86 / Umweg / Lyrik / Mannon Bauer: schreiben, sprechen, hören u.a.

I schreiben
wir schreiben mit unseren hörnern
die zeichen in die weiche rinde
wir lesen mit unseren mündern
die geschichten auf
und tragen sie in die städte
wir ritzen mit unseren händen
die erzählungen in die harten wände
wir kaufen mit unseren körpern unsere leben
und heben sie in den himmel
wir schneiden mit unseren hirnen
das erlebte aus den wolken
und kleben es auf den boden
wir sägen die böden auf
und stellen uns vor
dass sie uns halten
abgesehen davon
haben wir alle unsere wünsche vergessen

II sprechen
wie weit reicht ein name
ein wort das ich rufe

zurück in die nacht
wie verschlossen wie zu

kann es sein
dass wir beide
sprachen
durch türen
tief unten
gingen und
waren

III hören
die toten rasen an uns vorbei
wenn wir die ohren an die bäume legen
écoute
die geschlechter rasen ineinander
und die bäume wachsen aus ihnen heraus
wie heimlich laut gepflanzte wälder
ouça
sie schießen sie schießen auf uns
unter dem laub wollen wir uns verstecken
bis zum morgen
عمتسإِ
den morgen hören wir noch von fern
wenn sie die grenzen bis in uns hineingeschoben haben
escucha
leise mauern mauern mauern
auf der hundertsten seite
werden die gräber zu wolkenkratzern
listen
die gräben sind über uns
dass es ein pfeifen in den gipfeln gibt
hören wir nur wenn wir schalltot schlafen
escolta
wir hören nicht auf
auf die mauern zu schreiben
wir sind die steine die gehen

IV küssen
erst küssen wir uns unter dem wasser
dann hacken wir einen baum um
erst den richtigen, dann den falschen

eigentlich wissen wir nichts
erst dann schauen wir

V lesen
auf meinem rücken stehen
buchstaben in rot und gold
du schlägst mich auf
auf jener seite
streichst mich aus
als laute
murmelst leise
und dann liest du mich
liest du mich auf
als strich auf dem blatt
als bogen auf der saite
hebst über rücken du
und drückst mich an die rachenwand
und sprichst mich wieder aus

VI lungern
wir, baum für baum,
lungern vor den toren
der bären und bienen
wir wissen, ast für ast,
wir kriegen die münder nicht voll
von den kirschen
die weiße rinde löst sich und
darunter stehen unsere geschichten
blatt für blatt schreien wir
sie uns zu im roten saft
stehen wir, nadel für nadel, dicht an dicht
die erdperle springt zurück
wir lungern vor den toren
der bären und bienen
tausend tiere fressen unsere füße auf
bis nichts mehr es selbst ist. dann
öffnet jemand das tor

VII gehen
wir gehen unausweichlich
auf einen grund zu
der in unserem mund
keinen platz zu haben scheint

wie schmeckt das

ende

Manon Bauer
Geb. 1987 in Wien, Studium der Romanistik und IGP Violoncello. Freie Schriftstellerin und Kammermusikerin. Tätig in einem Figurentheater. Veröffentlichung von Gedichten und Kurzprosa in Literaturzeitschriften (z.B. Lichtungen) und Anthologien (z.B. edition art science), erster Gedichtband erscheint im Herbst 2021 in der Lyrikreihe der edition keiper.
mail: manon_bauer@yahoo.fr