90/Unter Wolken/Prosa/Felix Lucas Ernst: Ein Hagelflieger

Ich flog los. Ein Gewittermantel hatte sich über das Vorgebirge gelegt. Mit der Cessna 210 durchquerte ich mehrere Wolkenschichten auf der Suche nach Aufwindkanäle.
Dann landete ich etwas holprig am Flugplatz und wartete auf den Hagel, der an dem Tag nicht mehr fallen würde.

Nun sah ich den Halbmond, den ich an diesem Tag bereits mehrmals gesehen hatte, und die Schwalben auf dem nassen Kies, und die Nacktschnecken auf den weichen Stellen des Wegrands, und die Rinder im Hof eines Nachbarn, den ich erst vor kurzem kennengelernt hatte.

Ich ging als erstes in eine Wirtschaft. An meiner Redensart bemerkte der Wirt, dass ich nichts bestellen würde. Ich drehte mich weg. Im Hintergrund hörte man jemanden sagen, dass es aufhören würde zu regnen. Es roch nach Espenholz und längst verschüttetem Alkohol.

Es hörte bald auf zu regnen. Als ich im Stimmengewirr den Raum verließ und spazieren ging, ließ ich meine Regenjacke am Eingang liegen. Da war wieder der Halbmond, nur diesmal durchfuhren ihn zerbrochene Wolken. Ich dachte an das Wort Regenschauer, danach an das Wort Schauer und sah zu, wie sich die Wolken mit dem Ostwind immer weiter der Gebirgskette näherten, um sich also über dieser zu entladen. Ich hörte in mir den Satz eines Philosophen: ‚alles steuert der Blitz‘, und mir wurde kalt.

Ringsum einer Betonkonstruktion weideten Kühe. Ich ging zuerst durch einen Hain, bis hin zu einem Weg, der zwischen zwei Maisfeldern führte, und fasste mir ins Gesicht. Es fing sofort an zu nieseln.

Ich hatte einen ruhigen, bedachten Ort entdeckt, in der Nähe einer Tankstelle. Meines Weges pfiff ich eine Melodie, welche sich unbewusst aus der Umgebung speiste. Der Klang der Kuhglocken fiel mir erst auf, als ein Laster von der Landstraße abbog und die Ausfahrt zur Raststätte nahm, den vielen, lauten Wind mit sich tragend.

Die Lichter der Laternen, die die andere Straßenseite schmückten, gingen alle zeitgleich an. Hinter einem großen Plakat, auf dem lachende Touristen zu sehen waren, befand sich ein kleiner Grünstreifen, umgeben von einem elektrischen Weidezaun, der an hölzernen Pfählen festgebunden war. Darin spielten zwei Kinder Fußball. Beide Kinder schoßen Tore. Das eine Kind schrie stets neue Namen. Das andere trug abgewetzte, silbern-glänzende Torwart-Handschuhe, auf deren Innenfläche es immer wieder spuckte. Man hörte Nachtfalter gegen die Laternenlichter
schlagen, und Autoreifen sich neue Wege durch die Asphaltpfützen aufbrechen, und in jeder Ecke den Klang des Abendverkehrs und der von den Straßenschildern abspringenden Tropfen. Überall entdeckte ich diesen nicht-herabstürzenden Hagel, der sich langsam ausnieselte.

Das eine Kind rief erneut einen Namen, der mir aber diesmal bekannt vorkam. Der Ball flog in die Luft und landete auf einer entfernten Straßenseite. Da fiel mir das Neonlicht eines Nachtclubs gegenüber der Tankstelle auf, und die Sterne, die man nun ab und an durch die aufbrechenden, lichtklaren Wunden im Wolkenhimmel sehen konnte, und manchmal auch der Große Wagen. Dann wieder die Lichter des Nachtclubs, die genauso funkelten wie in den Nächten davor. Der Regen wurde stärker. Ein Lastwagen mit einer großen Fußballfahne fuhr vorbei und sendete mir ein mögliches Gesprächsthema, sollte ich den Fahrer mal begegnen. Gespräche über Fußball sind immer wesentlich, dachte ich, der Wind unterbrach mich aber schnell. Der Halbmond verschwand hinter einem dichten, schwarzen Mantel, den ich nur vermuten konnte. Alsbald drehte ich mich um und ging denselben Weg, den ich gekommen war, wieder zurück.

Unterm Vordach der Wirtschaft standen zwei junge Menschen, die sich eine Fertigzigarette teilten und sehr oft ‚banal‘ sagten. Ich stellte mich neben ihnen und fragte etwas. Ein gestreifter Kater kroch unter die Motorhaube eines Mercedes. Es kam mir so vor, als bedeckte ein Film aus Silberjodid meine Handteller. Ich roch mehrmals daran, um die aufgestellte Vermutung zu überprüfen. Der Schwanz des Katers verschwand hinter einem Vorderreifen, als die Jungen auflachten. Einer der beiden, blond und stark alkoholisiert, reichte mir eine Zigarette. Ich hörte zu und beobachtete, wie sie redeten, und was sie redeten, und wieso, sah ihnen abwechselnd ins Gesicht. Um uns herum die feuchten Wiesen und der zertrampelte Boden.

