90/Unter Wolken/Prosa/Kerstin Nethövel: Frau Balashova

In einem der Übungsräume spielt jemand Klavier. Vorhin war Alva dran. Hanne ist noch zu klein. Hanne liegt mit ihrem Vater im Vorraum auf dem Boden und puzzelt. Alva beißt in ihr Brötchen, öffnet die Tür zum Hof und geht nach draußen.

Sie setzt sich auf einen der beiden Stühle, die auf der Terrasse stehen. Die Brötchentüte legt sie auf den Tisch. Die Terrasse ist ein kleiner hölzerner Sockel, direkt unter dem Fenster des Vorraums. Musik dringt nach draußen. Es ist Greta, die jetzt mit Frau Balashova übt. Alva blickt in den Hinterhof, der im Schatten liegt.

Alva ist zuerst dran. Dann kommt Greta an die Reihe. Der Klavierunterricht bei Frau Balashova dauert dreißig Minuten. Beide Mädchen haben Einzelunterricht. Der kleine Tisch ist voller Brötchenkrümel. Schulhefte liegen da und Stifte. Zuerst wartet Greta, dass Alva wieder herauskommt, dann wartet Alva auf Greta.

Manchmal ist der Hof leer, die Terrasse liegt verlassen. Nur Musik schwebt in der Luft, wird von einem leichten Wind zwischen den Mauern gehalten. Etwas später erscheint der Vater in der Toreinfahrt. An jeder Hand trägt er Einkaufstaschen, die Mädchen laufen neben ihm, können es kaum erwarten, in die Tüten zu greifen. Sie setzen sich an den Tisch, reißen Verpackungen auf, unterhalten sich, bis Frau Balashova erscheint. Mit Alva. Oder mit Greta. Nach dem Unterricht begleitet Frau Balashova die Mädchen nach draußen.

Sie spricht mit dem Vater. Über die Fortschritte der Mädchen. Über ein bevorstehendes Konzert der Musikschule. Wann kann Hanne anfangen, fragt der Vater. Bald, sagt Frau Balashova. Die Mädchen packen ihre Taschen, der Vater dreht sich um. Alle brechen auf, und die Lehrerin steht da, hört, wie sie über etwas lachen, und wartet, bis die Toreinfahrt sie verschluckt. Jedes Mal blickt sie auf ihre sich entfernenden Rücken.

Aber einmal, als Frau Balashova sie verabschiedet, entdeckt sie im Hof eine Schildkröte. Die Lehrerin schaut dem Vater und den Mädchen hinterher, als sich da etwas bewegt. Sie geht hin und findet diese Schildkröte, die mitten über den Hof spaziert. Frau Balashova wundert sich, dass die Mädchen das Tier nicht gesehen haben. Sie nimmt den kleinen, runden Panzer in die Hand, das Tier zieht reflexartig seinen Kopf ein, die Beine strampeln in der Luft.

Die Schildkröte erinnert sie an etwas, das ihr vertraut ist, an die Schüler, die bei ihr ein- und ausgegangen sind, an ihre Gesichter und an die vielen Musikstunden. Frau Balashova blickt an den umliegenden Fassaden hoch. Nichts regt sich hinter den Fenstern. Aber abends, wenn alle erleuchtet sind, wäre sie gern in einem dieser Lichter.

Auf dem Regal im Vorraum findet sie eine Schachtel, legt sie mit ihren Notenblättern aus und setzt das Tier hinein. Ein Bett aus Noten, denkt Frau Balashova. Dann schließt sie den Deckel wie bei einer Spieldose, und die Melodie in ihrem Kopf bricht ab. Sie zieht die Tür hinter sich zu und glaubt zu verstehen, was sie als nächstes tun muss. Bevor es zu spät ist.

 

Kerstin Nethövel
Geb.1971 in Essen, wo sie auch lebt und arbeitet. Studium der Fächer Französisch und Deutsch in Paris, Bochum und Brüssel. Begann 2007 Kurzgeschichten und Erzählungen zu schreiben. Verschiedene Preise, u.a. 2020 Preisträgerin des 13. Nettetaler Literaturwettbewerbes. Veröffentlicht seit 2017 in Literaturzeitschriften und Anthologien, u.a. Dichtungsring, mosaik.