93 / Wirklich/Unwirklich / Lyrik / Manfred Ach: Irre geführter Dialog

Wo bin ich hier?
Du bist im Krankenhaus.
In was für einem?
In der Psychiatrie.
Das kann nicht sein. Ich bin in einer Kirche.
Wie kommst du denn darauf?
Der da drüben ist ein Priester.
Das bildet er sich ein.
Er hat mich freigesprochen.
Vielleicht war er mal Richter.
Er hat das Gesetz auf seiner Seite.
Welches Gesetz?
Das Gesetz und die Propheten.
Du hast einen religiösen Wahn.
Es gibt keinen anderen.
Ist jeder Wahn religiös?
Es gibt keinen anderen.
Ich bin nicht religiös.
Das ist eine Wahnvorstellung.
Ich bin gesund und nicht wahnsinnig.
Das ist eine Wahnvorstellung.
Reden wir über etwas anderes.
Es gibt nichts anderes.
Es gibt DEN anderen.
Eben.
Ich meine DICH.
Das ist dasselbe.
Du bist nicht mehr derselbe.
Das ist dasselbe.
Du warst für mich ein Mitmensch.
Geht’s auch ohne Mensch?
Nein, Mensch bist du noch immer.
Ohne geht’s nicht?
Nein.
Ohne Filter?
Das ja. Pur. Rein.
Du willst mich drehen.
Ja, umdrehen.
Ich soll deine Rolle spielen.
Das siehst du falsch.
Ich sehe klar.
Na klar.
Sag ich doch.
Ich habe dich durchschaut!
Und was siehst du jetzt?
Rate mal!
Ich weiß dir keinen Rat.
Schad.

Postscriptum: Nicht selten sind es gerade die geschlossenen Anstalten, die offene Gespräche ermöglichen.

 

Manfred Ach
Geb. 1946, lebt in Bayern und in Wien; studierte Germanistik, Philosophie und Theologie; langjährige Beschäftigung mit Pseudowissenschaften, Sekten und ideologischen Fundamentalismen.