69/LitArenaVIII/Prosa: Andrea Krotthammer : Sich annähern

Ehe du den Raum richtig betreten hast, hat sich schon eine unendliche Müdigkeit über dich gelegt. Es ist keine behagliche Müdigkeit, die dich umhüllt, die dich sanft in den Schlaf wiegt, wie einen Säugling. Das Leben beginnt hier nicht, es endet, oder eher: Es will enden, kann aber nicht. Du bist so unendlich müde, und dabei nimmst du, die Jüngste, dir doch jedes Mal, wenn du hierher kommst, vor, etwas Licht in das Dunkel zu bringen, das nie genug schwarz wird, um das Unschöne gänzlich zu verdecken. Du musst an dieses alte Kärntner Volkslied1 denken, das deine Mutter so gern hat, und das dich zum Weinen bringt.

 

Wo is dönn in Schnea noch a Wögle za dir, 

Kindle fein, Kindle klan? Is nit guet in dar 

Finster, wånn ka Steigle mehr is,

dar Schnea weat mi gånzar varwahn.

 

Du bleibst an der Türschwelle stehen. Du hasst dich dafür, dir insgeheim zu wünschen, sie würde noch schlafen, in ihrem Bett, und nicht in ihrem Lehnstuhl im Wohnzimmer. Inzwischen schläft sie fast den ganzen Tag, doch während der tiefe Schlaf in der Nacht angebracht und erwünscht ist, und daher auch als solches anerkannt wird, wird dasselbe Verhalten – die immerzu geschlossenen Augen, der leise Atem, das auf die Seite gelehnte Gesicht – untertags als Halbschlaf gewertet. Dreimal am Tag musst du gefüttert werden. Die Pflegerinnen müssen dir deine Tabletten geben, dir mehrmals die Trinkpipette zum Mund führen, um dir etwas Saft einzuflößen. Dein Dauerschlaf – genauso wie dein Dauergeplappere früher – bereitet ihnen Probleme. Schmeckst du noch etwas davon? Wie bringst du nur dieses Vertrauen auf, blind alles zu schlucken, was wir dir geben? Oder reagiert dein Körper auf den Löffel am Mund wie ein Sesam-öffne-dich nur noch automatisch, reflexartig? Der Blick der Pflegerinnen, die doch regelmäßig ihr Heimatland und ihre Familie verlassen, die stundenlange Autofahrt auf sich nehmen, um alle zwei Wochen 24h am Tag in nahezu völliger Isolation zu dir in deine Dunkelkammer zu kommen, ihr Blick ist dennoch liebevoll. Anstatt dich ebenso liebevoll zu betrachten, beobachte ich sie verstohlen, male mir ihr Leben aus. Pflichtbewusst schaue ich dich ab und zu an, wenn ich ihren prüfenden Blick auf mir spüre, nur um dann wieder in den BUNTE-Magazinen zu blättern, die ich mir selbst nie kaufen würde, zu teuer, zu peinlich für jemanden, der an der Uni Literatur studierte. Wenn ich mich in der Stadt im Glauben einlullen lasse, mein Studium sei etwas wert, weiß ich doch, dass es mir hier bestenfalls dabei hilft, mich selbst gekonnt in eine Geschichte zu weben, wie eine Spinne ihr Netz um sich webt, um nicht zu fallen. Die Anderen glauben, ich besuche dich, weil ich bei dir sein will. In Wahrheit ist der Anreiz ein anderer: Ich komme raus aus dem Hamsterrad der Großstadt, dem Stress, den nicht enden wollenden Zukunftsfragen. Ich genieße die Landschaft, die im Bus und am Zug auf der Fahrt zu dir an mir vorbeizieht. Das einzige Panorama, das ich kenne, sind Wörter und Buchstaben. Wir sind uns nicht so unähnlich, wie ihr denken mögt. Unentwegt sitzt du bewegungslos in deinem Lehnsessel. Für die Außenwelt leistest du keinen Beitrag mehr. Genauso bewegungslos friste ich mein Dasein in meinem Studierzimmer, lese Bücher, die mir nicht gefallen, lerne Stoff, den ich bald vergessen haben werde, schreibe Arbeiten, die niemand lesen wird. Brav zitierst du, dass Demenz eine literarische Krankheit ist2. Die Betroffenen müssen ihre sprachlichen Lücken mit kreativen Strategien kompensieren. Die Angehörigen finden Halt in der Literatur. Du führst Arno Geiger als Paradebeispiel an. Du selbst schreibst stümperhaft. Du findest jetzt schon, dass dein eigener Text zu pathetisch geworden ist, zu viele Appositionen, zu empathisch, zu düster. Ein guter Start, vielleicht, da hast du dich noch um eine besonders schöne Sprache bemüht, dann ist dir die Luft ausgegangen, die Lust und auch die Zeit. Ganz ehrlich, wenn du von der Arbeit heim kommst, raffst du dich dann noch auf, um zu schreiben? Du gehst ins Bett, schaust fern, gehst früh schlafen, hoffst auf schöne Träume und hoffst gleichzeitig, sie beim Aufwachen wieder vollständig vergessen zu haben. Sonst fühlst du dich noch verlorener. Sei ehrlich, schreibst du, um deiner stummen Großmutter eine Stimme zu geben, wie Camus seiner Mutter? Oder bist du einfach nur scharf auf den Preis? Wann handelst du mal nicht aus Kalkül.

