86 / Umweg / Prosa / Bettina Wiesendanger: Die zweite Haut

Wir leben in unserer zweiten Haut, weil wir die erste nicht mehr zu Markte tragen. Müssen. Können. Unser Leben im kontinuierlichen Überfluss besteht aus der fortwährenden Suche nach Umwegen. Das Ziel: Der nächste Umweg. Um in der zweiten Haut zu bleiben. Der Umweg ist uns eine zweite Haut.
Todesstrafe: Wenn ich hier bei uns in Europa jemanden direkt danach frage, dann produziere ich etwas. Ich produziere eine Wahl, dass man sie eigentlich wieder einführen könnte. Das will ich auf keinen Fall. Ich erachte es aber auch nicht als selbstverständlich, dass es sie hier, bei uns, in aller Geborgenheit, ein für alle Mal nicht mehr geben könnte. Alles kann sich schnell ändern. Wenn man das einberechnen will, in die Lebensgestaltung, dann muss man darüber sprechen. Auf Umwegen: Würden Sie zwecks Ferien in einen Staat reisen, in dem es die Todesstrafe gibt? Zum Beispiel in den Iran? Oder nach Texas? Oder China? Ägypten?
Flüchtlinge: Sie tragen ihre Haut zu Markte. Wahllos. Von unserer Seite her gibt es Deals, Arrangements. Ein österreichischer Soziologe und Migrationsforscher trägt auf diesem Gebiet selber seine Haut zu Markte. Er hat eine als Staatenlose geborene Mutter. Er reist umher, spricht Bosnisch und lebt sieben Jahre in Istanbul. Er denkt zugunsten einer menschlichen Umsetzung von Grenzregimes und Asylverfahren nach, für jede einzelne Person, die flüchtet. Gemäss Flüchtlingskonvention von 1951. Er preist das Resultat seiner Gedanken zur Umsetzung an. Im grossen, europäischen Stil. Anderweitig menschenrechtlich Organisierte machen ihm Vorwürfe: Schmutziger Handel mit einem türkischen Gewalthaber. Der Vorwurf verwundert ihn. Und das verwundert mich, dass ihn das verwundert. Die ganzen Deals sind Umwege zur Menschlichkeit. Umwege auf dem Weg zu mehr Menschlichkeit stören. Solche Umwege muss man erklären, permanent, die sind nicht einsichtig, man will doch gleich Resultate sehen und nicht von einem Gewalthaber abhängig sein. Umwege erklären. Umwege kommunizieren. Umwege rechtfertigen. Umwege deklarieren. Umwege zertifizieren. Umwege erleiden. Das Erklären von Umwegen scheint er als Umweg zu empfinden: Das ist sein Problem, sonst wäre er nicht verwundert über die Vorwürfe.
Religion: Haben Sie in Ihrem Leben einmal einen religiösen Arbeitgeber gehabt? Eine Kirche, zum Beispiel? Wahrscheinlich eher nicht, denn dressierte Religionen mit staatlich anerkannten Lohnausweisen werden kleiner und haben immer weniger Angestellte. Sichtbar ist das bei der Post. „Wer ist Ihr Arbeitgeber“, fragt mich die füllige, mütterliche Beamtin mit enger Lurexhose und Starkbüstenhalter. „Die evangelisch-reformierte Landeskirche“, sage ich. „Ah, ja“. Eine kleine Befremdung ihrerseits. Ein Tag später trifft per Post die Bedingung ein für meine Kreditkarteneröffnung: Ein Rückantwortcouvert zum Versand meines aktuellen Lohnausweises. Der direkte Weg zur Kreditkarte ist mir gnadenlos verstellt. Vielleicht wegen dem Lohnbezug von einer Kirche. Demokratie: Das Volk mächtig repräsentieren und in seinem Namen verhandeln als Frau ist schwierig. Wo verhandelt wird, da gibt es reguläre und informelle Treffen, offizielle und inoffizielle Verhandlungen, deklarierte Zusammenkünfte und Hinterzimmertreffen, Wege und Umwege. Wo sind die delegierten Frauen dabei? Wo die offiziellen Zusammenkünfte stattfinden, da sind die Frauen dabei. Wo ausgehandelt wird, diskutiert, gefeilscht wird, wo die Grenzen des Verhandelbaren ausgelotet werden, da sind die Frauen nicht dabei. „Wir treffen keine wichtige Entscheidung“, wird dann von den Männern gesagt. „Wenn wir eine Entscheidung treffen, dann seid Ihr dabei“, wird dann von den Männern gesagt, „dann bist du dabei“, wird dann gesagt. Der Verhandlungstisch wird da bereits geschlossen sein. Die offiziell Beauftragte wird noch den Arm in die (Zug-)Luft halten und sich überstimmen lassen können. Die Positionen, die die Frau dann bezieht, sind bereits exotisch und werden ganz adäquat ein wenig bemitleidet, von den Männern. Es weht ein rauer Wind, was objektiv für gut befunden wird. „Wir wollen uns nicht schonen“, sagt die Frau. „Wir wollen auf keinen Fall emotional werden“, sagt der Mann. Als emotional gilt nicht das laute Poltern, sondern die rationale Darstellung weicher Faktoren. Eine erfolgreiche Verhandlung hätte anders ausgesehen, denn der Umweg über das Inoffizielle war entscheidend. Aussen vor.
Das geht dann doch alles unter die Haut, manchmal bis unter die erste.

Bettina Wiesendanger
Geb.1967 Kantonsschullehrerin und Pfarrerin, lic. theol. Diverse Kolumnen im Stadtanzeiger Winterthur. „Dementieren“, in: Texte des Monats 2020, Klima- und andere Katastrophen, Literaturhaus Zürich, 2021.