93 / Wirklich/Unwirklich / Interview / Anton G. Leitner

Gerald Jatzek sprach mit Anton Leitner, Lyriker und seit über 30 Jahren Herausgeber und Verleger der Jahresschrift DAS GEDICHT.

Du kannst auf 30 Jahrgänge von Das Gedicht zurückblicken. Was bedeutet das für dich?
Das bedeutet, dass ich die vermutlich besten 30 Jahre meines Lebens der Poesie verschrieben habe. Etwa zwei Drittel dieser Zeit habe ich mich für die Lyrik meiner Kolleginnen und Kollegen eingesetzt und dies mehr oder weniger ehrenamtlich. Ich entnehme mir bis dato kein Gehalt aus meinem Verlag, weil es dann nicht mehr möglich wäre, meine Angestellte und einige freie Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu bezahlen. Ich bin heute gesundheitlich ja nicht mehr in der Lage, einen Großteil dieser Arbeit allein zu leisten. Dennoch: Als wunderbares Instrument der Selbstvergewisserung verdient es die – nicht selten als „unverständlich“ verteufelte – literarische Königsgattung, primär in schweren Zeiten wie diesen am Pulsieren, am Leben gehalten zu werden.

Das Gedicht hat sich zu einem Leitmedium im Bereich Lyrik entwickelt. Wie war die Situation 1992?
Weil man ein so komplexes Projekt wie eine buchstarke Jahresschrift, ein Spezialorgan für Lyrik, nicht über Nacht aus dem Boden stampfen kann, habe ich bereits im Frühjahr 1992 mit den Vorbereitungen begonnen. Da war die deutsch-deutsche Einheit formal noch nicht sehr lange vollzogen worden; de facto existierten seinerzeit zwei grundverschiedene politische Systeme mit unterschiedlichen Erwartungshaltungen der Bürgerinnen und Bürger in West und Ost unter dem Dach der Bundesrepublik Deutschland. Die Welt tickte weitgehend analog, das Internet steckte in den Kinderschuhen, aber alles befand sich in einem großen Aufbruch. Der kalte Krieg schien für immer beendet zu sein. Das alles gab genügend Rückenwind für so ein waghalsiges Unternehmen.

Kinderlyrik, weit abseits von Hasi- und Mausireimen, bildet einen wesentlichen Bestandteil der Ausgaben. Wie kam es dazu?
Natürlich rührt bis heute ein großer Teil meiner unbändigen Begeisterung für gute Gedichte, also für literarische Texte, die es trefflich verstehen, komplizierte Lebenssachverhalte auf den Punkt zu bringen und dabei im Idealfall auch noch gut klingen und swingen, unter anderem daher, dass ich seit meinem sechzehnten Lebensjahr selbst Gedichte schreibe. Mein Enthusiasmus beruht auch darauf, dass ich Gedichte schon als junger Mensch erfolgreich eingesetzt habe, um Dialoge zu führen, um ins Gespräch zu kommen, insbesondere mit dem anderen Geschlecht. Insofern habe ich bereits als Jugendlicher begriffen, welch große sprachliche und kommunikative Möglichkeiten in der Lyrik stecken. Deshalb ist es besonders wichtig, Kinder und Jugendliche dafür zu begeistern und im besten Fall zum eigenen Schreiben zu motivieren. Das ist auch der Grund, warum es 2023 zum achten Mal ein „Special für Kids“ in Das Gedicht gibt, das seit dem Anfang bis heute der international renommierte Kinder- und Jugendlyrik- Experte Uwe-Michael Gutzschhahn kuratiert.

Dein Verlag hat 2023 zum zweiten Mal den Deutschen Verlagspreis erhalten. Hat die Ehrung den Buchhandel, Rezensionsmedien und das Lesepublikum auf die Bücher des Verlags aufmerksam gemacht?
Ich habe mich ungemein über diese hohen Auszeichnungen der Bundesrepublik Deutschland gefreut, begreife sie als eine späte und verdiente Anerkennung. In erster Linie halfen mir die insgesamt fast 50.000 Euro, die Krisenjahre 2022 und 2023 wirtschaftlich zu überstehen. Denn nach meinen schweren Erkrankungen in den Jahren 2018 und 2019 haben ab 2020 zunächst Corona und seit 2022 auch noch Russlands Krieg in Europa mit der dadurch bedingten Energiekrise und Inflation all das bis auf die Fundamente erschüttert, was ich mir in gut 25 Jahren zuvor aufgebaut hatte – übrigens immer mit großer, selbstloser Unterstützung meiner Frau Felizitas, die als Allgemeinärztin meine quasi ehrenamtliche Arbeit, meinen Lebensunterhalt abfederte und abfedert. Im Grunde müssten Verlage wie unserer jedes Jahr eine ähnliche Summe bekommen, denn Buchhandel und Rezensionsmedien sind heute oft auch mit dem eigenen Überleben beschäftigt und so risikoscheu wie selten zuvor.

Für Verlage wie Goldmann, dtv, Hanser, Eichborn und Reclam hast du mehr als 40 Anthologien mit Lyrik zusammengestellt. Lassen sich Gedichte nur in Sammelbänden verkaufen?
Eine erfrischende, themengebundene Auswahl von zeitgenössischen und klassischen lyrischen Texten kann sowohl als Taschenbuch-Originalausgabe wie als bibliophiler Hardcover-Band sehr gut funktionieren, weil darin naturgemäß ein niederschwelligeres Angebot steckt als in einem – meist als sperrig empfundenen – Einzelband. Und man sollte nicht vergessen, dass so eine Sammlung, die über ein solides Verzeichnis der Autorinnen und Autoren verfügt, auch zu deren Einzelbänden führt.

