86 / Umweg / Prosa / Gabriele Müller: Heimweg

Sie ging mit dem Besuch vom Gartentor zu ihrem Haus. „Den führe ich an der Nase herum“, dachte sie. Alleine nahm sie meist den gewundenen Pfad. Der führte bei den Tannen, am Teich und am Weidezaun vorbei und war dreimal so lang. Der Weg des Geistes ist der Umweg, heißt es. Ihr Kopf war klar, nur ihr Gedächtnis war etwas schwach.
Der Besuch ließ sich nicht so leicht täuschen. Heimlich fuhr er mit dem Zeigefinger den oberen Rand des Fernsehgeräts ab und sah sich im Wohnzimmer um.
„Penibel“, dachte er. „Ordentlich aufgeräumt. Das Chaos findet in der Birne statt.“ Er breitete ungefragt Papiere auf dem Esstisch aus und klappte den Laptop auf. Mit dem Handy stellte er eine Verbindung her und fand schließlich das passende Formular in der internen Datenbank.
„87, alleinstehend, Pflegestufe 3,“ las er. „Einweisung in ein Heim wird dringend angeraten.“
Sie tischte Kaffee und Kuchen auf, der Amtsarzt hakte die Fragen der Reihe nach ab.
„Zwei Kinder“, tippte er ein, „eines in Australien, eines in Wien. Floridsdorf.“
„Geschwister?“, fragte er. Sie zögerte.
„Nein“, sagte sie. „Die braucht kein Mensch.“ Dass der Bruder nebenan wohnte, im Elternhaus hinter dem Zaun, wusste sie, und der Arzt wusste es auch aus dem Computer. Er sagte nichts, weil das Vertrauen wichtiger ist als die Wahrheit. Besonders in der Gerontologie.
Der Grund des Streites fiel ihr nicht ein. Es musste damals gewesen sein, als die Berliner Mauer fiel. Bald danach hatten Ostdeutsche als Touristen die Kleinstadt besucht. Die war durch einen Fluss zweigeteilt. Der Bruder kaufte in der westlichen Hälfte ein, sie hielt sich nur im Osten auf. So begegneten sie einander nie.
„Wie kommen sie denn zu Fuß in die Stadt?“, fragte der Arzt.
„Geradeaus hinunter, wie sonst?“, sagte sie.
„Mit dem Heim ist abzuwarten“, gab er im Feld „Kommentare“ ein. „Örtlich und zeitlich ausreichend orientiert.“
Auf sich aufpassen solle sie, sagte er auf dem Weg hinaus.
Auf keine Leiter steigen, das Schwere der Hilfsschwester überlassen. Die käme ohnehin einmal am Tag.
„Ich denke mir meinen Teil“, sagte sie, ganz den Mund halten konnte sie nicht.
„Wie?“, fragte er.
„Auf Wiedersehen“, sagte sie.
Weiterhin ging sie täglich in die Stadt um die Zeitung, manchmal um Brot oder Milch. Einmal die Woche machte die Hilfsschwester den Einkauf für sie. Ungern, denn auch der direkte Weg von der Straße zum Haus war recht lang.
An einem Tag im Herbst, sie ging auf die 90 zu, kaufte sie Obst und Kuchen ein.
„Haben wir Geburtstag?“, fragte der Verkäufer im Supermarkt.
„Nein“, sagte sie. „Wir nicht.“
Sie griff nach der Börse, doch die war in der Tasche, oben im Haus, den Einkauf nahm sie im Plastiksack mit. Am Weidezauntor machte sie Halt, es war nicht versperrt. Die Kühe trabten zu ihr, der frechsten gab sie einen Klaps auf den Steiß. Auch die Tür vom Elternhaus war offen, sie ging in die Küche, machte Kaffee und schnitt den Kuchen auf.
„Die Uhr ist neu“, dachte sie. „Wo die Eltern sind?“. Dann wartete sie wie so oft.
Es dunkelte, als der Bruder nach Hause kam.
Er sagte nichts, setzte sich zu ihr an den Tisch und schenkte sich Kaffee ein.
Die neue Uhr machte einen neuen Lärm. Lange schauten sie einander an.
„Alt bist worden“, sagte er dann.
„Du auch“, sagte sie. „Über Nacht.“

Gabriele Müller
Aufgewachsen in Wien und Grafenwörth, lebt in Krems. Reisen und Arbeiten in Lateinamerika, Übersetzer- und Dolmetscherin. Korrespondentin deutschsprachiger Medien in Zentralamerika bis 1993. Studium an der Europäischen Journalismus Akademie in Krems. Arbeitsaufenthalt in Zimbabwe, Äthiopien und Algerien.