Buch

José Muchnik: Poetische Kritik der mathematischen Vernunft

Klaus Ebner

José Muchnik: Poetische Kritik der mathematischen Vernunft
Übersetzung: Manfred Chobot
Lyrik, spanisch und deutsch, 100 Seiten
Edition Delta, Stuttgart 2018
ISBN 978-3-927648-64-7

Philosophisch-poetische Mathematik. Anspielungen an die Philosophie, mathematische Spitzfindigkeiten, und das alles ganz poetisch. Was auf den ersten Blick gar nicht zusammengeht, ist dem in Paris lebenden Argentinier José Muchnik (geb. 1945) mit gedanklicher Bravour und stets überraschendem Wortwitz gelungen. »Sollte Poesie existieren, strebt sie gegen unendlich« (S. 33) heißt es in einem der Gedichte, und in einem anderen: »Poesie ist Leben/Leben ist weit mehr als Poesie/die Abfolge des Herzschlags ändert den Puls« (S. 83). Einerseits Beziehungen zur Dichtung selbst, andererseits drehen sich viele Texte um Liebesbeziehungen. »7x4=4x7=28 im Reich der Zahlen/das Reich der Poesie entthront Symbole/Puppen gebären anarchische Wörter« (ebenda).

Muchnik drückt sich symbolisch aus. Da zählt jedes Wort, und Lesende sollten oft genug innehalten, um das Bedeutungsfeld einzelner Begriffe zu erfühlen. Manfred Chobot übertrug dies mit großer Sensibilität ins Deutsche. Trotzdem machen sich vereinzelt die Unterschiede der Sprachen bemerkbar, wie jeder aufgrund der parallelen Anordnung des spanischen und des deutschen Textes feststellen kann. Wenn es etwa heißt »Wenn Liebe gleich Liebe/Orange gleich Orange/Hammer gleich Hammer/Rippe gleich Rippe« (S. 49), sollte man wissen, dass der Ausdruck »meine bessere Hälfte« im Spanischen wörtlich »meine halbe Orange« heißt; dies ist ein Bezug auf den Liebespartner, der bei der wörtlichen Übersetzung, die wiederum aufgrund der Einhaltung der parallelen Versstrukturen notwendig wurde, verschwindet.

Das Buch ist in verschiedene Abschnitte unterteilt, deren Titel aus dem Reich der Mathematik schöpfen: Null, Parallelen und Lotrechte, Unendlich, Reziproke Zeichen, Summe, Gerade und Ungerade, und so weiter. In einem Nachwort erzählt Manfred Chobot viel Wissenswertes über den Autor und seine Lyrik und wie die beiden einander kennenlernten. Erschienen ist das Buch in der deutschen Edition Delta, die für Bücher aus dem spanisch- und katalanischsprachigen Raum bekannt ist.

Maria Seisenbacher: Zwei verschraubte Plastikstühle

Cornelia Stahl

Maria Seisenbacher: Zwei verschraubte Plastikstühle
Gedichte. Wien: Edition Atelier.
2018, 56 Seiten.
ISBN: 978-3-903005-40-2

Kindheit – Schatten und Spuren der Gegenwart. Das Thema Kindheit wurde und wird in zeitgenössischer Literatur immer wieder aufgegeriffen. Auf Kindheitserlebnisse auf dem Land blickt Maria Seisenbacher zurück, auf Erfahrungen zwischen Unbeschwertheit und Umbruch. Sie unterteilt ihren Lyrikband in drei Akte. Jeder Abschnitt steht für sich, beginnt und endet mit dem „Nach Hause-kommen“: die Sterne nie gezählt/nur die Wochentage eingeteilt/in Abwesenheit der Eltern. Mit wenigen Worten entwirft Seisenbacher Bilder, die an die eigene Kindheit erinnern. Vom Schaukeln (im Garten) ist da die Rede, vom Radfahren und von zu kurz geratenen Sommerkleidern, Wachstumsschüben inbegriffen. Kummer bleibt nicht ausgespart: ein kleiner schatten/ bleibt inseitig/ein kleiner schatten, der mehr und mehr dich ausbrennt (S.42). Ebenso sind Tod, Abschied und Umbrüche gegenwärtig, mit denen sich die Autorin schon in vorangegangenen Gedichtbänden auseinandersetzte: lange bevor/dein Lachen meinen größten Kummer/ zum Ausdruck bachte/veränderte der Schmerz seine Oberfläche (S.54). „Von der Bestimmung“ lesen wir: sterben ist: Gegenwart/ gestorben ist: Ewigkeit. Die präzise, reduzierte Wortwahl erzeugt Spannung und eröffnet dem Leser ausreichend Möglichkeiten für eigene Assoziationen und Interpretationen. Anfang und Ende bilden eine Klammer. Den Schluss eröffnet das Gedicht „Vom Ende“: die Oberfläche nimmt uns/nur spürbar/... den Grund der Endlichkeit an Luft/in ihrer Mitte. Maria Seisenbacher, 1978 geboren, selbst Mutter von zwei Kindern, lebt und arbeitet in Wien. Nach dem erfolgreichen, 2015 erschienenen Gedichtband „Ruhig sitzen und mit festen Schuhen“, der sich existenziellen Themen widmet, sei auch der vorliegende Band insbesondere Lyrikfreunden empfohlen.