 

Abar her übarn Schnea geaht a Schein bei dar Nåcht, 

Kindle klan, Kindle fein; is ka Herzel valåssn,

dås se fürcht bei dar Nåcht,

wert ålln a Wög ume sein.

 

Immerhin hast du dich jetzt dazu durchgerungen, die Hefte wegzulegen, um dich auf den Schemel direkt neben sie zu setzen. Du solltest ihre Hand halten, ihr über die Wange streichen. Jedes Mal ist es eine Überwindung. Um den Moment hinauszuzögern, gibst du vor, ihr etwas Gutes tun zu wollen. Du liest ihr aus dem Sagenbuch für Kinder vor. Deine Stimme krächzt, weil du versuchst, lauter als sonst zu sprechen, nicht gedämpft, verstohlen, wie du es sonst tust. Du stolperst über die Wörter. Du schämst dich. Und dir hat man drei Abschlüsse gegeben. Dennoch scheint dir, sie habe den Kopf leicht bewegt, aufgehorcht vielleicht. Vielleicht ist es aber auch nur deine Interpretationsschleife, die sich schon wieder in Gang setzt, um eure Geschichte weiterzuspinnen. Meine Stimme kann dich nicht erreichen, aber wenigstens nehme ich dich mit in meinen Kopf. Wie Arachne nähe ich eine Decke aus Buchstaben für dich, um sie wärmend über uns beide zu legen. Wie schön, dieser Satz; wie tröstlich, diese Idee. Aber von außen seht ihr nur eine junge Frau neben einer sehr alten Frau. Die ältere erkennt die jüngere nicht mehr, mehr noch: Sie registriert ihre Anwesenheit nicht einmal. Die jüngere weiß nicht, wie zu ihr vorzudringen. Unbeholfen streicht sie über ihre papierne Hand. Sie kommt ihr wie zerbrechliches Pergament vor, verblichen, faltig, ein Gemisch aus Weiß, Gelb und Braun. Aber alte Schriften kann sie nicht lesen, und so auch diese nicht. Ihre Finger sind fein, lang und dünn. Wie und wo hält man eine Hand? Welche Finger umschließen welche? Wie fest drückt man? Wie lange darf man sie halten? Wann muss man loslassen, sodass nicht auffällt, dass man den Halt der anderen braucht? Du weißt es nicht. Du kennst es nicht. Aber du kannst beobachten. Du hast beobachtet, dass während Eltern die Hände ihrer Kinder eher lose ‚umschließen‘, die vier größeren Finger der einen Hand in einem unter die vier größeren Finger der anderen Hand fahren, Pärchen – wenn sie gerade erst zusammengekommen sind oder noch etwas ineinander verliebt sind – ihre Hände ineinander ‚verkreuzen‘, die einzelnen Finger der einen Hand sich in den einzelnen Fingern der anderen ‚verzahnen‘, als wollten sie sich nie mehr loslassen. Aber eigentlich weißt du nicht genau, wie du diese Gesten beschreiben sollst. Vielleicht, weil sie nicht beschrieben werden, nur erfühlt, gefühlt. Und auch hier bleibst du stümperhaft. Um diese Hand, die so zerbrechlich aussieht, nicht zu verletzen, ‚umschließt‘ du sie leicht. Du streichelst sie ein bisschen. Du bist überrascht, dass du dich nicht mehr ekelst. Du erinnerst dich, dass du früher im Kunstunterricht mit 17 oder 18 wochenlang versucht hast, eine Hand detailgetreu zu zeichnen. Die Faszination für Hände, für die Berührung, die für andere so selbstverständlich, für dich aber so fremd ist, ist bis heute geblieben. Hättest du damals gedacht, dass es einmal deine stumme Großmutter sein wird, die sich nicht rühren kann, die dir Antworten auf deine Fragen geben wird? Und wieder geht es nur um dich.

