der veränderten Wahrnehmungen in Erwin Wurms Werk. Die üblichen veränderten Maßstäbe und verzerrten Perspektiven in seinen Skulpturen zeigen, wie gefangen und eingeschränkt wir in unseren Beobachtungen sind und ermöglichen dem Betrachter ohne Belehrung und Fingerzeig auf humorvolle Art und Weise ein kleines Ausbrechen aus unserer Selbstgefangenheit.

Der Kurator der Ausstellung Günther Oberhollenzer wirft die Frage auf, ob Wurm etwas vorspielt, uns etwa eine gekünstelte Realität präsentiert? Wurm sei nicht nur ein ironisch, witziger Künstler, sondern verbreite existentielle Verunsicherung mithilfe der Comicübertreibung als Stilmittel. Sein Werk sei durchaus pessimistisch und zynisch zu betrachten, bei näherer Auseinandersetzung sei Wurms Werk sogar beklemmend, grausam und schmerzhaft, führt Oberhollenzer seine durchaus leidenschaftliche Erklärung fort.

Die kleine Ausstellung im großen Saal im 2. Stock des Essl Museums zeigt nur sieben Skulpturen und ein Haus. Von den Skulpturen sind vier Möbelstücke. Alte Schränke aus massivem Holz wurden als Ganzes zu Sitzgelegenheiten umfunktioniert, Altes an Neues angepasst. Trotz beachtlicher Größe bleibt nur eine kleine unbequeme und ungepolsterte Sitzfläche.

 

Erwin Wurm:
Big Coat, 2010
Aluminium, paint
224 x 81 x 64 cm
Foto und © Studio Erwin Wurm

 
 

Erwin Wurm:
Narrow House, 2010
© Studio Erwin Wurm,
Foto: Mischa Nawrata

 

Die Aluminium-Skulptur „Big Coat“ nimmt den Museumsbesucher in Empfang. Nackte Beine tragen kopflos einen Mantel wie einen Schrank, lackiert ist die Skulptur in den Farben des Logos des Essl Museums: der aufgesetzte Kasten im typischen Pink, die Beine in Silber. Direkt dahinter versteckt sich „Me under LSD“, eine Skulptur aus Polyester und Beton. Eine am Boden aufgestützte Hand trägt eine Wolke, anstatt des fehlenden Körpers. Wurm bekundet in der Ö1 Sendung am 19.10.10 um 17 Uhr, kaum Erfahrungen mit Drogen gehabt zu haben. Ihm ginge es hier lediglich um Bewusstseinserweiterung, diese als Gegenpol zur Engstirnigkeit zu zeigen. Vis à vis ist eine etwa mit einem Meter Durchmesser große, mannshoch montierte, Kappe der österreichischen Polizei. Hier kann man Schutz suchen. Auf dem Kopf wird sie einem nicht fallen. Wurms Vater war Kriminalbeamter, soweit der weitere herbeigezauberte Bezug zu Private Wurm. Es war ein alter Wunsch, den sich Wurm hier erfüllte. Einst hatte er schon die Idee einer Polizeikappe mit drei Meter Durchmesser bei einer Skulpturausschreibung für die Polizeidirektion am Heldenplatz, sie wurde jedoch abgelehnt.

Aushängeschild der Schau ist allerdings das „narrow house“, welches, wie der Titel schon besagt, ein beengtes, auf ein Siebtel in der Breite auf einen Meter reduziertes Haus mit 16 Meter Länge und 7 Meter Höhe ist. Als Vorbild fungierte Wurms Elternhaus, ein klassisches Einfamilienhaus aus den 60ern mit Satteldach, welches trotz Verzerrung wieder erkennbar sein sollte. Sein Elternhaus war ein solches, daher lag es nahe, sich an dessen Bauplan zu halten, begründet Wurm seine Wahl. Das schlanke Haus wäre keinesfalls als das Gegenstück zum dicken Haus aufzufassen. Wichtig sind ihm die Verzerrungen der Realität. Unsere Wahrnehmung richte sich immer mehr nach den Medien, der Fernseher mit den Breitwandbildschirmen zeige, laut Wurm, verzerrte amerikanische Verhältnisse, es sei nur mehr eine Frage der Zeit, bis sich die Realität anpasse. Übrig bliebe eine suggerierte Individualität. Wurm zeigt sich fasziniert über die Ablichtungen leerer Räume und die zunehmende Anonymisierung des Individuums, wenn er Innenarchitektur- und Interieurzeitschriften durchblättert. Der Mensch repräsentiere sich immer mehr über sein Haben als über sein Sein. Wurm bezieht sich, laut seiner Aussage (Ö1 Sendung: 19.10.10, 17 Uhr) auf Erich Fromms Sozialordnung der zwei Charakterstrukturen Haben oder Sein. Das Haus habe nicht nur eine Schutzfunktion wie eine dritte Haut, sondern sei auch Prestigeobjekt, zeige den Wohlstand, die Potenz.

