82 / Zwischenzeit / Prosa / Louise Gold: Abheben

Obwohl er nicht lächelte, sah er glücklich aus.
Die Hände vor dem Bauch gefaltet, blickte er in eine imaginäre Ferne und wirkte dabei wie ein Mann, dem aufregende Dinge bevorstanden. Ich hatte den Fenstersitz neben ihm gebucht.
Als ich meine Tasche in das Gepäckfach über seinem Kopf hievte, nickten wir uns zu und murmelten Begrüßungsworte. Sofort stand er auf, um mir behilflich zu sein. Sein grauer Flanellanzug war knitterfrei und maßgeschneidert. Er hatte ein hageres, attraktives Gesicht und roch nach einem rauchigen Rasierwasser. Innerlich atmete ich auf, dass ich in den nächsten zwölf Stunden diesen angenehmen Duft in der Nase haben würde, und nicht, wie auf dem Hinflug, den Dunst von Knoblauch und Restalkohol meines übergewichtigen Nebenmannes.
Ich war geschäftlich in Los Angeles gewesen. Mein Agent hatte mir einen amerikanischen Verlag vermittelt, mit dem ich die Veröffentlichung meines Romans besprechen wollte. Das Treffen war angenehm verlaufen. Allerdings plagte mich der Einwand des Verlegers bezüglich des Schlusses in meinem Buch. Er wollte, dass ich ihn umschrieb.
„Niemand interessiert sich für Happy Ends“, sagte er. „Wenn Sie es auf diese Art zum Abschluss bringen, hakt der Leser die Sache ab und nimmt überhaupt nichts mit.“
In Gedanken drehte ich das Ende hin und her und musste zugeben, dass er recht hatte. Etwas stimmte nicht daran, war unausgegoren. Ich nahm mir vor, während des Fluges darüber nachzudenken und hoffte, eine befriedigende Lösung zu finden. Der Pilot kündigteden Start an und wünschte den Passagieren einen angenehmen Flug. Mein Nachbar nickte mir wohlwollend zu.
„Sie sind Deutsche?“
Er wollte reden. In Gedanken sah ich den Plan, mich in meine Story zu vertiefen, schon dahin fahren.
„Bingham“, er hielt mir seine trockene Hand entgegen. „Sie sind aus Los Angeles?“, fragte ich.
„Nicht mehr, aber ja“. Er wollte, dass ich nachfragte, und das tat ich.
„Hab` die Zelte abgebrochen. Nach neunzehn Jahren“, sagte er feierlich und ergänzte: „Ein befreiendes Gefühl.“ Er hatte schöne Zähne. Ich bezweifelte, dass sie echt waren. Bei Amerikanern wusste man das nie so genau. „Ein großer Schritt, oder?“. „Ich bin froh“, nickte er. „Was machen Sie beruflich?“.
„Filmgeschäft“, er öffnete den oberen Knopf seines Hemdes, „Serien.“
Die Triebwerke wurden angeworfen. Die linke Tragfläche der Maschine befand sich direkt neben meinem Fenster. Der Pilot fuhr testweise die Bremsklappen hoch. Wir rollten aus der Parkposition und schnallten die Gurte fest, während der Flugbegleiter durch die Reihen ging und mit einem klickenden Gerät Passagiere zählte.
„Ich ging nach LA, um Ausstatter beim Film zu werden. Es klappte. Ich wurde Ausstatter beim Film. Sonderbar, wenn die Träume der Jugend sich erfüllen. Vor allem, wenn sie sich nach Jahren als frustrierende Plackerei herausstellen.“
Die Maschine raste, hob ab und wie jedes Mal in diesem Moment hatte ich ein mulmiges Gefühl. Ich hasste es. Manchmal, wenn ich glücklich war, liebte ich es. Dieses Abheben. Es hatte etwas Endgültiges.
„Ich liebe das. Dieses Abheben“, sagte er und blickte versonnen in die Wolkendecke. „Es ist so lustvoll.“
Konnte er Gedanken lesen?
„Frustrierend, weil“, nahm er den alten Faden wieder auf, „Na, weil man sich ändert und der Traum von einem bestimmten Leben nie das Leben an sich ist, so wie man es sich vorgestellt hat.“
„Es kommt immer anders, als man denkt.“  Meine Platitüde verebbte.
