93 / Wirklich/Unwirklich / Prosa / Christina Hermann: Sexuelle Freiheit, die er meinte

Manchmal kam eine Frau ins Schloss, die ein Baby mit ihm hatte. Über dreißig, jenseits. Großzügig zog ich mich zurück, wenn die nach Vanille riechende Mutter mit ihrem Wickelkind erschien. Wochen später ging es mit einem Mal um sexuelle Freiheit. Nur theoretisch. Die Steine in meinem Magen sagten etwas anderes, als wiedermal die adrette Tochter der Schlossherren hereintänzelte, mir aus dem Lodenjanker gräflich die Hand entgegenschob und mit dem Meister hinaus tänzelte. Er sah sie an, wie er nur mich ansehen sollte. Auf mir drückte irgendwas von pudrig barock. Ich wollte nicht wissen, was ich ahnte und nicht, warum mir übel wurde. Nach drei Stunden kam er beschwingt zurück, sah mein Gesicht und redete auf mich ein. Wenn ich ihn liebte, würde ich ihm nur Glück wünschen, wie er mir auch, das ändere doch nichts an unserer Liebe. Stimmt nicht, brüllte es in mir. Nur wie sollte ich Freigeist mitten in der sogenannten sexuellen Revolution zu dieser Logik nein sagen? Natürlich gelte alles auch für mich, alles. Nach tagelanger quälender Grübelei fiel mir nichts Besseres ein, als Olaf, Ex-Lover aus Berlin und LSDerfahrenen Antiquitätenhändler fürs Wochenende einzuladen. Der Meister schnaubte: „Das ertrag ich nicht!“ und fuhr im Bentley seinerseits nach Berlin zur Vanillemutter.

Als er zurückkam, zog er die Zugbrücke hoch, weil er mit mir allein sein wollte und änderte bei Champagner und Froschschenkeln die Taktik: „Du bist und bleibst meine einzige Schlossherrin. Wir gründen eine Designfabrik, und du wirst sie leiten.“ Ich, mit grade zwanzig Teamleiterin?

Dann kamen die Studenten. Wie damals auch ich kamen sie mit bewundernden Blicken für Meister und Wasserschloss über die Zugbrücke. Die Art, wie er bald schon Sophies grünen Augen schöne Augen machte, versetzte mir jedes Mal einen Stich. Eines Abends saßen wir alle im Rittersaal und der Meister spendierte Rotwein. Sein Daumen steckte in der phallischen Innenwölbung des von ihm designten Glases, als er sich gähnend reckte: „Schlaft alle gut. Sophie, kommst du mit?“ Zum Teufel was!? Ich musste mich verhört haben, das macht er nicht. Niemals. Wie schamhaft Sophie errötete und ihm zögernd, aber süß lächelnd unter den gesenkten Blicken des Teams nachschwebte. Die barocken Dielen schwankten nur, statt mich auf der Stelle zu verschlucken.

In meinem Freskenzimmer tigerte ich zehn Schritte von Wand zu Wand und kratzte kreidig riechende Leimfarbe von den alten Mauern. Die Fingernägel quietschten, einer brach ab, einer splitterte, die Fingerkuppen wurden rot, die Augen auch. Vor dem Spiegel im Badezimmer beugte ich mich zu Demütigung und finsterer Wut: Was hat Sophie, das ich nicht habe? Mund, Augen, Haare, Busen? Nichts, rein gar nichts. Aber ich bin schon acht Monate hier. Dem Mann sagt der Spiegel, dass er älter wird. Er braucht sehr junge Frauen, um sich aufzuputschen. Eine genügt nicht. Ich sah meinen Mund bitter und die Augen schmal werden, sah die beiden drüben in unserem Bett, ihr verzücktes Lächeln, seine geschickten Hände und andere Körperteile, sah sie sich in gemeinsamer Nähe drehen. Ich streckte Arme und Hände weit weg und beugte meinen energischen Daumen, als würde ich ein Feuerzeug runterdrücken. Einen Flammenwerfer, hinüber in sein Schlafzimmer! Jawohl. Im Rittersaal knieend Zeitungspapier in den großen Marmorkamin knautschen, kleine Hölzer und große Hölzer für noch mehr Flammen. Es würde lodern und gut riechen, und ein paar Funken würden über den Blechschutz aufs Holz sprühen. Kleine Löcher, große Löcher, zündeln. Sollen sie, soll sich das brennende Buchenholz doch auf dem altem Buchenboden ausbreiten und Flammen werfen. Ein Killer in mir will einäschern, das Schloss einäschern, alle 42 Zimmer, notfalls auch mich und sich selbst.

 

Christina Hermann
Geb. 1953 in Thüringen, aufgewachsen in Baden-Württemberg; Studium Grafik an der Angewandten in Wien; arbeitete in Österreich, Deutschland und Hong Kong und lebt in Krems an der Donau.