Ich imaginierte, wie ich beiden Jungen höflich die von Silberjodid benetzte Hand gab und dabei sehr stark grinste. Stattdessen sagte ich mehrmals Sätze mit ‚Gewitter‘ und ging in die Wirtschaft. Man begrüßte mich als den Hagelflieger. Ein Kind stand dicht unter einem Fernsehbildschirm, in dem Bilder vom Mars gezeigt wurden. Ichbeobachtete das Holz der Stühle und der Dielen und fragte mich, ob dies Espenholz, ob jenes Buche oder ob jenes Eiche sei. An der Theke schenkte die Wirtin einem sinkenden Kopf das, wie sie sagte, letzte Glas Kräuterlikör ein. Bald wurde an einem Tisch über das Weltall gesprochen.

Ich legte mein Hemd auf eine Heizung, die nicht an war, klopfte mir meine Hosen ab und setzte mich an dem weltallinteressierten Tisch. Auf seiner Oberfläche lagen zerstreut Karten und Servietten mit Suppenresten, die ein alter Mann in Leinenweste langsam aufhob, um mir Platz zu machen. Mir fiel auf, dass ich in diesem Ort die Gefahr lief, gemütlich einzuschlafen.

Mich interessiere am Weltall nichts, sagte ich, als man mich zu einem Bier einlud. Man könne meinetwegen auch über eine Talkshow sprechen. Niemand fühlte sich angegriffen. Das Bier war angekommen und es schmeckte gut. Mittlerweile wurde über eine Politsendung gesprochen. Ich schaute neugierig auf das Gesicht des Kindes, das auf den funkelnden Bildschirm steil hinaufblickte, und fragte mich, was es wohl im Alltag denke: was es wohl in den Maisfeldern treibe, die es umgaben, was es wohl in den Weihern entdecke, die es umgaben, was es wohl in all den Kuhglocken höre. Ich schrie aus: was halten sie von Kuhglocken.

Man griff meine Frage mit Widerwillen auf. Durch die Tür traten beide Jungs ein, die draußen eine Zigarette geteilt hatten. Ich bemerkte, dass sie unter sich so redeten, wie eine einzelne Person mit sich selbst. Man höre Kuhglocken jeden Tag, sagte man. Man sehe Kühe jeden Tag. Man melke Kühe. Man lasse Kühe weiden. Man habe Kühe im Stall. Man trinke Milch. Die zwei Jungs sprachen mit der Wirtin. Kuhglocken machen ein stilles Geräusch, das manche mit Frieden verbinden, dachte ich. Metalllaute, die vom Zufall dahin getragen werden, gespielt von einem Ensemble aus x-vielen Beinen. Ich ließ meinen Mund reden. Man müsse davon nichts halten, sagte ich, und hielt mein Glas hoch. Die Biergläser trafen einander. Jemand lachte, weil man vom Weltall auf Kühe gekommen sei. Andere lachten mit und das Gespräch teilte sich in drei. Ich blieb unangesprochen und trank einen weiteren Schluck.

Wenn es zu viele Wolken gibt, ist es zu dunkel, um die Wolken zu sehen, sagte ich ins Leere. Die Wirtin wandte sich von beiden Jungs ab, um das Kind ins Bett zu bringen. Ohne Widerstand ließ es sich durch eine mattgläserne Tür führen, deren Angeln beim zugehen quietschten. Die Jungen sahen sich mitleidvoll an. Die Theke sei so klebrig, hörte ich eine Stimme sagen. Im Fernsehen lief eine Sendung über die Alliierten.

Man redete in einer Ecke des Tisches über Fußball. Ich horchte auf und sah zu, wie sich die Hände zweier alter Männer im dimmen Licht der Glühlampen bewegten. Jede Bewegung der Hände sei unkoordiniert und verspätet, sagte ich, wandte mich jedoch schnell davon ab.

In den letzten Minuten habe ein Torwart ein Tor verhindert. Ich knickte ein, ließ meinen Kopf auf meine Arme fallen, während ich sprach. Auch die beiden Jungs hörten mir zu. Im selben Stadion habe es vor einigen Jahren einen Stromausfall gegeben. Als die Lichter wieder angingen, stand es weiterhin gleich, und das Spiel ging weiter. Jemand sagte: Das ist außergewöhnlich.

Der Alkohol klebte an meinen Stiefelsohlen, als ich wieder aufstand. Die Wirtin kam mit einem blauweiß-gepunkteten Lappen in der Hand zurück. Ich schaute den Lappen an, fragte, wieso der Lappen blauweiß gepunktet sei, gab ihr meine Hand, und verließ die Wirtschaft.

Dann saß ich in der Maschine. Es gab keine Wolken mehr. Als die Lichter angingen, und ich die Piste entdeckte, hörte ich die Schwalben, die auf dem nassen Kies pickten, und die Rinder, die im Hof des Nachbarn standen, und den Schauer, der mich umgab. Schließlich hob ich ab, an den fallenden Hagel denkend, der an dem Tag nicht gefallen war.

 

Felix Lucas Ernst
Geb. 1998 in Madrid, studiert Literarisches Schreiben an der Universität Hildesheim, arbeitet in der Redaktion des literarischen Podcast-Netzwerks Litradio und veröffentlicht regelmäßig Audio-Essays zu zufällig generierten Ausgangsthemen.