„Ich wurde zum Handlanger der Showrunner, die vor allem Wert auf ihre Story legten. Es wurde gespart. An Props, Kostümen, den Sets, alles sah billig aus. Die Geschichten entbehrten jeglicher Tiefe, weil die Mittel knapp waren und Augenmerk auf schnelle Ergebnisse gelegt wurde. Ich hatte den Kahn voll. Dann geschah etwas. Eine Tür wurde aufgestoßen und ich ging hindurch.“
Ich begann, mich für ihn zu interessieren. Witterte Stoff. Schriftsteller sind schreckliche Menschen. Früher oder später liefern sie ihr Gegenüber immer einer Geschichte aus.
„Um für eine Serie zu recherchieren, die im Mecklenburg der vierziger Jahre spielen sollte, ging ich nach Deutschland.“ Er schneuzte sich und steckte das Papiertaschentuch lose in seine Jackentasche.
„Bei meiner Recherche begegnete ich einer Frau, die einen historischen Hof in der Nähe von Neustrelitz bewohnte, den sie für die Dreharbeiten zur Verfügung stellte. Sie brauchte Geld.“
In geradem Flug glitten wir durch den Sonnenuntergang. Warme Strahlen wanderten über sein Gesicht und schickten helle Lichtpunkte in seine Augen.
„Sie zeigte mir den Hof. Das Haupthaus hatte kein warmes Wasser, man musste es mit einem Holzofen beheizen. Die Nebengelasse waren heruntergekommen. Eine braune Katze pirschte durch die ungemähten Wiesen um das freistehende Gut“, er drückte meinen Arm, „Es war wildromantisch.“
Das Abendessen wurde serviert und wir klappten unsere Tische an den Vordersitzen aus. Irgendetwas mit Reis und Sahnespinat, das man wahlweise mit oder ohne Fleisch bestellen konnte. Still assen wir unsere mäßigen Mahlzeiten und tranken Mineralwasser aus Plastikbechern.
„Ich verliebte mich in sie“, fuhr er kauend fort, „und verlängerte meinen Aufenthalt um eine Woche, unter dem Vorwand, dass ich mehr Zeit für die Recherche brauchte. Wir fuhren mit Rädern zu einem nahe gelegenen See, um dort nackt zu baden. Kein Mensch weit und breit. Wir kraulten bis zur Mitte des Sees und stellten uns vor, wie riesige Hechte nach unseren Füßen schnappten. Kreischend schwammen wir ans Ufer und liebten uns im Gras. Ich hatte die Kamera dabei, denn ich wollte den Ort für die Recherche dokumentieren. Stattdessen machte ich Fotos von ihr, am See, während sie Wasserproben entnahm. Sie ist Biologin und arbeitet an der Erforschung einer gefährdeten Algenart. Ich machte Fotos von ihr in der Küche, wenn sie den Kopf drehte und ans Telefon ging oder nach der Zisterne sah, ob genug Wasser darin war oder wenn sie aufstand, um das Futter der Katze aufzufüllen oder nach den Schreiadlern im Wald zu sehen, die Junge bekamen. Ihre Schönheit war die Antwort auf meine Frage, ob hinter all der Effizienz meines eingetakteten Lebens noch etwas anderes war. Der Hof sollte eine Filmkulisse sein. Er wurde zu dem potentiellen Leben, das noch vor mir lag.“
Ich versuchte, mir die Frau vorzustellen, die ihn so maßgeblich verändert hatte. Ihr Leben schien eine Klarheit zu verkörpern, in der sich dennoch all die Komplexität und Vielfalt seines liebenden Blickes widerspiegelte.
„Ihre Stimme“, begann er, und rutschte dabei unruhig auf seinem Sitz herum, „ist tief und satt. Sie erzeugt ein so stechendes Gefühl der Sehnsucht in mir, dass ich vor Glück zerspringen könnte.“
Normalerweise nervt es mich, wenn Verliebte über ihr Objekt der Begierde sprechen. Mr Binghams Liebe war ansteckend und sie erfüllte mich mit einem leisen Glücksgefühl.
„Wenn sie geht, bewegen sich ihre Hüften in einem gleichmäßig schwingenden Rhythmus, dessen Eindruck ich, seitdem ich sie kenne, in einem Foto festhalten will. Es ist mir noch nicht gelungen. Aber ich werde es schaffen.“
Die Flugbegleiterin räumte unsere Tische ab und fragte nach weiteren Getränken. Wir bestellten Johnny Walker und prosteten uns verschworen zu. Vor einem Monat hatte er seinen Job gekündigt und würde nun, mit wenig Gepäck, in das Mecklenburger Dorf ziehen. Als das Bordlicht gedimmt wurde, verschwand er auf die Toilette und ich kehrte in Gedanken zu meiner Romanfigur zurück. Warum sollte ein Happy End minderwertig sein, wenn es so berauschend sein konnte? Die Euphorie meines Reisegenossen ließ mich den Schluss neu überdenken. Der Agent hatte unrecht. Es musste eben nur gut erzählt sein.
