91 / Hirn mit Ei / Prosa / Sandra Humer: Hirn mit Ei: Die Suche nach ...

„Gott, lass Hirn vom Himmel regnen!“ - Dieses Stoßgebet gen Himmel ward per Plakette fein säuberlich in die Frontscheibe des in die Jahre gekommenen Volkswagens gelegt, damit ausnahmslos jeder sinnentleerte Menschenkörper, der dieses Vehikel beim Vorbeigehen auch nur in Gedanken streifte, davon in Kenntnis gesetzt wurde, mit welch allwissendem Ungetüm er es hier zu tun hatte. Damit jeder wusste, dass der designierte Lenker dieses Gefährts zwar nicht durch die Größe seines Autos, wohl aber durch die Größe seines Gehirns von dem durchschnittlichen Spießbürger zu unterscheiden ist.

Zu Hause erging es Waldemar durchaus durchwachsen.
Seine ihm Angetraute wusste zwar nicht mit dem Nudelholz umzugehen, weil sie einer neuen Generation an aversiv geprägten Hausfrauen angehörte, die dem Manne nicht mehr in dem ihm gebührenden Ausmaß zu Diensten sein wollte, jedoch war sie unbezwingbare Meisterin der Lauer, des wortgewaltigen Angriffs und der ewigen Leier. Das wiederum hielt Waldemar davon ab, in den eigenen vier Wänden unangenehm aufzufallen und er strebte danach, sich stets von seiner besten Seite zu zeigen, wenn er zu seiner Frau nach Hause kam. Ein Unterfangen, das nur mit höchster Disziplin und Anstrengung zu bewerkstelligen war. Waldemar erfüllte weder ästhetische noch mechanische Ansprüche und schaffte Zufriedenheit nur durch eine angemessene Balance zwischen Anwesenheit und Verdünnisierung, schließlich reichte Ersteres, um dem widerborstigen Heimchen am Herd die erforderliche Sicherheit zu suggerieren und Letzteres wirkte schmerzstillend und entzündungshemmend auf die Gesamtsituation. Aber von Glück konnte keine Rede sein, die Erfüllung fand Waldemar wohl eher in seiner Arbeit. Diese bot die von ihm so herrlich leicht empfundene Struktur und Ordnung, er liebte das Tabellarische, das Formelhafte, er fühlte sich dann beinahe wie von der Muse geküsst. Diesen Umstand der höchsten Erregung durch ein straffes Korsett wollte er den heranwachsenden Generationen in ihre Gehirne einbrennen, damit sie eines Tages nicht so enden würden wie er.

Seine Weltanschauung wurde in Kubikmetern berechnet, danach folgten Fußball und Bier, und die obligatorische Sichtung der Hausübungen seiner Schüler. Warum die Kollegin mit der Brachialfrisur und den naturbelassenen Ohrringen beinahe zum Hungerstreik aufrief, wenn er denn auf die geschlechtsspezifischen Endungen in der Bezeichnung seiner Schutzbefohlenen verzichtete, konnte er nur mit einem unverständlichen und müden Lächeln beantworten. Ein Mann, ein Wort. Auch die sonstigen emotionalen Ausbrüche im Lehrerzimmer, dem Ort, an dem die Welt noch viel kleiner wirkte als sonst, konnte er weder nachvollziehen noch gutheißen. In der Ruhe liege doch die Kraft, die man für die wichtigen Dinge im Leben sich zunutze machen könne: für den täglichen Stuhlgang, die selbstverschuldete Onanie und die Verdünnisierung zu Hause.

