75/Paradies/Prosa: Gerhard Benigni: Abseits von Eden

Paradiescreme zum Nachtisch. Eine Leiche zum Dessert. So weiß und zart. Ohne Vorwarnung verschieden. Der Rupert. Noch keine 80. Gerade einmal 37. Kipp und aus. Nach vorne. Mitten in die locker-leichte Süßspeise. Auf seine Schokoladenseite. Fertig in nur drei Minuten. Jeden Tag wieder lecker schmeckt. Dem guten Rupert wohl nicht mehr. Es war sein erster Tod. Neben seinen alljährlich dramaturgisch inszenierten Erkältungstoden nach zweimal Niesen binnen drei Stunden. Unaufrichtiges Beileid, liebe Tine!
Ja, die Tine. Ihr konnte er jene Stirn, die sich soeben Kopf über Hals in die unverwechselbar cremige Masse Geschmacksrichtung Weiße Schokolade gestürzt hatte, zu Lebzeiten niemals bieten. Auch das Wasser konnte er ihr nicht reichen. Unter Prosecco setzte Tine gar nicht erst an. Rupert hingegen war Wassermann. Wenn auch dem Alkohol keineswegs abgeneigt. Gekrümmt sitzt er immer noch da. Die Karaffe mit belebtem Grander-Wasser steht still auf dem Tisch. Rupert ist eingegangen. Nicht ins Paradies. Aber immerhin in die Paradiescreme. Sein Diesseits ist hiermit Geschichte. R.I.P. Rupert in Paradise. Ruperts Beziehung mit Tine. Sie war abseits. Von Anfang an. Aber von Anfang an.
Er. Rupert Bösendorfer jun. Lokalpolitiker des rechten Flügels der örtlichen Rechtspartei. Der LHJ. Liste Heimattreuer Jendorfer. Stolze Burschen allesamt. 17 Mann hoch. Die Frauenquote. Bloß ein Schlagwort. Der junge Bösendorfer. Unter den Frauen im Ort als Mösendorfer verschrien, von seinen Brüdern im Geiste liebevoll Rüpli gerufen, von den linken Genossen im Gemeinderat als „kleiner Himmler auf Erden“ bezeichnet. Bezahlte Anzeige. Gerichtliches Nachspiel. Kein kurzer Prozess. Immer noch anhänglich.
An seiner rechten Seite. Seit geraumer Zeit. Sie. Die Tine. Martina Martinz. 29. Studentische Verbindung zur Uni. Auf Teilzeit. Immer wieder unterbrochen. Wegen der Kinder. Vier an der Zahl. Von ebenso vielen Erzeugern. Kein Balg von Rupert. Impertinent wurffreudig. Die Tine. Wie es in der Gebärsprache beiläufig heißt. Kein leichtes Mutterkreuz, das sie da zu tragen hat. Sechs. Vier. Drei. Und zwei. Dazwischen zwei Semester psychosoziale Sonderheilpädagogik. Im Fernstudium. Schwerpunkt Ausdruckstanz. Doch keine rechte Freude am Studieren. Kopulieren geht über studieren. Lieber Hausfrau und Mutter. Als Horkheimer und Montessori. 
Es ist Zweitausendundfünfzehn. Im Mai. Am sechzehnten. Ein Samstag. Vormittags. Um halb zehn. „Dein Rechts für Freiheit“. Bei dieser Kundgebung. Da marschieren sie auf. Die wohlbehüteten Burschen. G’schaftige Rudelbildung. Ihr Leitwolf. Der Bösendorfer. Mittendrin. Mit zwei Fahnen. Eine von Österreich. Und eine vom Alkohol. Die Tine. Die kommt gerade vom Bäcker. Mit frischen Semmeln. Für sich, ihre vier Kinder und ihre Mutter. Bei der hat sie als Zwischenintermezzo wieder einmal samt Gefolge Unterschlupf gefunden.
