93 / Wirklich/Unwirklich / Prosa / Georg Biron: Es schreibt sich!

Ich war elf, als ich literarisch zu schreiben begann. Und ich weiß bis heute nicht, warum. Es ist wie ein innerer Befehl. Manchmal bin ich überrascht, was ich da vor mich hinschreibe. Wo das herkommt.
In einem Gespräch mit Eckermann soll Goethe gesagt haben: „Ich schreibe nicht, es schreibt sich!“ Und Hugo von Hofmannsthal meinte, dass man beim Schreiben offen sei für das Unbewusste und „die Stimmen jener zehntausend Toten, die immer mitreden, wenn wir den Mund aufmachen“.
Welchem Bewusstsein gehorcht das Schreiben?

Man arbeitet daran, künstliche Intelligenzen zu erschaffen. Dafür müssen die Forscher* erklären, wo im Gehirn das Ich, oder die Illusion davon, zu Hause ist. Überall auf der Welt werden diese 100 Milliarden Nervenzellen, die im Kopf Verblüffendes aufführen, getestet, durchforstet, untersucht und vermessen.
Der Nobelpreisträger Francis Crick verglich das Gehirn mit einer Uhr, die die Zeit anzeigt, obwohl keines der Rädchen und Federwerke einen Begriff von der Zeit habe.
Kann das sein? Unsere Persönlichkeit, unser von Lust, Leid und Erinnerung bestimmtes Erleben soll wie die Halluzinationen eines Drogensüchtigen hervorgerufen werden „durch das Verhalten einer Ansammlung von Nervenzellen“, die verrückt spielen?
Alles, was der Homo sapiens im Lauf der Geschichte zuwege gebracht hat, so wird behauptet, sei nur das Resultat von zufälligen elektromagnetischen Vorgängen unter der Schädeldecke. So etwas wie Bewusstsein, Persönlichkeit oder gar ein Ich mit freiem Willen gäbe es gar nicht. Ethik und Moral seien bloß Blendwerk für die Unwissenden.
Beethovens Fünfte, Goethes Faust, Kants Kritik oder auch Michelangelos David – das sollen alles nur chaotische Abfallprodukte von heftigen Gewittern im tiefen Schlamm der Neuronen sein?
Der Physiker und Philosoph Keith Floyd war überzeugt, dass sich die Gehirnforscher verirrt hatten: „Der Sitz des Bewusstseins kann von einem Neurochirurgen nie gefunden werden, da es sich nicht um ein Organ handelt, sondern um Interaktionen von Energiefeldern. Diese Energiemuster werden durch einen chirurgischen Eingriff unterbrochen, und in Leichen sind sie bereits verschwunden. Die Neurophysiologen werden außerhalb ihres eigenen Bewusstseins nicht finden, wonach sie suchen, denn das, wonach sie suchen, ist das, was sucht.“
Als die Physiker am Beginn des 20. Jahrhunderts das magische Verhalten der Quanten entdeckten, stießen sie schnell an die Grenzen ihrer eigenen Vernunft.
Für subatomare Teilchen gelten andere Gesetze als für Objekte, die wir im Alltag vor Augen haben. Auch scheinen sie miteinander auf mysteriöse Weise in einer Beziehung zu stehen. Besonderes Unbehagen bereitet die Tatsache, dass sich diese winzigen Energie-Einheiten in Experimenten so verhalten, als ob sie ein eigenes Bewusstsein hätten.
Der Quantenphysiker David Bohm ging davon aus, dass wir in unseren Beobachtungen der Welt gründlich getäuscht werden. Das, was wir als getrennt wahrnehmen – zum Beispiel zwei Photonen, die um ihre Achsen rotieren und ihr Verhalten aufeinander abzustimmen scheinen – ist, laut Bohm, die Ausdehnung von ein und demselben „Etwas“, das sich in einer höheren Dimension befindet.
Seine Theorie illustriert er an einem Beispiel: Ein Fisch schwimmt in einem Aquarium und wird von zwei Kameras gefilmt. Vor einer Wand, die das Aquarium mit dem Fisch vor neugierigen Augen eines Publikums verbirgt, sind zwei Fernsehschirme angebracht. Jeder ist mit einer der Kameras verbunden. Ein Beobachter dieser beiden Bildschirme wird nun annehmen, zwei Fische zu sehen. Schnell wird ihm auffallen, dass sich Fisch A und Fisch B in einer Art Tanz gleichzeitig bewegen, und er wird glauben, dass zwischen den beiden eine telepathische Verbindung existiert.