 

A Wög für mi ume, wånn de Gfrier aufesteaht,

Kindle fein, Kindle klan; werst mi tröstn, werst mi trågn, 

werst mei Liacht ume sein,

dei Liab weat ka Schnea nit varwahn.

 

Während meine Hand versucht, diese andere Hand zu streicheln, denke ich an andere. Ich denke an die Finger meiner Tante, die nach einer schlimmen Gehirnentzündung und dem künstlichen Koma nun schon seit Wochen ebenso apathisch immerzu in ihrem Bett auf der Intensivstation liegt. Im Unterschied zu meiner Großmutter sind ihre Augen offen, finden uns aber nicht. Während die langen Klavierspielerfinger meiner Großmutter jenen meiner Mutter ähneln, ähneln die kurzen, dicklichen meiner Tante ihrem Bruder, meinem Vater. Es sind Finger, die anpacken und arbeiten, keine Finger, die schreiben und lehren.

Ich denke auch an deine Hände, auch wenn ich sie und dich mit ihnen längst vergessen haben sollte. Ich denke an das, was sie mir geben hätten können. Ich schäme mich dafür, weil es mir vorkommt, als würde ich mich dir aufzwingen, wenn ich meine Gedanken weiterspinnen lasse, während du entschieden hast, den Faden, der eine Geschichte werden sollte, ‚unsere‘ Geschichte, gleich zu Beginn abzuschneiden.

 

1 Liedtext: s.i. (1997): Die schönsten Kärntner Lieder. Klagenfurt: Verlag Johannes Heyn, 228-229. Text: Gerhard Glawischnig.

2 Dackweiler, Meike (2014):"Die Alzheimer-Narration am Beispiel von Arno Geigers Der alte König in seinem Exil". In: Herwig, Henriette (Hg. 2014): Merkwürdige Alte. Bielefeld: Transcript, 251- 276, hier: 271.

 

Andrea Krotthammer

Geb. 1991 in Innsbruck. Studium Universität Innsbruck. 2010-2013 Bachelor Französisch, 2013-2015 Master Französisch, 2013-2017 Lehramt Französisch/Deutsch. Auslandssemester WiSe 2014/2015 Université de Montréal (Quebec, Kanada). Mitarbeit im Innsbrucker Zeitungsarchiv (IZA, Institut für Germanistik) und im Zentrum für Kanadastudien Innsbruck (ZKS), Universität Innsbruck.