93 / Wirklich/Unwirklich / Prosa / Christoph Mandl: 2.499 Blatt Universalpapier

Gestern habe ich wieder 2.500 Blatt DIN A4 Universalpapier eingekauft. Obwohl ich schon so alt bin. Manchmal, so wie gestern, glaube ich, hinter mir zu stehen. Also nicht im Weg, wie es sonst so oft der Fall ist.
Auch andere stehen mir immer wieder brutal im Weg. Ich schieße sie dann mit meiner radikalen Sanftheit zu Tode. Erdrücke sie mit Stille, speise sie mit Reisbrei, bis sie nicht mehr atmen können und still ersticken.
Meistens jedoch steh ich ohnehin mir selbst im Weg. Schieße mich mit meiner brutalen Sanftheit nieder, schwerverwundet in der Seele, dem ausgelagerten Wissen, dem Anderssein. Und stopf Reisbrei in mich, bis ich glucksend kollabiere.
Woher dieser Optimismus, 2.500 Blatt Universalpapier zu erstehen, um teures Geld, woher diese Chuzpe, zu glauben - ja was? Herr, vielleicht da oben, lass mich noch 2.499 Seiten Universalpapier beschreiben, bekrakeln, behämmern, beschmutzen. Auf der zweitausendfünfhundertsten Seite dann mein letzter Wille: Entschuldigt, dass ich da war!
Wenn ich in der Höhe bin, kreise ich mitsamt meinen Gedanken weit ausschweifend über die kotigen, stinkenden Täler, sinke ab und zu zum Kotzen nieder. Vergesse, dass ich gerade noch da oben war, auf zweitausendfünfhundert Meter. Komme nicht mehr hoch, in die Höhe. Das ist die Höhe.
Die Ausrottung der Dummheit schreitet voran, aber die Gebärfreudigkeit der Dummheit ist schneller. Sollen wir Gescheitheit zeugen? In unserem Alter? Lächerlich! So manchen schaut die ranzige faule Dummheit direkt aus den Ohren raus, dort sprießen Büschel ungefilterter Blödheit, die man gerne ausreißen möchte. Aber auch diese wachsen in rasender Geschwindigkeit nach.
Keine schönen Lieder fallen mir ein, in der Höhe auf zweitausendfünfhundert Meter nicht, und schon gar nicht in den kotgefüllten Tälern, wo sich die Dummheit häutet, um gleich wieder neue Dummhäute zu erzeugen.
Wohin mit den Worten, im eitrigen Hals steckengeblieben. Zurück in den Magen, wo sie mir endlos liegenbleiben. Schönheit ist unschön, würden die Worte sagen. Diese Ästheten, wie sie an ihren erigierten Kugelschreibern nagen, wie sie sich plagen, wie sie beim Artikulieren ejakulieren.
Einem grausigen Unverständnis sind sie aufgesessen, aber wo anders soll ein Ästhetenhintern wohl sitzen, als auf einem furzenden Unverständnisthron, wo er die Welt um sich herum betäubt und der Eigensinnlichkeit beraubt. Sie klagen, werden jedoch nie angeklagt. Sie reden, es redet keiner wider, sie kreißen, und ein Ratz wird geboren. Zweitausendfünfhundert Blatt sind noch da, mein Ablaufdatum, gemessen in fünftausend Seiten, gewendet und gedreht, zerrissen, zerschlissen, Wasserflecken, Eselsohren.
Arigatō, Sayonara, Xiexie, Zayjian! Dhan‘yabāda, Guḍa bā‘i!
Ach, Sie wollen wirklich schon gehen? Dann pressen wir erst einmal Ihren Kopf auf eines der zweitausendfünfhundert Blätter. Dann sehen wir Ihr wahres Gesicht oder Ihr unwahres, wahrscheinlich irgendein Gesicht auf irgendeinem Blatt. Entgleitende Züge, entgleist, auf Wahrheiten gestoßen oder auf Wahrscheinlichkeiten, so genau wissen wir, wissen Sie das ja bei Gott (so es wahrscheinlich einen nicht gibt, gibt) nicht. Halten Sie sich jedenfalls für die nächsten zweitausendvierhundertneunundneunzig Blatt zu unserer Verfügung. Steigen Sie nicht mehr auf über die Täler, nach oben, wo wir Sie nicht unter Kontrolle haben. Bleiben Sie auf dem kotigen Boden der jauchestinkenden Untatsachen. Gegensätze lehnen sich ab. Gegenteile teilen nicht, im Gegenteil!
Was ist wahr? Was ist wirklich? Gestatten, Arm-Seliger, der nichts von den Wirk- und Unwirklichkeiten weiß.
Er trägt sie alle in sich, inhaliert sie, atmet sie ein und aus.

 

Christoph Mandl
Geb. 1955 in Graz. Journalist, Autor; schreibt noch, lebt noch und tanzt noch.