Zu Mittag, pünktlich um 12.30 Uhr, hievte er sich aus seinem ergonomisch geformten Sitzsack und pilgerte mit anderen institutionellen Hampelmännern Richtung Schulkantine. Dort wurde allerlei dargeboten, auch der handelsübliche Veganer kam in dieser Industrieküche auf seine Kosten, niemand wurde hungrig zurückgelassen. Waldemar traute seinen Augen kaum, als er seine Frau hinter der Theke stehen sah. Wie um alles in der Welt war sie hierhergekommen? Er war erschüttert. Die Hoffnung starb nun endgültig. „Ich habe mich hier für einen Job als Köchin beworben und darf gleich heute mit der Arbeit beginnen. Hier, deine Ration Hirn mit Ei, guten Appetit, mein lieber Mann!“, sie schwang die Keule und zielte mit Augenmaß, der Schöpfer entleerte sich und Waldemar konnte über den Tellerrand nicht mehr hinausblicken. Seltsam, dachte er bei sich, das hat es hier noch nie auf der Speisekarte gegeben, das muss wohl an meiner Frau liegen, dieser lukullische Grenzgang des guten Geschmacks. Mehr wollte er diesbezüglich nicht beisteuern, denn die Pause war kurz und die To-Do-Liste lang, also verschlang er das ihm zugeteilte Hirnareal mit geschlossenen Augen und zugehaltener Nase, würzte nach mit einer kleinen Flasche Kombucha und sauste mit vorgehaltener Aktentasche zurück ins enge Lehrerzimmer. Er hoffte inständig, dass seine bessere Hälfte von seinem Abgang keinerlei Notiz genommen hatte, sonst würde vielleicht alsbald der Haussegen schief hängen und das hieße wohl eher abendlicher Redebedarf und wochenlange Schelte statt Ruhe und Frieden.

Die kommenden Wochen gestalteten sich zäh und flachsig, denn die Krankenstände der angeblich corona- und grippegeplagten Geister wollten kein Ende nehmen. Bald schon unterrichtete Waldemar rund um die Uhr, Fächer, die er früher nicht einmal buchstabieren, geschweige denn aussprechen konnte, standen bei ihm nun an der Tagesordnung. Seine Frau, die nach wie vor mit Eifer in der Schulküche stand und die Gehirne in allen Zubereitungsarten, die in ihrem schwarzen Kochbuch zu finden waren, auf der großen Tafel in Schönschrift auswies, winkte ihm jedes Mal, wenn er stressgeplagt und schweißgebadet von einer Klasse in die nächste flitzte. In der unterkühlten Legebatterie der Bildungsanstalt, in welcher Waldemar und seine männlichen und weiblichen Kollegen vom Staat einen Quadratmeter Ablagefläche inklusive Sitzgelegenheit zur Verfügung gestellt bekamen, machte sich eine ungewohnte Leere breit. Die Krankenstände wollten einfach nicht enden und die abgemagerten Leidensgenossen, die für die Aufrechterhaltung des Bildungssystems Sorge tragen mussten, zumindest augenscheinlich, schienen auf unerklärliche Weise zu verschwinden.

Der Unterricht war zu einem Soloprogramm mutiert, Waldemar konnte mittlerweile die Differentialgleichungen gleichzeitig auf Französisch und Spanisch simultan übersetzen und in der Aula, die genügend Resonanzraum für die Gesamtschülerzahl und seinen Vortrag bot, einen Poetry Slam veranstalten, der seinesgleichen suchte. Gottlob hatte die Digitalisierung in der Schule Einzug gehalten, denn so fiel der herrenlosen Schar an Schulpflichtigen dank flackerndem Bildschirm vor ihren müden Augen nicht im Traum ein, Waldemars Laientheater berechtigterweise in Frage zu stellen.