Ich dämmerte ein, für Minuten, oder eine halbe Stunde, bis mich eine Hand sanft an der Schulter berührte. Die anderen Passagiere schliefen oder sahen sich Filme auf ihren Bildschirmen an. Irgendwo wimmerte ein Kind und verstummte. Die Flugbegleiterin beugte den Kopf und flüsterte mir ins Ohr.
„Würden sie mir in den hinteren Bereich folgen? Es betrifft ihren Reisebegleiter.“
Der Traum, aus dem ich erwachte, war interessant und ich war ihr ein wenig böse, denn ich wollte die Stimmung noch weiter auskosten. Dann fiel mir der glückliche Amerikaner ein. Er war Teil meines Traums. Dass es ein Problem mit ihm gab, schien mir abwegig.  „Mr Bingham?“, fragte ich.
Sie nickte knapp. Benommen folgte ich ihr durch den Gang, dessen Notlichter am Boden den Weg wiesen. Im neonbeleuchteten Raum vor der Toilette, wo sich die Sitze für die Flugbegleiter befanden, machte sie halt und schob mich hinunter zu den Toiletten. „Sind Sie eine Angehörige von Mr. Bingham?“
„Ich habe ihn hier im Flugzeug kennengelernt. Wieso? “Sie zögerte. „Hat er sich schlecht benommen?“
„Das nicht… “Sie drückte die Klinke der Toilettentür herunter, ohne sie zu öffnen. „Was ist los?“
„Er ist gestorben.“ Ich lachte kurz auf. Als ich sah, dass sie nicht mitlachte, verstummte ich.
„Das kann nicht sein“, brüsk legte ich meine Hand auf ihre und drückte die Tür auf. Da sass Mr Bingham, voll bekleidet, in seinem makellosen Anzug, auf dem geschlossenen Toilettendeckel. Seine Beine waren gespreizt. Der zurückgeworfene Kopf war gegen die Wand gelehnt, die Augen offen zur Decke gerichtet. Sein Gesicht war von fast überirdischer Schönheit, als hätte er im letzten Moment seines Lebens das Glück gesehen. Doch mitten im Geschehen hatte es eine Vollbremsung gemacht und Mr Bingham das Schnippchen seines Lebens geschlagen. Er wirkte wie zum Abheben bereit, doch sein Körper war zurückgeblieben, eine erstarrte Hülle, auf der tiefe Glückseligkeit ihren Stempel hinterlassen hatte. Schweigend versiegelte sie die Tür mit einem Vierkant und schob mich die Treppe hoch, wo der Flugbegleiter mit einer Passagierin diskutierte, die dringend aufs Klo wollte.
Der restliche Flug erschien mir endlos.
Sieben Stunden, in denen ich über Mr. Bingham und seine Frau, die am Gate des Flughafens auf ihn warten würde, nachdachte. Auf dem Platz neben mir lag sein Handy. Sein benutztes Papiertaschentuch rollte kurz vor der Landung vom Sitz. Es war unbemerkt aus seiner Jackentasche gefallen, als er zur Toilette gegangen war. Ich hob es auf und steckte es in meine Tasche. Die Flugbegleiterin sammelte leere Plastikbecher ein, nahm Mr. Binghams Telefon an sich und warf mir dabei einen ernsten Blick zu.
Voller Wut dachte ich an meinen Verleger. Happy Ends waren also banal?
Mir fiel ein, dass Mr. Bingham ein Bild von seiner Frau machen wollte, einen Schnappschuss der Bewegung ihrer Hüften, die ihn so bezaubert hatten.
Was mir in Erinnerung blieb, war der Schnappschuss seines frei nach oben gerichteten Blickes.
Als würde diesem Mann etwas unsagbar Schönes bevorstehen.

 

Louise Gold
Geb. 1974 in Potsdam, studierte Film- und Theaterwissenschaften. Als Musikerin wurde sie mit den Projekten Recorder und Louise Gold & the Quarz Orchestra bekannt, bevor sie 2015 ihr Soloalbum „Terra Caprice“ veröffentlichte. Sie tourte mehrere Jahre mit ihren Bands durch Europa und die USA. Mit ihrer Kurzgeschichte „Die Malaria von Pi“ gewann sie 2019 den Schreibwettbewerb „Text des Monats“ im Literaturhaus Zürich, veröffentlicht 2020 in einer Anthologie. Sie lebt in Berlin und Mecklenburg-Vorpommern und arbeitet derzeit an ihrem ersten Roman.