Die beiden Fische auf den Fernsehschirmen sind jedoch nur die zweidimensionale Projektion einer dreidimensionalen Realität – des einsamen Fischs im Aquarium. Bohm meint, dass unsere Realität die Projektion einer höheren, multidimensionalen Realität ist. Und daraus zieht er den Schluss, dass das Universum keine Maschine ist, die man in ihre Einzelteile zerlegen kann, sondern dass wir in einem gigantischen, multidimensionalen Hologramm existieren.
Die Besonderheit von Hologrammen besteht darin, dass jeder einzelne Teil davon alle Informationen für das vollständige Bild enthält.
Wenn in jedem einzelnen Teil alle Informationen des Ganzen gespeichert sind und unsere Realität die Projektion aus einer höheren Dimension ist – was heißt das dann für das Selbstverständnis eines Schriftstellers?
Oder ist das alles bloß esoterischer Unsinn?
Der Neurochirurg John Lorber war Professor an der Universität von Sheffield. Eine Reihe sonderbarer Vorfälle veranlasste ihn, im Jahr 1980 auf einem Ärztekongress die ketzerische Frage zu stellen: „Ist das Gehirn wirklich notwendig?“ Lorber hatte die Bekanntschaft eines Studenten gemacht, dessen Kopfumfang größer als normal war. Der Mann hatte keine Probleme mit seinem „Wasserkopf“, er war zu Lorber geschickt worden, um eine Computertomographie machen zu lassen. Mit einem CT-Scan kann die Gehirnmasse von außen untersucht werden. Dabei stellte Lorber fest, „dass dieser Student praktisch kein Gehirn hat“. Nicht einmal eine Großhirnrinde mit normaler Masse. Man könne aufgrund des Tests zwar „nicht sagen, ob das Gehirn dieses Mannes 50 oder 150 Gramm wiegt, aber auf jeden Fall sind es weniger als die üblichen 1.500 Gramm. Der Rest des Schädels ist mit Wasser gefüllt.“
Der junge Mann verfügte dennoch über einen IQ von 126 und hatte einen der besten Abschlüsse in Mathematik. Lorber hat daraufhin im Lauf der Jahre annähernd 600 (!) ähnlicher Fälle studiert, und obwohl die Schlussfolgerungen von vielen Medizinern a priori und ohne Untersuchung angezweifelt wurden, behaupten Eingeweihte, dass die Großhirnrinde nicht der Sitz des menschlichen Bewusstseins ist. Vielleicht hängt die Tatsache, ein denkendes Wesen zu sein, nicht so sehr davon ab, woraus unsere Teile bestehen, sondern vielmehr davon, wie die Teile angeordnet sind. Auf der subatomaren Ebene existiert kein Unterschied zwischen einem Delfin und einem Stück Holz. Entscheidend ist nur, wie groß die Menge der Informationen ist. Diese „Information“ – eine Software, die weniger zu sein scheint als Materie oder Energie – ist genau genommen ein „Nichts“.
Wenn das stimmt, dann ist das, was wir als Realität wahrnehmen, im Grunde nichts anderes als die totale Illusion. Ein Traum. Und meine Texte werden vom „Nichts“ geträumt. Puh! Jetzt fühle ich mich wie ein kleines Krabbeltierchen, das nur zwei Dimensionen begreift und auf eine Billardkugel gesetzt wird. Ich marschiere los, immer geradeaus, und komme, nachdem ich die dreidimensionale Kugel umrundet habe, verzweifelt doch nur wieder dort an, wo ich vor langer Zeit losmarschiert bin.
Und stehe da. Enttäuscht wie Bert Brecht: „Und seh‘ betroffen / den Vorhang zu und alle Fragen offen.“

 

Georg Biron
Geb.1958 in Wien;. Schriftsteller, Regisseur, Schauspieler; 32 Bücher veröffentlicht; diverse Preise und Stipendien erhalten.
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* Es sind immer alle Geschlechter gemeint.