„Stell dir vor. Wie ich da vom Bäck ums Eck noch im Halbschlaf Richtung Hauptstraße geschlurft bin, sind diese Halbwilden ansatzweise im Stechschritt über den Marktplatz stolziert. Befremdliche Parolen haben sie gegrölt und wie ich die Plakate gesehen habe, die sie über ihren erhobenen Häuptern zur Schau getragen haben, da hab’ ich bei mir gedacht: Na, da schau her, diese Dodeln. Die haben das aber vollkommen falsch verstanden, mit mehr Transparenz. ,Jendorf den Jendorfern!‘ stand auf einem. Mit dem Gendern haben die’s wohl nicht. Keine Rede von Frauen. Typisch Männer“, echauffiert sich Tine über den frauenverachtenden Gender Menstream, als sie ihrer Mutter Gutlinde am Frühstückstisch von ihrer Begegnung der anderen Art erzählt. Dass zwölf Halbstarke so einen Höllenlärm machen können, das will der Tine erst recht nicht einleuchten. „Wie die Chaotentruppe dann näher auf mich zugekommen ist, da hätt’ ich echt gute Lust gehabt, jedem einzeln ein Haxl zu stellen. Dazu hatte ich aber keine Gelegenheit, weil der Anführer von denen just in dem Moment in seinem Suff über seine eigenen Füße gestolpert und auf mich zugetorkelt ist. Mitten rein in mein ausladendes Dekoletté. Den aufdringlichen Typen hätte ich mir gleich an Ort und Stelle zur Brust nehmen sollen, aber die Schwerkraft war stärker. Wie in Zeitlupe ist er an mir entlang nach unten gerutscht, bis sein Kopf dann mit einem dumpfen Geräusch auf den Pflastersteinen aufschlug. Seine Kumpel haben noch gerufen, ich soll den Bösendorfer auffangen, aber ich hatte keine Chance, diesen Lackel festzuhalten. Sonst wäre ich mit umgefallen und oben drauf auf ihm gelandet.“
Beim Namen Bösendorfer zuckt Tines Mutter zusammen. Von da an hört sie auch gar nicht mehr richtig zu.
„Der Bösendorfer?“, fragt Gutlinde ungläubig und setzt nach. „Weißt du, Schätzlein, wer das ist?“
„Nein, Mutter, woher denn? Ich hab’ diesen Rüpel noch nie zuvor gesehen.“
„Ach, Tinchen, du Dummerlein. Den kennt doch jeder. Gutsherr ist er, draußen am Landgut Bösendorfer. Seinem Vater, dem Rupert Bösendorfer sen., dem gehört halb Jendorf. Inzwischen wohl mehr dem jungen Bösendorfer. Auf Deutsch g’sagt, der wär’ eine gute Partie.“
„Scheint wohl der Rechte zu sein, um mich und die vier Kinder in Zukunft durchzufüttern“, scherzt Tine.
„Und noch dazu im besten Alter, Tinchen“, scheint Mutter Gutlinde die Ironie in Tines Worten völlig zu entgehen. Rechtsradikale Schnapsdrosseln fallen an sich nicht in Tines Beuteschema. Von den Kindsvätern war zwar auch keiner ihr Traumprinz, doch ein Schnösel mit weich gesoffener Birne? Das kann Tine nicht goutieren.
„Meinst du wirklich, der wär’ was für mich?“
Gutlinde lässt ihren Blick über die vier Enkelkinder hin zu Tine schweifen und nickt stumm. Tine wendet sich mit einer abfälligen Wischbewegung vorm Gesicht wortlos ab und schiebt sich einen gehäuften Esslöffel Nutella in den Mund.
Dem Rupert ist der ganze Vorfall am nächsten Tag mehr als peinlich. Den Barhocker hat es ihm in seinem Dusel schon öfters ohne Fremdeinwirkung unterm Hintern weggezogen, aber an einem helllichten Samstagmorgen vor einer Frau auf die Knie zu gehen, das hat selbst er als bekennender Antiromantiker sich gänzlich anders vorgestellt. Eine persönliche Entschuldigung samt kleinem Dankeschön für seine Ersthelferin muss unbedingt sein. Und das möglichst rasch. Am Sonntag. Acht Uhr früh. Er klingelt an der Tür. 
