86 / Umweg / Prosa / Gudrun Breyer: Der Wegweiser

Seit die Ever Given quer gelegen ist, ist es wieder da: das Foto des Wegweisers. 1985 hatte ich es auf meinen Kühlschrank geklebt und seither zog es mit mir mit. In jeder Wohnung, immer wenn ein Kühlschrank sein Leben aushauchte, musste ich mich erklären.

Die Ever Given lief am 23. März 2021 im Suezkanal auf Grund. Mit etwa 18.000 Standardcontainern und einer Fracht im Wert von 3,5 Milliarden Dollar. Auch Schafe waren darunter.

Ich weiß nicht, wie viele Schafe in einen Container passen, wer sie geordert hat und zu welchem Zweck. Der Wegweiser, von dem ich eigentlich erzählen möchte, stand am Rand einer Schafweide.

Ich warte noch immer auf meine Kopfhörer. Das Elektronikgeschäft im Zentrum der Stadt hätte sie sicher gehabt, aber dort hinzufahren, war mir zu mühsam. Ich wollte sie einfacher haben, mit einem Klick. Die Post würde rasch das Gewünschte bringen. So war es zumindest, bevor Quarantänen und Virusausbrüche ganze Häfen und Fabriken lahmlegten. Immer öfter heißt es: Derzeit nicht lieferbar.

Der Wegweiser stand etwa dreihundert Meter vor der Ortschaft, in der wir Urlaub machten, und war uns beim Kommen nicht aufgefallen.
„Unmöglich“, sagte Paul.
„Lass es uns ausprobieren“, sagte ich.
Jeden Morgen starteten wir vom Wegweiser in eine andere Richtung los.

Als die Ever Given endlich fahrtauglich war, hatten sich auf beiden Seiten des Kanals 370 Schiffe angestaut. Lange stritt man über die Höhe des Schadensausfalls. Ob die Schafe noch lebten, als die Ever Given nach Monaten ihren Zielhafen erreichte, wurde nicht berichtet.

Der Wegweiser stand auf einer Kreuzung. Zwei Straßen liefen dort zusammen und gabelten sich weiter auf. Wir begingen alle. Es war uns nicht wichtig, wohin sie gingen. Erst am letzten Abend fragten wir uns, wie wir am besten wieder wegkämen.

Der Ruf nach der Nord-Ost-Passage wird lauter. Branson fliegt ins All, Bezos will die Schwerindustrie eben dorthin auslagern. Ein Mehr an Frachtern in der Arktis scheint salonfähig. Den Eisbären ist ohnehin nicht mehr zu helfen.

Die Lieferung meiner Kopfhörer verzögert sich. Sie wird im Lauf des nächsten Monats zugestellt. Vielleicht war sie auf der Ever Given, gemeinsam mit den Schafen. Ich habe morgen meine Videokonferenz. Dass ich nichts zu sagen habe, wird nicht auffallen.

Wir standen lange mit dem Auto vor dem Wegweiser. Paul hatte einen Termin und wollte rasch heim.
„Eigentlich ist es doch egal“, sagte ich.
Paul schwieg.

Über fünftausend Kilometer Wegersparnis pro Frachter und Route. Das wären fünfhundert Mal von mir daheim zum Elektronikgeschäft und retour. Würde ich täglich (außer Sonntag) hinfahren, würde ich in 21 Monaten 540 Kopfhörer erwerben. Ich müsste in Folge meinen Kleiderschrank ausräumen, um Platz zu schaffen, und kündigen, um ausreichend Zeit zum Ausmustern zu haben, und weil ich – bis auf Pyjama und Jogginganzug - kein Gewand mehr hätte, um vor die Türe zu gehen.

Das Besondere an dem Wegweiser war, dass er stand, wo er stand. Wo ich herkomme, werden solche Wegweiser nicht aufgestellt. Ihr Fehlen ist Information genug.

Frachter fahren bereits jetzt über den Nordpol. Ein Ausbau ist geplant, sobald die Arktis komplett eisfrei ist. Mit dem eingesparten Geld - kürzere Strecke, weniger Kraftstoffverbrauch - könnten weitere Container angeschafft werden. Die 700 Millionen, die in Verwendung sind, reichen schon lange nicht mehr aus.

Auf dem Foto - das ist, was ich eigentlich sagen wollte - ist ein Schaf zu sehen. Er sieht recht wissend in die Kamera, obwohl es die Aufschrift unmöglich lesen kann: Toutes directions.

Gudrun Breyer
Geb. 1975, lebt in St. Pölten und arbeitet als Erwachsenenbildnerin in einer Kompetenzanerkennungsstelle in Wien. Schreibpädagogin. Etliche Lesungen und Veröffentlichungen. Beiträge in Anthologien.