Erschöpft und des Lebens als eierlegende Wollmilchsau überdrüssig, trottete Waldemar hungrig und kurz vor der Dehydrierung zum Herzstück der Anstalt. Dort war seine Frau gerade mit drei widerspenstigen Gehirnen beschäftigt, die dem ausgiebig gesprudelten Ei zu entrinnen versuchten, aber schließlich dank ihrer Impertinenz im Keim erstickt wurden. „Ich könnte immer so weiter machen!“, frohlockte sie und stellte Waldemar ein Glas milchigen Ausflusses vor die Nase. „Trink das!“, warf sie ihm beiläufig hin, als sie mit ihrem Dreizack das frischgebackene Hirn aus der Pfanne hievte. „Dazu ‚Hirn à la mode‘, schon ein bisschen schwarz an der Unterseite, aber das macht nichts. Die Mitte ist knusprig braun, so wie du es magst, darüber etwas Pfeffer, damit du wieder in die Gänge kommst. So eine Anstalt muss geführt werden, und zwar zackig. Iss und dann walte deines Amtes, Mann. Mahlzeit!“ Ihre Augen zuckten fast unmerklich, aber Waldemar nahm ob seiner jahrelangen Gefangenschaft im heiligen Bund der Ehe Notiz von diesem Anzeichen an Wahnwitzigkeit. Ihm schauderte, ganz heiß wurde ihm in
der Legebatterie, die zwar mittlerweile ihm allein und ein paar wenigen Quereinsteigern, die das AMS ohne große Umschweife aus der Mindestsicherung direkt in den Lehrberuf geschickt hatte, einiges an Platz bot, aber wegen der Energiekrise und den damit verbundenen Einsparungsmaßnahmen eine dicke Eisschicht gebildet hatte. An manchen Tagen schneite es sogar ein bisschen, was von dem darin befindlichen Personal durchaus als gelungene Abwechslung vom grauen Lehreralltag empfunden wurde.

Heute war es besonders frostig und unangenehm, der Wind heulte und schlug Waldemar um die Ohren. Mit letzter Kraft hielt er sich an seiner Sitzgelegenheit fest, bemerkte jedoch schneller als ihm lieb war, dass es sich hierbei nur um ein weiteres Fass mit doppeltem Boden handelte. „Herkommen!“, rief ihm seine Frau aus der Direktion zu, scheinbar dürfte sie in der Zwischenzeit befördert worden sein, ohne ihm etwas davon erzählt zu haben. Was für ein rasanter Aufstieg, dachte Waldemar geistesabwesend und folgte aufs Wort. Irgendetwas in ihm hatte sich bereits ergeben, der eigene Wille war ihm, seit er in der Schulkantine an dem Glas genippt hatte, beim letzten Stuhlgang endgültig abhandengekommen. Blutleer und willenlos setzte er einen Fuß vor den anderen, um den Bußgang hinüber in die Höhle der Obrigkeit in Gang zu bringen. In seinem Kopf rumorte es. Sein Herz hatte bereits über den Dienstweg den Stillstand beantragt. „Lass Hirn vom Himmel regnen! Das ist doch mal eine Ansage, mein Guter! Komm, setz dich! Du siehst übel aus. So, als wärst du nicht mehr du selbst. Waldemar?“
Ihr gegenüber saß eine altbekannte Hülle Mensch. Wer sie abgestreift hatte, war nicht mehr zu erkennen. „Willenlos sind sie mir am liebsten, so ist es richtig!“, züngelte die Furie und lächelte scheinheilig.

Sie hatte zwar bezüglich ihres Tuns keinerlei Wahrnehmung, und pflegte diskret zu schweigen, wenn die neuankommenden Untertanen trotz strenger Hand und eiserner Faust unangenehme Fragen nach dem Verbleib ihrer Vorgänger stellten, aber das Hirn entfernte sie am liebsten eigenhändig, mit Buschmesser, Samthandschuhen und mit Hilfe einer Filetiertechnik, die das gehaltvolle Weiß im Ganzen beließ. Mit der Kettensäge in der Hand ließ sie die schalldichte Tür zu ihrem kachelweißen Konferenzraum ins Schloss fallen und waltete - Ei, der Daus - ihres Amtes.

Sandra Humer
Geb. 1976 in Wien, Studium der Germanistik und Anglistik bis 2001, anschließend Redakteurin bei 88.6 und Radio Max, nach zweieinhalb Jahren zurück in den Schoß der heimischen Bildungsanstalt als AHS-Lehrerin für Englisch und Deutsch.