Turm / Etcetera 87 / Lyrik / Christina Schinko: Da, wo du mich einsperrst

Lass mich raus. Lass mich raus aus dem Körper, raus aus dem Bett, raus aus dem Zimmer, raus aus der Wohnung, raus aus der Straße, raus aus der Stadt. Ich schlage so fest, dass du nicht einschlafen kannst, dass du nie wieder schlafen kannst. Lass mich raus, lass mich zurück zu meinem – zu einem – Rhythmus finden. Wer immer dem Takt anderer folgt, verliert ihn. Ich schlage dir solange bis zum Hals, bis die Mauer um mich endlich zu bröckeln beginnt. Warum hast du dieses Gefängnis gebaut? Lass mich wieder raus.

Weißt du noch, als ich dir den Takt vorgegeben habe? Du hast mir vertraut, du hast mir zugehört. Dann hast du weggehört, als er dich angelächelt hat. Den ersten Stein hast du gelegt, als er dich belächelt hat. Er hat sich lustig gemacht, er hat laut gelacht. Er hat dir verboten zu weinen, er ging, kam zurück und tat, als sei nichts gewesen. „Du weißt ja, wie er ist, du musst ihm Zeit geben.” Du hast gewartet und die Mauer hochgezogen. Stein auf Stein. Als er nicht an dich geglaubt hat, als er nicht an euch geglaubt hat.

Ich habe wild geschlagen, ich habe die Steine weggetreten. Du hast es gespürt, so fest habe ich mich gegen deine Mauer gestemmt. Bis sie gegen deine Rippen gedrückt hat und du kaum noch Luft zum Atmen hattest. Du hast dir an die Brust gegriffen und bist zur Ärztin gegangen. Es muss doch etwas geben, damit dein Herz im selben Takt wie das seine schlägt. Es muss doch etwas geben, damit du ihm nicht so zur Last fällst. Es muss doch etwas geben, dass dein Herz nicht so schwer wiegt. „Nein, beruflich ist alles ok”, sagst du. „Ja, ich lebe in einer Partnerschaft.” Du willst nicht reden. Denn „worüber soll man da bitte noch reden”, hat er immer gesagt. Bevor er ging, zurückkam und tat, als sei nichts gewesen.

„Was hast du denn, mein Herz”, hat er stattdessen gesagt. Lass uns ein Bier öffnen, lass uns trinken auf dich und mich, ich liebe dich, lass uns Pizza bestellen und Negroni trinken, lass uns den Prosecco öffnen, lass uns die neue Cocktailbar ausprobieren, lass uns in den Club gehen. Lass mich einfach in Ruhe.

Der Rhythmus, der dich durch die Nacht trägt, ist nicht mein Rhythmus. Wir schlagen im Gleichtakt, nicht weil ich das will. Wir schlagen im Gleichtakt, weil du mit ihm aufs Klo gegangen bist, weil er dir da eine Line auf sein Handy gelegt hat, weil er dich gegen die Tür gedrückt und geküsst hat, so lange, bis es von draußen daran geklopft hat. Ich rase in meinem Turm, ich laufe die Wände rauf und runter, lass mich raus. Hör auf zu tanzen, hör auf am Klo zu küssen, hör auf, kleine Herzen mit Wodka zu verschlucken. Ich bin dein Herz. Ich bin das einzige Herz, das du brauchst. Spürst du mich denn nicht?

Lass mich raus. Lass mich raus aus dem Körper, raus aus dem Bett, raus aus dem Zimmer, raus aus der Wohnung, raus aus der Straße, raus aus der Stadt. Komm mit mir. Und komm nicht zurück. Ich sag dir, was ich habe. Ich habe genug. Lass mich raus, lass mich zurück zu meinem – zu einem – Rhythmus finden. Spürst du mich denn nicht? Ich bin das einzige Herz, das du brauchst. Was hast du getan? Lass mich raus. Lass mich ... lass ...

Maria-Christina Schinko
Geb. 1982 in St. Pölten, lebt und arbeitet als freiberufliche Werbetexterin in Wien. Studium der Publizistik und Politikwissenschaft in Wien und San Sebastián / Spanien, Arbeitsaufenthalte in Salzburg, Portugal und Graz. Absolventin der Studienergänzung Rhetorik an der Universität Salzburg und der Leondinger Akademie für Literatur. christina.schinko@gmail.com