Günther Stingl: Der einsame Wolf. Eva Riebler

 

 

 

 

 

 
 

Günther Stingl
DER EINSAME WOLF

 

 

Günther Stingl in seiner Literatenresidenz im Café Melange im Gespräch mit Eva Riebler. März 2009

 

Betrieb die Familie Stingl nicht das erste Hutmacher-Geschäft in der Innenstadt St. Pöltens?

 

Ja, eigentlich lebte die Hutmacherfamilie Stingl ursprünglich in Wilhelmsburg, wo Josef Stingl ein Hutgeschäft betrieb. Seine erste Ausbildung erhielt er als Sängerknabe im Stift Göttweig und ging dann auf die Walz, wie man die Wanderschaft nannte. Er hatte das Gewerbe bei seinem Großvater Anton Stingl  erlernt. Darüber hinaus war der 1842 geborene Stingl in den Jahren 1873 - 1879 Bürgermeister von Wilhelmsburg. Stingl war erst 31 Jahre, als er Bürgermeister wurde, was für seine große Beliebtheit und Tüchtigkeit spricht. Er hat viel für Wilhelmsburg geleistet. In seine Amtszeit fällt auch die Eröffnung der Bahnstation Wilhelmsburg. In der Kaserne am Hauptplatz diente Conrad Freiherr von Hötzendorf, später wohl der bedeutendste Feldherr des Weltkrieges.

Ab 1886 lebte Josef Stingl in St. Pölten. Sein Hutfachgeschäft erfreute sich weithin großer Beliebtheit. Rasch stand er im Mittelpunkt des gesellschaftlichen Lebens in der Stadt und führte in seinem Lokal in der Kremser Gasse den Zylinder ein. Sehr gefragt waren auch die breitkrempigen weichen Filzhüte aus seiner Werkstätte.

 

Gab es damals auch Freizeit für Müßiggang und Hobbys?

 

In der Freizeit widmete er sich der Musik. Er war nicht nur ein begehrter Quartettspieler, beherrschte auch mehrere Instrumente und trat überdies als Laienschauspieler auf. Im Stadttheater sang er in der Operette „Der Kellermeister“.

 

Wie schaute es damals mit den Öffnungszeiten aus? Den langen Samstag, den Einkaufssamstag, gibt es ja erst seit ca. zehn, fünfzehn Jahren.

 

Unter der Woche war seine Frau im Verkauf tätig, während er in der Werkstätte arbeitete. Damals war das Geschäft jeden Tag geöffnet, auch am Sonntag konnte man bis 16 Uhr bei Stingl einkaufen.

Am Faschingdienstag ruhte die Arbeit in der Werkstätte, da war er als Organisator der Faschingsumzüge aktiv. Aus Gesundheitsgründen übergab er im Alter von 66 Jahren seinen Betrieb. Stingl erlag einem Krebsleiden.

 

Ich erinnere mich an ein Hutgeschäft in der Wiener Straße.

 

Ja, sein Sohn Norbert machte sich in der Wiener Straße selbständig. 1899 kaufte er das Haus Wiener Straße 32 und 1910 das Haus Wiener Straße 13.

Norbert Stingl war ein dynamischer Mann. 1911 wurde er Gemeindebeirat von St. Pölten (er leitete das Gewerbereferat), war im selben Jahr in der Finanzkommission, 1915 in der Verwaltung der Stadtkapelle, 1917 leitete er die Musik-Kommission und war Mitglied der Bürgerversorgungs-Kommission.

Bereits 1910 wurde er zum Vorsteher der Hutmachergenossenschaft für Niederösterreich gewählt. 1932 wurde ihm der Titel Kommerzialrat verliehen. Ab 1935 war er Zunftmeister der Modezunft für Niederösterreich.

Auch in der Sparkasse hatte Stingl zahlreiche Funktionen: Bereits 1911 wurde er in den Sparkassenverein gewählt. 1921/1922 war er im Kontrollausschuss. 1922 bis 1939 war er Kurator, ab 1925 Direktionsmitglied und bis 1939 auch im Verwaltungsausschuss. Stingl lieh anfangs seine Sekretärin der Sparkasse stundenweise, wenn eine schriftliche Arbeit anfiel. 1941, mitten im 2. Weltkrieg, verstarb Stingl.

Der Sohn Hermann, mein Vater, übernahm die Firma des Großvaters, die er mit seiner Frau Elfriede, die Meisterin der Modisten und der Hutmacher war, führte.

