60/Unentwegt/Essay: Unentwegt auf der Suche nach spannenden Geschichten

Cornelia Stahl

Unentwegt auf der Suche nach spannenden Geschichten

Wenn ich ein Essay zu einem bestimmten Thema schreibe, mache ich mich zuerst auf die Suche nach Indikatoren zum Thema und nach geeigneten Literaturhinweisen. Bin dann stundenlang im Internet, surfe von einer Seite zur nächsten, und von der nächsten zur übernächsten usw. Dann kann es passieren, dass ich abschweife, mich in der Flut des reißenden Flusses verliere, davon schwimme, im Strudel der Trends verschwinde. Will unentwegt dabei sein, up-to-date sein, noch bevor das Neueste am kommenden Tag in Lettern präsentiert wird. Bin unentwegt auf der Suche nach spannenden Geschichten.

Ist nicht alles schon geschrieben worden?

Lohnt es sich eigentlich noch, Bücher zu schreiben, Essays zu verfassen?,frage ich mich oft. Ist nicht längst schon alles gesagt und geschrieben worden? Diese resignative Frage stellt Gerhard Jaschke in seinem neuen Buch KURUMBA oder Die nicht geschriebenen Sätze. Sie korreliert mit dem  Wunsch, dass das letzte Wort noch nicht gesprochen ( oder geschrieben) worden ist.[1]  Keine Spur von Resignation verspüren wir beim Lesen der Essays von Nicholson Baker. Gebürtig 1957 in Rochester/New York, ist Spurensucher in Sachen Geschichten. Altes und Vertrautes bewahren ist ihm wichtig. Bekannt wurde der Amerikaner 2004 mit seinem Essay „Mähen“. Neugier ist die Triebfeder beim Entstehen  seiner Bücher und Essays, so Baker in einem Interview. Der an Zeitgeschichte interessierte Autor kaufte sämtliche Archive den Zeitungsverlagen ab. Das geschah bereits vor der allgemeine Krise. Baker sah in den Nachrichten von gestern einen Schlüssel zum Verstehen der Gegenwart. [2] In seinem Essay „Charme von Wikipedia“ bringt er seine Begeisterung zum Ausdruck, Artikel zu überarbeiten, sie zu aktualisieren und somit vor der Vernichtung zu retten.

Sich als Gestalter der Veränderung begreifen

In einem 2011 in der Paris Review hat Sim Anderson das Literarische Schaffen Bakers mit dem

der Niederländischen Maler verglichen. Beiden gemeinsam ist die Detailfülle. Kann man mit dem Ankauf der Vergangenheit, hier in Form der Zeitungsarchive, das Zurückliegende in der Gegenwart retten oder gar bewahren, so frage ich mich. Nach eigenen Aussagen Bakers treibt es ihn seit Jugendtagen unentwegt an Orte oder Gebäude, die dem Verfall verschrieben sind. Er sammle mit  Vorliebe Dokumente, in dem Wissen, Dinge nicht bewahren zu können, da sie einer Wandlung, einer Veränderung unterliegen. Nicholson Baker beschreibt in seinen Essays, wie sich diese Veränderungsprozesse vollziehen, er lässt den Leser teilhaben an diesem Prozess und versteht es, sich nicht als Opfer, sondern als Gestalter der Veränderung zu begreifen. [3]

Den Reiz gedruckter Medien neu entdecken

Wollen wir das  Alte bewahren, abschaffen oder etwas Neues gründen? Vor dieser  Frage standen vermutlich die Gründer der neuen, unabhängigen Print-Magazine, die in den letzten Jahren ( seit 2007) auf den Markt gekommen sind. Auch junge Menschen, die mit dem Internet aufgewachsen sind, entdecken für sich den Reiz gedruckter Medien neu. Laut VDZ, Verband Deutscher Zeitschriftenverlage, steigt die Gründungsbegeisterung. Das spiegelt sich auch in der Zunahme der Zahl selbstverlegter Hefte wider. [4] Die Gestalter der neuen Zeitschriften brennen unentwegt darauf, ihre Ideen umzusetzen, ihre Texte, Grafiken, Fotos, Vidoes anzubringen. Wirklich gute Magazine sind meist unabhängig, distanzieren sich von den Großverlagen, da diese selten Innovatives bringen. Die neuen Magazine wie Päng, ramp oder The Weekender sind trotzdem qualitativ auf hohem Niveau. Natürlich landen auch viele Texte und Fotos auf Blogs oder in Onlinen-Magazinen. Aber es kann auch andersherum gut funktionieren, wenn etwa Texte aus Blogs übersetzt und überarbeitet wieder in Heften und Magazinen erscheinen. Die Macher des neuen Wiener online-Magazin helden von heute träumen sogar davon, dass es bald eine Printausgabe geben wird, so der Herausgeber Floriam Scheuer-Bieche. Geschichten werden also gelesen, ob print oder online.

Unentwegt wie ein Vampir neue Geschichten aufsaugen

Im Lesen und im Schreiben bleiben, so hatte es die österreichische Schreibpädagogin und Autorin Petra Ganglbauer 2014 auf der Fernkurstagung der Literarischen Kurse in Wien formuliert. Zum Schreiben gehört unbedingt das Lesen! Denn Texte, die in der Schublade landen und nicht ans Licht der Öffentlichkeit dringen, werden nicht wahrgenommen und gelesen. Gefahren des einsamen Schreibers entdeckte Tom Rachmann, britischer Autor und Chefredakteur der International Herold Tribune in Paris. Auf seinen Recherchereisen kam er zu dem Schluss: Wer nur schreibt und nicht lebt, nichts erlebt, ist irgendwann ausgehöhlt und produziert sich nur noch selbst. [5] Wer aber keine Zeit zum Reisen findet, der kann Archive nutzen und in Tagebüchern und Briefen fremder Menschen fündig werden, um wie ein Vampir unentwegt neue Geschichten aufzusaugen, wie es Margit Schreiner treffend formulierte.[6]

Cornelia Stahl


[1]   Jaschke, Gerhard: KURUMBA oder die nicht geschriebenen Sätze. Wien: Sonderzahl-Verlag. 2014

[2]   Schmitt, Michael: Chronik der kleinen und der größeren Dinge. NZZ, 17.2.2015, Nr.39

[3]   Baker, Nicholson: So geht’s. Essays. Aus dem Englischen v. Eike Schönfeld. Rowohlt, Reinbek: 2015.

[4]   Message. Internationale Zeitschrift für Journalismus. 4/2013, S. 10-13

[5]   Zitiert nach: Ich ist ein anderer. In: Buchkultur, Heft 158, Heft Februar/ März 2015.

[6]   Dallinger, Petra-Maria: 15xKOOP-LITERA. Stifterhaus Linz. 2009