Wurm war in allen Entwicklungspunkten des Kunstprojektes involviert. Das Haus selbst wurde innerhalb von zwei Monaten realisiert. Nichts konnte wegen der Verschmälerung vom Sponsor bauMax fertig übernommen werden, nicht einmal die Tapeten mit Muster der 60er Jahre, die ein nostalgisches Gefühl vermitteln, berichtet Oberhollenzer. Das Haus wurde von der Firma Dekorationsbau Winter detailgetreu nachgebaut, für die Realisation waren die Brüder Gollner verantwortlich. Das Haus werde in andere Ausstellungen übernommen, antwortet Wurm auf die angesprochene Zukunft des Hauses. Es sei durch seine Module wie Küche, Bad etc. mobil. Mit wenigen Umbauarbeiten wäre es auch für den Freiraum tauglich. Am liebsten sähe er es zwischen anderen Einfamilienhäusern stehen.

Das Haus steht exemplarisch für die Alltagsrealität und soll Erinnerungen wachrufen. Auch der Geschmack verändert sich: Was damals modern und schick war, ist es heute nicht mehr. Das Haus ist voll möbliert mit Alltagsgegenständen ausgestattet, die ebenfalls auf ein Siebtel der Breite geschmälert wurden. Mit einer Esswohnzimmereinrichtung, den Sanitäranlagen und der Küche, einem Schlafzimmer und einem Vorraum zeigt das Haus die Bleibe eines Durchschnittsbürgers. Teppich, Vorhänge, Geschirr, Buchregal, Backofen usw. sollen einen bewohnten Eindruck vermitteln. Die Kosten für die Realisierung dieses Kunstwerks sind in der Höhe eines kleinen Einfamilienhauses anzusetzen.

Dabei hat alles so kostengünstig angefangen…
1991 zeigte Wurm noch in kurzen Videos seine legendären 13 pullovers, 1992 59 positions, 1994 C-Prints Double oder Palmers 1997. Hier war der Mensch Zentrum in Wurms Werk. Der Mensch und seine Kleidung, seine zweite Haut, wie sie ihn deformiert, zur Unkenntlichkeit verändert. Wurm scheute sich nicht, Ausstellungsbesucher einzuladen, mit Alltagsgegenständen zu posieren, um sie zu fotografieren. So entstand die erste Serie von C-Prints 1997 seiner berühmten One-Minute-Sculptures. Mit seiner Minimal-Art begann sich der Begriff der Skulptur von ihrer Starrheit zu lösen. Eine Skulptur der Handlung wurde geboren, wie auch der Bewegung und vor allem eine Skulptur, die den Betrachter als Teil von sich beansprucht.
Seit 2002 lehrt der Objekt-, Installations-, Videokünstler und Fotograf Erwin Wurm Bildhauerei/ Plastik und Multimedia am Institut für Bildende und Mediale Kunst an der Universität für Angewandte Kunst in Wien.

Mit der wachsenden Größe seiner Kunstwerke beginnt jedoch zunehmend auch Wurms erweiterter Skulpturbegriff leblos zu werden. Von den damals noch um Gleichgewicht kämpfenden Skulpturen, konzentriert sich Wurm mehr und mehr auf die fette, übergewichtige kapitalistische Skulptur, oftmals entstehen in einem Guss lebensgroße Autos, zerfließende oder platzende kleinere Modellhäuser etc. mit dementsprechend aufwändiger Herstellung und Verarbeitung. Nach der Ausstellung im MuMoK 2006 „Keep a Cool Head“, wo ein Fertigteil-Einfamilienhaus kopfüber am Dach des Museums verkeilt wurde, realisiert Wurm nun das schlanke Haus, das gestauchte Haus, welches den Museumsbesucher auffordert, einzutreten und Platz zu nehmen.

 

Erwin Wurm:
Narrow House, 2010
© Studio Erwin Wurm,
Foto: Mischa Nawrata

 

Doch leider hat sich die Angst des Kurators, das Haus würde nicht lebensecht wirken, erfüllt. Alles nur Theaterrequisiten. Weder nostalgische, noch klaustrophobische Gefühle überkommen den Besucher. Die versprochene Detailfreudigkeit am Interieur ist eine regelrechte Enttäuschung. Hier hat man am falschen Eck gespart.
Wer tatsächlich die 60er Jahre erlebt hat, weiß wovon ich spreche: In sich gemusterte Stoffüberzüge, Vorhänge und Tapeten in Medaillons in orange-rosa-grün-brauner Farbe, gesprenkelte Linoleum- und Teppichböden, dunkle Holzplafonds, geschmacklose gemusterte Fliesen bis an die Decke des Badezimmers und der Toilette, Plastiküberzüge, ja vor allem viel Plastik, die von der Decke hängenden grauenvoll kitschigen Lampen. Wo ist die Fülle dieser in sich gemusterten Scheußlichkeiten geblieben? Und natürlich die heißbegehrten ersten Haushaltsgeräte, die den Frauen die Hausarbeit erleichterten, das elektrische Bügeleisen, der Staubsauger, wo ist die Waschmaschine, die sich jede kleinbürgerliche Familie vom Mund abgespart hat? Aber vor allen Dingen, wo sind die Pantoffeln des Haushaltungsvorstands geblieben? Vielleicht sind hier zu viele Männer am Werk gewesen? Welche Frau stellt Geschirr auf Esszimmer- und Küchentisch gleichzeitig und hat nicht gekocht? Hier betritt der Besucher ein überteuertes lebensgroßes Puppenhaus, doch leider will der Besucher nicht mitspielen.
Eher findet man diesen Anblick in Wohneinrichtungshäusern, wo man nüchtern etwas verkaufen will. Nur was will uns Erwin Wurm verkaufen? Eine Kritik an die Kleinbürgerlichkeit? Die Engstirnigkeit und der fehlende Horizont der Vergangenheit oder auch der Gegenwart vielleicht? Wie auch immer, des Rätsels Antwort bleibt unangetastet im Konzept des Künstlers verpackt.