„Wer kann das nur sein?“
Bingo! Es ist nicht Dorian Steidl, sondern Rupert Bösendorfer. Geschniegelt und gestriegelt. Im Kärntneranzug. Fesch schaut er aus. Sehr fesch. In der rechten Hand einen riesigen Blumenstrauß. Und in der linken eine Schachtel Mon Chérie. Auf der Stirn ein Pflaster. Ein großes Pflaster. Wunden geschehen. Wie die Gutlinde die Tür öffnet, platzt es aus ihm heraus.
„Guten Morgen, Frau Martinz. Sagen Sie, Ihr Fräulein Tochter...“
„Aber, aber, der Herr Bösendorfer. Wollen Sie ihr leicht einen Heiratsantrag machen in Ihrem Aufzug?“
Von der Unverblümtheit der Frage merklich verstört und im Gesicht errötet kontert Rupert schlagfertig.
„Ja, würden Sie denn Ja sagen, Frau Martinz, wenn ich hier und jetzt um ihre Hand anhalten würde?“
Beinahe am Nutella-Brot erstickt die Tine, die das Geplänkel an der Wohnungstür mitbekommen hat, weil es sie plötzlich heftig würgt. Ein Ächzen und Krächzen aus der Küche, heftiges Husten, dann nur noch ein Röcheln.
„Um Himmels willen, Frau Martinz, sagen Sie, stirbt mir da meine angehende Ehefrau grad vor der Hochzeit weg?“
Und dann stürmt er rein. Der Rupert. In die Wohnküche. Und schlägt der Tine mit der flachen Hand mit voller Wucht zwischen die Schulterblätter. Prompt unterzieht der Kopf von der Tine die massive Tischplatte aus Teakholz einem spontanen Elastizitätstest. Leider dämpft der zuvor ausgespuckte matschig-glitschige Nutella-Brot-Klumpen den harten Aufprall lediglich unwesentlich. Kurzum. Gut gemeint war’s wohl. Vom Rüpli. Doch böse hat’s geendet. Denn nicht nur, dass auf Tines Stirn jetzt auch eine ziemliche Beule prangt, das ist ihr für Partnerlook eindeutig zu wenig. Das ist bloß beider Pflaster Anfang. In ihrer Benommenheit sagt die Tine dann auch noch Ja, wie der Rupert sie, durch Mutter Gutlinde bestärkt, anträglich bekniet. Weiß der Eichelhäher, was die Tine in dem Moment ihrer Weggetretenheit geritten hat, doch ihr Tête-à-Tête mit der Teakholzplatte zeigt offenbar längerfristige Nachwirkungen. Als Spätfolge wiederholt Tine ihren freien Willen nur zwei Wochen später rechtsgültig am Standesamt. Auf ihrer inzwischen wieder heilen Stirn ist selbst für Blinde „Ich heirate ein Landgut“ zu lesen.