Hutmachermeister Hermann Stingl liebte auch die Musik, er spielte wöchentlich Kammermusik (im Quartett die Geige) und die Natur. Auf eigenen Wunsch war er nur Landesinnungsmeister-Stellvertreter der Hutmacher, damit ihm mehr Zeit für die Musik blieb. Natürlich war auch er seit 1955 Mitglied des Sparkassenvereins und von 1963 bis 1972 Mitglied des Vorstandes der Sparkasse.

Nach dem Tod meines Vaters führte ich mit meiner Mutter und meiner Frau Astrid, der Tochter des bekannten St. Pöltner Rechtsanwalts Dr. Alfred Seydel, das Unternehmen weiter. In der Zeit, in der immer weniger Hüte gekauft wurden, wurde das Geschäft um Damenmode erweitert und hieß dann „Haus für Hut + Mode“. Durch den Umbau, der einem Neubau gleichkam, entstanden 60 Laufmeter Front und 18 Schaufenster.

Ich wurde 1966 zum Mitglied des Sparkassenvereins gewählt und bekleidete von 1975 bis 1979 die Funktion eines Rechnungsprüfers. 1987 wurde die Firma geschlossen und das gesamte Objekt vermietet.

 

Hattest du nun mehr Zeit für deine literarische Tätigkeit?

 

Ich war immer schon literarisch tätig, vor allem wurde als ich 14 Jahre alt war meine erste Geschichte im österreichischen Rundfunk gesendet. Das gab mir großen Auftrieb. Mit 20 Jahren bekam ich schon den ersten Literaturpreis verliehen. Weitere Preise und Auszeichnungen folgten. Das erste Buch („Bilanz“) erschien 1973 in einem deutschen Kleinverlag. „Schönberg und andere Erzählungen“ wurde ins Russische übersetzt und die „Erzählungen“ ins Bulgarische. Mein jüngster Erzählband „Eine hinreißende Geliebte ... und andere Erzählungen“ erschien 2008 in der edition va bene als Festschrift. Ich las daraus vor kurzem in der Buchhandlung Schubert.

 

Was rätst du einem jungen Schriftsteller, der von dieser Tätigkeit nicht leben kann? Soll er ein Geschäft gründen? Muss ja nicht Hutmacher sein!

 

Die Literatur alleine ist zum Überleben zu wenig! Er soll eine Firma gründen, soll sich aber vorher sich an die Wirtschaftskammer wenden!

 

Wie kamst du auf die Idee mit Alois Eder die Literarische Gesellschaft zu gründen?

 

Vor 24 Jahren gab es reges Interesse! Bei einer Versammlung waren damals 50 Interessierte! Gemeinsam mit Alois Eder und Prof. Leisching aus Innsbruck gründeten wir eine Vereinigung. Wir wollten lesen und publizieren. Die Stadt unterstützte uns mit einem Vereinslokal und mit Subventionen.

 

Und du unterstützt, da du kein Musiker wie dein Vater oder Großvater bist, seit Jahrzehnten das ehemalige Stadttheater und heutige Landestheater St. Pöltens mit deinem Abo. Wie fandest du die gestrige Premiere von den „Ortliebschen Frauen“?

 

Ja, ganz toll! Sehr spannend und zeitgemäß! Der Fall Fritzl wurde nachvollziehbar und die Beweggründe der Verflechtung und Abhängigkeiten sichtbar. Ich gehe gerne zu Premieren!

 

Was machst du, da du in der Straße oberhalb des Landesgerichtes wohnst, wenn übermorgen der Fritzl-Prozess beginnt?

 

Ich sperre ausnahmsweise mein Gartltürl zu!

 

Woher kommt der Name STINGL?

 

Das weiß ich leider nicht. Ich habe keine Ahnenforschung betrieben!
Darf ich dich einladen?

 

Danke für den Kaffee!

 

Günther Stingl

Geb.1939 in STP. Studium der Staatswissenschaften 1965, 1970 Hutmacher-Meisterprüfung. Seit 1987 freischaffender Autor in St. Pölten. Zahlreiche Förderpreise und Stipendien. 2003 Gedenkmedaille des Landes NÖ. Mitlgied bei der Arbeitsgemeinschaft österreichischer Drehbuchautoren, IG-Autoren, Gründungsmitglied LitGes St. Pölten, Vorstandsmitglied Österreichischer P.E.N. Club und Österreichischer Schriftstellerverband. Werke: Hörspiele, Erzählungen, Romane und Komödien - in 13 Sprachen übersetzt. Werke zuletzt: „Eine hinreißende Geliebte .... und andere Erzählungen“, Festschrift, edition va bene, 2008. „Blitzlicht“ Theater Center Forum Wien 2009.