90/Unter Wolken/Prosa/Simon Konttas: Sommerabendsonne

Im Dorf Isokyrö, einem Kuhkaff in Finnland,
in der Mitte links auf der Karte,
wie ich Menschen immer erkläre,
wenn sie mich fragen, wo das liegt,
steht, mitten in Feld und Wiese,
gar nicht so weit weg von der alten Kirche,
einem massiven Steinbau aus dem Jahre 1304,
ein modernes Bethaus,
allem Anschein nach errichtet
in den 1970er-Jahren; vor der Landflucht,
als noch Kinder, mit Tretrollern, in kurzen Hosen,
sommers durchs Dorf gebraust sind,
wo jetzt an warmen Sommerabenden
das Rauschen der Blätter, der Autos
das einzige nennenswerte Geräusch darstellt;
in einem Dorf, das für die Jugend
keine Arbeitsplätze hat und für die Alten
keine sinnvolle Abwechslung (die Alten
siechen allein in ihren rot-weißen Holzhäusern dahin,
oder hocken auf den kleinen Terrassenparzellen
eines einstöckigen Altersheims
und erinnern sich in den langen
Sommernächten an ihre Jugend,
an Mannerheims knisternde Stimme im Radio,
an die ersten Gummistiefel,
an den ersten Traktor im Hof,
den grausamen Unfalltod des geliebten Schäferhundes
während der Ernte,
an die Konfirmation mit dem strengen,
aber hübschen jungen Pastor,
an den ersten Kuss und dergleichen vergangene Dinge);
ein modernes Bethaus also,
das der dörflichen Freikirche gehört,
die’s mehr mit dem Heiligen Geist persönlich
hält als mit der lutherischen Amtskirche,
deren prunkvolles, gelbes Holzhaus
am Ende eine Birkenallee,
am Ufer des Flusses, prangt.
Eines Sommerabends – die orangen Strahlen
der Sonne, die nicht sinken wollte,
verliehen den grünen Blättern
und den Ähren im Feld
einen sattgrünen, einen kupferfarbenen Glanz –
ging ich an diesem Bethaus vorbei
und sah durch die geöffnete, schwarze
Flügeltür in den kargen Raum,
erhaschte einen Blick von den Bankreihen;
und da saß ein Mensch, ein einziger Mensch.
Es war schon zweiundzwanzig Uhr vorbei.
Da saß der Mensch; und was tat er wohl?
Ich nehme an, er betete.
Allein vor Gott und dem Heiligen Geist,
mit ich weiß nicht, welchem Stein
auf seinem Herzen, einem Stein, von dem er hoffte,
eine höhere Macht würde ihn dessen entledigen;
allein an jenem Sommerabend in der Freikirche,
mitten in Wald, Wiese und Feld im Dorfe Isokyrö,
auf der Finnlandkarte in der Mitte links,
wie ich’s immer erkläre, wenn mich jemand fragt …

 

Simon Konttas
Geb. 1984 in Finnland, lebt und arbeitet in Wien und Baden. Er wuchs dreisprachig (finnisch, serbisch, deutsch) auf und ging unter anderem in Finnland Tätigkeiten im Gemeindedienst und in Österreich als Studienassistent, Sekretär, Büchereibediensteter, Lehrer und Mitarbeiter der finnisch-evangelischen Kirche nach. Konttas schreibt Romane, Erzählungen, Novellen, Gedichte und lyrische Zyklen. Etliche seiner Arbeiten erschienen in österreichischen und deutschen Literaturzeitschriften. Konttas hat aus seinem umfangreichen Werk viele Lesungen im In- und Ausland bestritten; darunter im Januar 2015 eine Poetikdozentur an der Universität Jena/Deutschland.