86 / Umweg / Prosa / Karin Leroch: Fünf Leben

Wolken, vom Wind zerrissen, schieben sich über die Sonne, abwechselnd wird es schattendunkel, dann strahlend hell.
Sie spürt, wie er neben ihr hergeht, obwohl sie nicht hinsieht. Ihr Haar flattert immer wieder über ihren Augen. Er möchte von früher sprechen: „Deine Eltern haben nie
von der Party in ihrer Wohnung erfahren?“
„Nein, ich habe danach alle Spuren beseitigt“, antwortet
sie.
Er stößt die Luft durch die Nase, was einem Lachen gleichkommt.
Sie fährt fort: „Wie du hereingeplatzt bist: ‚Ist hier die Party?‘ und ich dachte: Das ist der Drehbuchautor? Der hat ja graues Haar!“ Sie grinst.
„Dabei war ich erst Anfang dreißig!” Er blickt sie von der Seite an.
„Bilde dir nicht zu viel drauf ein,“ Sie ist bereits in das Gespräch hineingefallen, ohne es zu wollen, „dass ich dich wiedersehen wollte!“
„Hast du das Drehbuch jemals fertig geschrieben?“
„Nein, es war nur ein Trick, dir näher zu kommen.”
Er entfernt sich kaum merklich um eine Schrittlänge: „Du warst mir zu unstet, erst ja, dann nein.”
Sie redet unbeirrt weiter: „Ich war Lolita, aber du warst mir ein zu unsicherer Humbert. Irgendwie habe ich mehr Bestimmtheit erwartet. Aber du warst der erste Mensch, der mich kapiert hat.“
„Unsere ersten Bergtouren!“
„Du hast mich geschliffen wie ein Drillsergeant!“ sie denkt an Knochenmüdigkeit und Blasen in engen Schuhen.
Eine Zeitlang schweigen sie, wandern nebeneinander über die Heide, das Gras bleibt von ihren Schuhen zerdrückt zurück, bis es sich wieder aufrichtet.
Er nimmt den Faden wieder auf: „Nachdem du aus England zurück warst, wieso hast du dann mit einem anderen etwas angefangen?“
„Mir war nicht bewusst, dass du auf mich wartest.“
„Ich habe dir doch Briefe geschrieben!“
„Schon. Aber.“
Er nickt: „Das war das Ende unseres ersten Lebens. Ich habe das eine Jahr Abstand gebraucht.“
Sie ignoriert seine ernste Miene: „Ich war es, die dich wieder angerufen hat. Hast du nur wegen meines Minirocks wieder angebissen?“ Sie sieht ihn provozierend von der Seite an.
Er lacht ein bisschen. „Die Zeit danach war unsere schönste. Die Urlaube in den Bergen.“
„Unser zweites Leben“, antwortet sie.
Was er als nächstes sagt, überrascht sie: „Ich habe dich nicht gut behandelt.“
„Wieso?“
„Ich wollte dich für mich behalten, in einem Alter, in dem du vielleicht Kinder hättest haben wollen.”
Sie schüttelt entschlossen den Kopf: „Ich wollte nie Kinder.”„Ich habe ein schlechtes Gewissen“, beharrt er.
Sie sieht ihn an und will, dass er sie hört: „Du hast mich nie richtig an dich herangelassen. Weil du zu lange mit deiner Mutter zusammengelebt hast, das hat dich eigenartig gemacht!“
Er schlägt zurück: „Und du? Wieso warst du so eifersüchtig?”
„Eben, weil du mich nicht rangelassen hast!“ Sie wird lauter.
„Wir sind immer separat geblieben, jeder in seinem Leben!“
„Im ersten Leben hast du ‚Mühle auf - Mühle zu‘ gespielt!“, kontert er.
„Ich war achtzehn!“
Ihre Schritte fallen in denselben Rhythmus.
„Und dann“, sagt er, „hast du dich wieder in einen anderen verliebt. Mir hat es leidgetan, aber ich war ein guter Soldat. Ich hab’s akzeptiert.“
„Was uns nicht gehindert hat, weiterhin auf Bergtouren zu gehen!“ Ihr Gesicht strahlt in der Erinnerung. „In unserem dritten Leben!“
Er will es aussprechen: „Du weißt doch, wir sind Dualseelen, die einander nie verlieren.“
„Blödsinn! Es gibt keine Dualseelen.”
Jetzt schickt er einen Seitenblick: „Hast du bei ihm gefunden, was du suchst?“
„Keine Ahnung.” Sie klingt nachdenklich. „Er ist auch so einer. Bleibt in seinem eigenen Leben. Und ich in meinem. Ich bin wohl selbst ein Eigenmensch, nicht geeignet fürs Zusammenleben. Oder bin ich so geworden?“
„Unser drittes Leben war fast noch intensiver“, bemerkt er.
Wieder Stille, bis auf den Wind, der über Büsche und Bäume streift.
Ihr Gesicht ist dunkel vom Schatten einer Wolke, als sie sagt: „Und unser viertes Leben begann mit deiner Diagnose.“
„Aber wir sind immer noch in die Berge gefahren!“
„Kleine Touren.“ Ihre Stimme klagt an: „Ich konnte mich nicht daran gewöhnen, dass du langsamer wurdest und ständig ausruhen musstest.“
Er gesteht: „Es tut mir leid. Du warst mein Rettungsseil, in dieser Zeit.“
Ihr Gesicht ist offen und schutzlos: „Ich konnte nicht akzeptieren, dass du nicht mehr derselbe warst wie vorher! Du warst immer da. Nur ein paar Kilometer entfernt, immer bereit loszufahren, irgendwo raus. Oder schnell mal ins Kino. Meine Finger haben deine Nummer getippt, ohne aufs Telefon zu schauen. Ich kann es immer noch, schau!“
„Es tut mir leid.“
Ihr Hals fühlt sich eng an. „Und wozu diese vielen Leben? All diese Jahre?” Die Wolken ziehen in Fetzen über sie hinweg. Sie bleibt stehen. „Hätte ich dich nie getroffen, würde ich dich nicht vermissen! ”
Eine Erinnerung taucht in ihr auf: „Ich hab‘ mich noch einmal zu dir gelegt und dich gehalten.“
Keine Antwort. Sie ist allein.
„Ist das jetzt unser fünftes Leben?”, fragt sie in den Wind.
Ihre Augen tränen von der Kälte. „Wie ist es dort, wo du bist?“
Sie blinzelt ein wenig. „Siehst du mich?“

Karin Leroch
Geb. 1963. Lebt und arbeitet in Wien, liebt aber NÖ. Besuchte den Lehrgang des Berufsverbandes Österreichischer Schreibpädagogen. Schreibt seit 2010 Kurzgeschichten aller Genres. Veröffentlichungen eines Kurzromans und in Anthologien und Zeitschriften.