Judith Gruber-Rizy: Eines Tages verschwand Karola

Eva Riebler

Judith Gruber-Rizy: Eines Tages verschwand Karola
Roman, 250 Seiten
Verlag Wortreich, Wien 2018
ISBN 978-3-903091-43-6

Fährtensuche. Die Erzählerin des Romans »Eines Tages verschwand Karola« heißt Rosa. Sie erzählt vom plötzlichen Verschwinden einer Freundin, eben von Karola. Dieses Ereignis fanden jedoch fünfundzwanzig Jahre vor dem Erzählten statt. Dabei stützt sich Rosa nicht nur auf Erinnerungen, sondern auch auf schriftliche Aufzeichnungen, aus denen sie damals einen Roman gestaltet hat. Kernpunkt der Erzählung ist, dass sich kurz nach dem unerklärlichen Verschwinden von Karola eine weitere Freundin, nämlich Antigone, eingeschaltet hat. Diese hatte Karola zwar nicht persönlich gekannt, machte sich jedoch sofort auf, die Verschwundene zu suchen und nahm mit Rosas Hilfe Kontakt zu Karolas Mutter sowie ihrem Arbeitgeber auf. Was dabei zutage tritt, ist ungewöhnlich und unerwartet, und vor allem nimmt die Geschichte einen Verlauf, den niemand vorhersehen konnte. Die 1952 in Oberösterreich geborene Autorin Judith Gruber-Rizy legt mit ihrem im Wiener Wortreich Verlag erschienenen Buch eine Charakterstudie dreier Frauen vor. Das Verschwinden Karolas sieht insbesondere die Erzählerin Rosa als eine Art Wendepunkt. Während die beiden Frauen in Karolas Lebensgeschichte immer mehr Ungereimtheiten und falsche Annahmen aufdecken, kündigen sich in Rosas und Antigones Leben allmählich Veränderungen an, die gelinde gesagt alles Gewesene auf den Kopf stellen und die Beziehungen zueinander neu ausrichten. Rosa spricht einerseits aus der Distanz und flicht andererseits Passagen ihrer während der Suche nach Karola geschriebenen Aufzeichnungen ein. »Eines Tages verschwand Karola« ist ein spannender, aber auch angenehm ruhiger Roman, geschickt entworfen und entwickelt, geschrieben in einer exzellenten und ästhetischen Sprache, wie man sie heute leider nur mehr selten findet. Das Buch sei somit wärmstens empfohlen.

Michael Burgholzer: 108

Eva Riebler

Michael Burgholzer: 108
Lyrik der Gegenwart Nr. 75
St. Wolfgang: Edition Art
Science 2018, 140 S.
ISBN 978-3-902864-82-6