Dennoch wühlt die Ausstellung auf und fordert Kritik. Ob diese Art von Kritik die Intension des Künstlers war, ist fraglich. Die herkömmlichen großen Medien scheinen fest geschlafen zu haben und kündigten eine „große Ausstellung“ an (ORF ZIB 2, 19.10.10) oder sprachen von einem Elternhaus der 60er Jahre, welches beklemmende Gefühle beim Eintreten auslöse. Die Medien zeigen tatsächlich eine verzerrte Perspektive, viel verzerrter als Wurm in dieser Schau in der Lage war zu verdeutlichen. Mit diesem Budget hätte man viel mehr umsetzen können. In der Kosten-Nutzen Relation ist dieses Projekt gescheitert. Kritische Aspekte wurden überhaupt nicht berücksichtigt.

Dass der Kunstmarkt generell mit seinen Preisen oder die Projektkosten dieser Ausstellung hier kein Thema sind, ist überflüssig zu erwähnen. Dennoch wird man das Gefühl nicht los, dass die Kunst im Allgemeinen als solche schon mehr als zur Dienstleistung abgedriftet ist. Neben dem Unterhaltungswert, löst sie ganz nebenbei Integrationsprobleme, gleicht die schlechte Fremdenpolitik der Regierungen aus, ist mittlerweile nicht nur Arbeitsbeschaffer, sondern auch Psychiater geworden. Wenn also Künstler wie Erwin Wurm das zweideutige Spiel mit dem Kapitalismus vorantreiben, um damit die Kritik an dem mittlerweile ohnehin sterbenden Kleinbürgertum zu finanzieren, dann wird auch diese Kunst überflüssig.

Unerklärlich ist bei dem ganzen Medienrummel um diese Privat Wurm Show, warum bei der Pressekonferenz versäumt wurde, darauf hinzuweisen, dass dieses narrow house bereits die zweite Garnitur ist. Vom 17.07. – 15.09.2010 hatte Erwin Wurm seine erste Einzelausstellung in China, im Ullens Center for Contemporary Art (UCCA) in Beijing mit dem Titel „Narrow Mist“, wo es laut Homepage des UCCA genauso ein Haus, wie im Essl Museum zu sehen gab.
Zur Erinnerung: In diesem Sommer waren wieder verheerende Überschwemmungen in China, die sich katastrophal bis über ganz Pakistan ausgebreitet hatten. Nachdem eine Schlammlawine ein ganzes Dorf in China weggerissen, es auf einem Schlag über 1200 Tote und 500 Vermisste gegeben hatte, rief sogar das sonst so nüchterne China am Sonntag, den 15.08.2010 den Staatstrauertag aus. Von den Verletzten und Obdachlosgewordenen sprach man erst gar nicht. Ich erinnere an die klägliche ausgegangene Spendenkampagne für Pakistan, die vom gerade vom Urlaub heimgekehrten Kleinbürger nicht so wahrgenommen wurde, wie man es sich gewünscht hätte … während unbewohnbare und unnutzbare Häuser - überteuerte Bühnenrequisiten! - jeweils im Wert von einem Einfamilienhaus in den Kulturhäusern der Welt entstanden.

Ab diesem Punkt wird die Kunst nicht nur überflüssig, sondern sie ist mit dem menschlichen Makel versehen. In unserer Zeit der Weltwirtschaftskrise und der Klimakatastrophen wird die Umsetzung gigantomanischer Kunstkonzepte zu einer wahrlich unethischen Angelegenheit. Hier liegt der Wurm begraben. Hier ist die wahre Verzerrung zu finden.
Aber wer den Schaden hat, hat auch bekanntlich den Spott. Es ist daher zu erwarten, dass das
k l e i n e Volk für Erwin Wurms g r o ß e Kunst wenig Verständnis aufbringen wird.

Zur Ausstellung wird demnächst ein Katalog erscheinen, der den Aufbau des narrow house in Klosterneuburg im Essl Museum dokumentiert.

LitGes, Oktober 2010

Private Wurm: Erwin Wurm. Rez.: Ingrid Reichel