Du hast Rechtswissenschaften und Philosophie in München studiert, das juristische Referendariat absolviert und 1993 beschlossen, als hauptberuflicher Lyriker zu leben. Wer hat dich damals nicht für verrückt gehalten?
Eigentlich nur meine Frau Felizitas, die hat mich seinerzeit ohne Wenn und Aber unterstützt. Felizitas und ich haben sechs Monate, nachdem wir uns kennengelernt hatten, geheiratet. Damals haben uns auch alle für verrückt gehalten und unserer Ehe nicht mehr als zwei Jahre gegeben. So wars auch mit Das Gedicht. Inzwischen ist es im 31. Jahrgang und Felizitas und ich sind seit 32 Jahren verheiratet. Man achte auf den Zusammenhang!

Selbst hast du ein Dutzend Gedichtbände mit teilweise ungewöhnlichen Titeln herausgebracht. Wie schaffst du es, dein eigenes Schreiben von der Arbeit als Herausgeber abzugrenzen?
Probleme mit der Bewahrung von Originalität hatte ich nicht. Das Dorf Weßling, in dem ich lebe, und vor allem seine EinwohnerInnen und politischen MandatsträgerInnen, liefern täglich freiwillig, aber meistens eher unfreiwillig so viele bayerische Boccaccio-Geschichten, dass mit deren Aufarbeitung allein ein eigener Dorfschreiber ein ganzes Leben lang beschäftigt wäre. Die Hunde für Herausgeber liegen eher anderswo begraben: Literaturzeitschriften neigen dazu, ihre Macher zu fressen, weil sie sie im Übermaß Zeit kosten und unendlich Arbeit verursachen. Dass ich es in der Doppelfunktion als Schriftsteller und Herausgeber manchmal schwerer habe als Nur- SchriftstellerInnen, liegt daran, dass ich ja immer wieder einmal auch einflussreiche JurorInnen und KuratorInnen ablehnen muss, was diese dann damit quittieren, dass sie ihrerseits mich nicht drucken, nicht auf von ihnen bespielte Poesiefestivals einladen oder auch vom einen oder anderen Fördertopf wegbeißen. Das empfinde ich allerdings als zutiefst ungerecht.

Schreiben ist ja zumeist eine einsame Tätigkeit. Und Herausgeben ist auch nicht gerade eine Massenveranstaltung. Schränkst du dein soziales Leben deiner Arbeit wegen ein?
Ja, leider. Da ich viel zu viel arbeite und fast ausschließlich mit Leuten aus dem Literaturbetrieb verkehre, gibt es für mich praktisch kaum ein Privatleben. Und das wenige Privatleben wird dann dadurch ausgefüllt, dass ich mein über sechzig Jahre altes Elternhaus energetisch zu sanieren versuche. Das frisst einen Großteil meiner restlichen Zeit zum Leben auf. Die einzigen Reisen von Felizitas und mir sind die Fahrten zu meinen Lesungen, ansonsten ist die tägliche Umrundung des Weßlinger Sees mein einziger eskapistischer Luxus.

2016 und 2021 hast du Bände mit Dialektlyrik veröffentlicht. Was bedeutet es für dich, im Dialekt zu schreiben? Und wie funktioniert es, wenn du in Mecklenburg- Vorpommern oder in der Schweiz liest?
Im Dialekt zu schreiben, bedeutet, so zu schreiben, wie mir der Schnabel gewachsen ist. Zudem ist das Bairische eine Sprache, die ungemein lautlich klingt und sich deshalb exzellent für die Lyrik und den Gesang eignet. Manche KritikerInnen schreiben, dass es mir gelungen sei, die bis dato doch meist eher etwas biedere oder behäbige Heimatdichtung in Bayern in ihrer Bandbreite zu revolutionieren, in dem ich sie von Heimattümelei und Staub befreit hätte. Das sind Komplimente, die ich wirklich sehr gerne höre. Ansonsten habe ich keinerlei Probleme, meine Bairischen Gedichte im gesamten deutschen Sprachraum und darüber hinaus vorzustellen, weil ich für jedes meiner Mundartgedichte auch schriftdeutsche Nachdichtungen verfasst habe.

Abschließend, was wünscht du dir für die deutschsprachige Lyrik?
Dass sie weiterhin so viele Menschen wie möglich berühren, erfreuen und auch im besten Sinne unterhalten kann, und dass viele Verliebte über das Medium der Poesie zu Paaren werden.

 

Anton G. Leitner
Geb. 1961 in München. Er lebt als Schriftsteller, Herausgeber und Verleger in Weßling bei München. Bislang publizierte er 15 Lyrikbände, u. a. „Wadlbeissn. Zupackende Verse“ (2021), „Vater, unser See wartet auf dich. Erinnerungsstücke und nachgerufene Verse“ und „Wohin die Reise gehen könnte“. Deutsch–Arabisch, übersetzt von Fouad EL-Auwad (2023).
Neben 30 Folgen von Das Gedicht edierte er über 40 Anthologien, zuletzt „Lichtblicke. Gedichte, die Mut machen“ (Reclam, 2022).
Neben dem Deutschen Verlagspreis erhielt er etwa die Verlagsprämie des Freistaats Bayern und den Tassilo-Kulturpreis der Süddeutschen Zeitung. Leitner ist Gründungsmitglied des „PEN Berlin.“
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