Grauslich gut! Michael Burgholzer, geboren 1963 in Linz, liebt Lyrik und erhielt zahlreiche Literaturpreise. Veröffentlichte zuletzt „Meine Reise zu den Nashörnern Österreichs”, 2017 Edition Art Science und zeigt mit diesem Titel schon Humor. Bei den vorliegenden 108 Texten ist der Humor abgrundtief. Er legt gereimte Lyrik, eventuell in Form von Sonetten, vor, wie auch Ungereimtes. Stets ist Rhythmus und Inhalt Trumpf. Unsere menschlichen Garstigkeiten werden vom Enthaupten des Johannes, dem Brudermord Krimhilds bis zum schonungslosen Jagen der Tiere - … die schergen / hetzen rehe mit /gewetzten sensen / dem fürsten knüppeln / büttel hühner / aus den büschen// im rabengarten/ punzt den fuchs / ein dutzend kugeln - in: „Aufbruch zur Jagd“ sprachlich höchst gekonnt, lautmalerisch ans Licht gezerrt. Sarkastischer Witz oder sozial-politische Angriffswut verbirgt sich nie, sondern wird stets zum Knüppel, der niedersaust. So z.B. die letzte Strophe von „Moderne Ernährung” S. 31: „…... die digitalen / mäuse fressen / analogen käse”. Oder in „Moderne Korrektur” werden Singvögel, die anscheinend nicht richtig singen medizinisch behandelt, bis das überlebende Drittel endlich richtig singt- was für ein Gleichnis! Es endet jedoch, wir ahnen es - die Natur schlägt zurück - mit Rollentausch: „so wendet sich / das blatt: mit blauen/ lippen zupft die /waidfrau für die / söhne aus der krippe / rosskastanien und heu // den hirschen im / hubertushof wird / jägerbraten aufgetan: sie heben röhrend / doppelte auf kimme / und auf korn“. Burgholzer fährt der Zorn aus seinen Augen in die Zeilen. Er lässt seine Zunge nicht entmündigen! Er wehrt sich wortgewaltig! Er legt seinen unbeugsamen, sprachlichen Fingerzeig vor! Ein exzellentes narratives, anklagendes und philosophisches Lyrikwerk!

Semier Insayif: Herzkranzverflechtungen

Cornelia Stahl

Semier Insayif: Herzkranzverflechtungen.
Gedichte.Wien: hochroth.
2018, 56 Seiten
ISBN 978-3-903182-13-4

Herz-Lust-Maschine, so lautet der Titel eines Gedichts, das den Abschluss eines Sonettenkranzes in Insayifs Lyrikband „Herzkranzverflechtungen“ bildet. Der Rezipient wird sofort hineingezogen: nichts wie hinein ins herzwandgeschehen/hohlvene oben und unten blind/ein saugen und drücken ein pochen entrinnt. (S.46). Identische Zeilen bilden wiederum den Ausgangspunkt neuer Verszeilen, splittern auf, verfeinern, gehen in die Tiefe.. Medizinische Termini wie Hohlvene, Pudendus, Zellen, Herzwand spiegeln sich im Text. Wo fragen und zweifel verstellen was schlicht/ ohne denken im innern zu suchen sich lohnt/ in den zellen gespeicherte wahrheit bewohnt (S.17). Arabisch, die Sprache seines Vaters, eignete sich Insayif erst als Erwachsener an, und entdeckte eine neue Seite, eine neue Sprachmelodie, die in diesem Band jedoch nicht tonangebend ist. Für ihn verbirgt sich hinter jeder Sprache ein Faszinosum, ein Phänomen, das anders riecht, anders klingt, anders aussieht, wie er in einem Interview preisgab. Die Arbeit und ach, die Lust am Text, atmet der Leser mit jeder Zeile ein. Es ist die Lust des Textes ist lust nur ist text nur und mehr noch ist weit nah und/fern darüberhinaus ist anfang und ende ist spiegel im blick (S.49). Die durchgängige Kleinschreibung bringt den Text ins Fließen, schafft Freiräume für divergierende Assoziationen und lässt mehrere Lesarten zu. Semier Insayif, geboren 1965 in Wien, ließ sich von Paul Valerie, Franz Josef Czernin und Gert Jonke inspirieren. Sein „Handwerk“ erlernte er an der Schule für Dichtung Wien. Fortan ist Schreiben für ihn ein „Muss“ geworden. Im neuen Lyrikband entlehnt er Zitate bekannter Autoren wie Rilke, Brecht, Petrarca u. a. Die Lust am Text, aber auch die Lust am Leben, kommt in den Gedichten des Autors zum Schwingen und überträgt sich nach längerem Lesen unweigerlich auf den Rezipienten! Eine ganz besondere Empfehlung- nicht nur für Lyrikfreunde!