90/Unter Wolken/Lyrik/Silvio Colditz: Unter den Wolken

etwas blieb auf den Lichterwegen zurück Brösel vom Ballast der
Seele Reste unbewohnbarer Worte Flusen vom Glück kopiergeschützter
Empfindungen ferner noch sangen Vögel zwischen uns stritten die Lüfte
der Zivilisationen & die Leiber selbst blieben die winzigen Momente die wir

uns mit unseren Blicken aus der Welt stahlen indem wir sie uns heimlich
zuwarfen ein wir bleibt ein Mund oder ist nicht das uns bekannte hatte
über Nacht entschieden wieder unbekannt zu sein hatte der Stein
entschieden Stein zu sein zu werden zu bleiben

über Nacht waren
die Wolken aufs Land gefallen & die erwachende Sonne projiziert
ihre Schatten-Animationen auf das steile Dach der Kirche ein Segel
Möwen zieht den Pflug über das Feld die vom Morgen überraschten

Blumen des Hasen & die weißen Hintern der Ricken verschwinden
mit raschen Sprüngen in den Büschen am Waldrand der Blick meines
Aufwind getragenen Federauges ruht auf dem Land zwischen den
waldhutbedeckten Hügeln

aufgestiegen vom Grund der Erde das Ansitzauge die Stimme des
Waldes trug es hinauf aus der Zeit schafft es seine eigene Stille während
es das Möwenauge kreuzt sammelt es seine Instinkte mit manischen
Kreisen wird erneut Jäger & wartet auf unbedachte Bewegungen ein
hungriger Flügeldorn Rausch der herabstößt

der letzte Trommelwirbel des Buntspechts
entzündet die Himmel die Wipfel der Eiche beugen sich unter dem
hundertfachen Pfeifen der Stare der Rotmilan der über den Tag seine
Gedichte mit sicherem Schwung an den Himmel schrieb übergibt seine

fertigen Kalligrafien dem Wind der Nacht die haucht die Tageslaute aus
einen Schleier Sand in die Farben im fließenden Graben gluckert die
Vorfreude aufs Meer das aufgebrauchte Licht klappert noch einmal im
Flügel der Libelle bevor es mit der Wärme davonzieht

der blasse Regen versteckt sich im Teich dieser spiegelnden Lichtung
im Forst der ausgezehrten Fichten eitle Wolken die verworfenen
Gedanken der Erde schubsen sich über den Himmel die Sommervögel
zwitschern ihre Lieblingslieder

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Silvio Colditz
Geb. 1978 in Stollberg/Erz, lebt als Dichter & Kalligraf in Dresden, gründete 2007 „Der Maulkorb - Blätter für Literatur und Kunst” (bis 2019), 2018 erschien Aporien im Umgang mit mir selbst, Gedichte, 3 Crows Publishing, betreibt die Kalligrafische Bibliothek der Poesie, seit 2022 Herausgeber Die Geste, www.instagram.com/die_geste_/.
Mail: silvio_colditz@gmx.de