Aber nicht jeder Gutsmensch ist ein Gutmensch. Ihre Beziehung. Die stand von Beginn an auf der Kippe. Und geraucht hat er auch. Der Rupert. Noch dazu ist der Rüpli nach einer kurzen Verliebtheitsphase immer wieder handgreiflich geworden. Einerseits der Tine gegenüber. Andererseits auf die Ärsche anderer Frauen. Dieser Arsch. Anfangs hat Tine die Übergriffe noch verleugnet, doch wie sie dann gar nicht mehr so oft hat stolpern können, wie sie mit einem blauen Auge herumgelaufen ist, da ist es ihr doch zu bunt geworden. Da hat sie angefangen, nach ihrem Gutdünken zurückzuschlagen. Mit den Waffen der betrogenen Ehefrau. Ihre Hinterlist ist immer mehr zum Vorschein gekommen. Berechnend war die Tine sowieso schon immer. Und ohne viel Tamtam um grundlegende Mengenlehre war auf den ersten Blick klar, dass sich im Landgut mehr als vier Kinderzimmer locker unterbringen ließen. Alles pures Kalkül. Noch dazu das riesige Grundstück, das reinste Paradies auf Erden für die kleinen Engel. Und ganz nebenbei das Mercedes-Cabrio für die Tine. Dass es auf dem Landgut von Haus aus nicht an Luxus mangelt, das war für Tine kein Geheimnis. Dekadenz schlägt Intelligenz. Zumindest im Fall vom Bösendorfer. Der war bloß Trottel zum Zweck für Tine. Vermöglich nimmt frau so manch optischen und geistigen Makel des angetrauten Lebensabschnittspartners durchaus in Kauf.

Da zahlt sich gute Miene zum bösen Spiel schon mal aus. Und im Geheimen heckt man im Garten nicht bloß Thujen. Ihr heimtückischer Plan sollte jedenfalls aufgehen. Da konnte man bei der Tine so gut wie Gift drauf nehmen.
Heute Vormittag, wie der Bösendorfer noch seinen Rausch vom gestrigen LHJ-Stammtisch ausgeschlafen hat, da haben die vier Kinder das Kornblumenfeld zertrampelt. Das schöne. Direkt hinterm Landgut. Reinstes Saatgut. Gerader Wuchs. Blauer als blau. Keine Unachtsamkeit. Sondern wegen ihrer Hüpfburg. Weil bei der die Luft draußen war. Und das nicht erst seit gestern. Der Rupert hatte ihnen seit Wochen versprochen, sie zu reparieren und neu zu belüften. Kein Wahlversprechen. Trotzdem mehrfach gebrochen. Dabei hätte der Rupert einen sicheren Kornblumengroßlieferauftrag in der Tasche gehabt. Den hat ihm ein Kumpel aus der Landesparteizentrale der Freiheitsliebenden zugeschanzt und auf Revers unterschrieben. Kornblumen für den Akademikerball. Jede Menge. Für die Kornblumenkränze der jungen Tänzerinnen. Doch jetzt sind sie platt. Die Blümchen. Und der Bösendorfer. Der ist tot. Angehimmelt hat sie ihn ja nie. Die Tine. Und die Leibspeise von ihrem Rupsi. Das war Tante Dolfis Schmorbraten. Den hat es vor der Paradiescreme gegeben. Nur für den Rupsi. Die Tine isst kein Fleisch. Und für die Kinder. Viel zu viel Rotwein in der Soße. 
Herzstillstand. So steht es im Totenschein. Und am Grab vom Bösendorfer. Da wachsen sie. Die Chrysanthemen. Das will die Tine so. Die ist inzwischen übrigens bereits im dritten Monat. Passivraucherentwöhnung. Und das Landgut. Das hat sie unlängst ausräuchern lassen. 

Gerhard Benigni 
Geb.1973 in Villach. Dort lebt, arbeitet und schreibt er auch. Viele seiner wortverspielten Kurzgeschichten und Essays wurden bereits in namhaften Literaturzeitschriften (u. a. DUM, &Radieschen, etcetera, Die Novelle, Landstrich, Podium, Haller) und Anthologien veröffentlicht und bei Wettbewerben prämiert. 2018 hat er die Leondinger Literaturakademie erfolgreich absolviert und als Finalist an der Nacht der schlechten Texte teilgenommen. 
Seine erste Kurzgeschichtensammlung „Fertigteilparkettboden. Im Niedrigenergiereihenhaus.” ist 2015 erschienen, sein zweiter Prosaband „Der Usambaraveilchenstreichler auf dem Weg zum Südpol”2016, Essayistisches unter dem Titel „i” 2017 und sein viertes Buch „Der Zeitgeist ist eine Flasche” 2018.