93 / Wirklich/Unwirklich / Prosa / Gudrun Breyer: Frisch gepresst - Spremuta d‘arancia

Am dritten Tag kann die Stadt ihren wahren Charakter nicht länger verbergen: Der Wind kommt aus allen Richtungen, das Meer kocht. Die Häuser in den Gassen rücken eng zusammen. Der lose Putz krallt sich an die schwarzen Graffitis: Ziffern, Zahlen, einzelne Befehle. Ich verstehe ihre Bedeutung nicht, aber ihr Klang schlüpft mir locker von den Lippen. Alles hier ist leichtfüßig, selbst der Wind, der sich seinen Weg um Ecken und Bögen bahnt.

Wie ihr Espresso Nero kommt die Stadt daher: unscheinbar, unverdünnt und intensiv. Sie gibt sich kleiner als sie ist. Ich steige Stufen und Kopfsteinpflaster hoch und besehe mir ihr wahres Ich von oben, blicke auf die Ziegelschuppen eines schlafenden Drachens. Er schmiegt sich ans Ufer. Ich präge mir das Stechen der Sonnenstrahlen ein, die Ruhe und Weite, bin eine Möwe, gleite, suche Futter, tauche erneut ein in die Eingeweide des Drachens, in sein konstantes Rumoren. Ich passiere am Straßenrand aufgefädelte Vespas. Mit jedem Schritt färbt die Stadt stärker auf mich ab. Bald bin ich ein Randstein, ein Straßenschild, ein Türknauf.

Ich trinke Kaffee und Stadt in einem Zug, atme geröstete Kaffeebohnen, frisch gepressten Orangensaft, Brioche und Meer, zahle überall zu viel, weil auf meiner Stirn „Fremde“ steht. Wie die Orange werde auch ich gepresst, es schmerzt nur kurz. Meine Neugier sieht einem Mann beim Einparken zu. Wie alle Einheimischen touchiert er zuerst das vordere Fahrzeug, dann das hintere. Die Möwen ahmen das metallene Geräusch nach.

Nachts brodelt die Stadt. Der Bass dringt durch die Wände, die Stimmen rekeln sich in der Finsternis. Reifen quietschen, Stoßstangen berühren einander zum Abschied, Gläser klirren. Morgens suche ich nach Zeichen. Meine Schritte hallen über das makellose Pflaster. Die sorgsam aufgestellten Barhocker und blank geschrubbten Tische betrachten mich stumm. Abgespannte Sonnenschirme aus hellem Leinen liegen vor den Fassaden. Ein Sperling hüpft darauf herum, vergewissert sich, dass kein Leben darin steckt.

Die Stadt verabschiedet sich in dunklem Wolkenkleid. Unprätentiös. Eindrucksvoll. Sie sitzt an der Hafenmole und beobachtet, wie ich mich mit meinen Koffern zum Busbahnhof schleppe. Die Luft ist dicht wie Pelz und klebt an mir. Die Stadt kommt mir aus allen Poren, als sollte nichts von ihr in mir bleiben, sobald ich ihr den Rücken zugekehrt habe.

Der Busbahnhof ist ein Walfischmagen, finster echot er das Murmeln der Wartenden. Von Sonne, Hitze, Leben jenseits seiner Mauern weiß er nichts. Es gibt nur ihn und die grellen Zeichen auf dem Monitor. Der Weg aus der Stadt führt in Serpentinen bergauf. Ich schließe die Augen, sehe das Ziegelschuppengesicht der Stadt, Kreuzschiffe an der Mole, den Leuchtturm. Schmecke Kaffee und frisch gepressten Orangensaft. Süß, intensiv und leicht bitter.

Der Bus taucht in eine Regenwolke. Die Farben der Stadt verschwimmen. Ihre Klänge gehen unter im Donnergrollen. Die Klimaanlage greift mir an die Schläfen und drückt mich in einen dumpfen Traum. Die Reisenden um mich dämmern ebenfalls, hören Musik, schauen Videos, arbeiten. Der Mann neben mir betrachtet seine weißen Handflächen und den Übergang zu den dunklen Handrücken. Sein Handy hat er zum Laden angesteckt, seine Vergangenheit und Zukunft in einem Rucksack im Gepäckfach über unseren Köpfen verstaut.

Ich wandere durch die nasse Landschaft. Grashalme reichen mir bis zu den Hüften. Ich greife mit den Händen nach Blüten und Ähren, wische mir die nassen Handflächen in meine Jeans, folge einem Sperber über eine Anhöhe. An der Grenze habe ich die Stadt bereits vergessen. Ich bin dichte Wälder und grüne Wiesen, meine Gedanken rinnen an mir herab, wie die Regentropfen am Busfenster. Sie würden Spuren hinterlassen, drängten die nächsten nicht nach.

Die Grenzbeamten betreten zu dritt den Bus, teilen sich auf. Ich zeige meinen Pass. Er trägt die richtige Farbe, das richtige Wappen, interessiert nicht. Der Mann neben mir händigt einen Ausdruck aus. Ich muss aufstehen, Platz machen. Er wird in Handschellen abgeführt. Seine dunkle Gestalt folgt den Beamten in das Grenzgebäude. Der Regen nimmt zu. Ich setzte mich quer zur Fahrrichtung, lege die Beine über beide Sitze. Die Sitzflächen sind warm.

Die Landschaft vor dem Fenster ist optimiert, die Grünflächen frisch gemäht, die Wege ausgeschildert, alles nach Nutzen geordnet. Nichts, woran ich meine Gefühle festmachen kann. Im Dämmerlicht sehe ich das Gesicht des Mannes, seine weißen Schuhsohlen und sauber manikürten Hände. Sehe Orangen und die Presse, die sie lautlos ausquetscht. Ich greife nach dem Glas, taste Leere. Ich bin mir nicht sicher, wo ich bin, woher ich komme.
Das Grenzland liegt hinter mir, vermutlich.

 

Gudrun Breyer
Geb. 1975, lebt in St. Pölten und arbeitet als Erwachsenenbildnerin in einer Kompetenzanerkennungsstelle in Wien. Schreibpädagogin. Etliche Lesungen und Veröffentlichungen, Beiträge in Anthologien.