93 / Wirklich/Unwirklich / Prosa / Manfred Chobot: Gedränge im Lunatic

Dass die Erde eine Scheibe ist, weiß jeder und jede, sogar Kindern ist diese Tatsache bekannt. Natürlich ist auch der Mond scheibenförmig. Was lag folglich näher, dass unser Herr im Himmel sich auf dem Mond niederließ. Während der Mond zuverlässig ist, sind Wolken gnadenlos unbeständig, sie sausen umher, und Gott müsste von da nach dort vazieren, bei wolkenlosem Himmel wäre ER obdachlos, was Gott unter allen Umständen vermeiden wollte. Niemand, nicht einmal Gott, mag auf Wolken angewiesen sein.
Dagegen ist der Mond allezeit vorhanden, selbst dann, wenn er sich unsichtbar darstellt. Neumond zeigt an, dass Gott nicht daheim, sondern verreist ist. Sobald der Mond zunimmt, befindet sich Gott wieder auf dem Heimweg oder ER erwartet Besuch. Wenn er abnimmt, bereitet ER sich auf eine Rundreise vor. Bei Vollmond sind sämtliche Heiligen anwesend und feiern eine ganze Woche. Diese verschiedenartigen Modifikationen des Mondes beweisen, dass er nicht kugelförmig, sondern flach ist. Der Mann im Mond ist also niemand anders als Gott höchstpersönlich. Allerdings existiert ER längst nicht mehr allein, gleichwohl hat ER sich nach der Geburt seines Sohnes auf eine Dreieinigkeit eingelassen. Tres faciunt collegium. Mitunter geistert der Geist umher, unterstützt diverse Gespenster, dann und wann verwandelt ēR sich in eine Friedenstaube, zumeist verhält ēR sich aber unauffällig, seit ēR anno dazumal über Maria von Nazareth gekommen ist.
Wie auf der Erdscheibe, wo dereinst mehrere Generationen einer Familie unter einem Dach lebten, residiert die Dreieinigkeit auf der Mondscheibe, wobei der Vergleich mit einer Wohngemeinschaft trefflicher scheint.
In der göttlichen WG sitzt Jesus zur Rechten Gottes, wodurch sich eindeutig erweist, dass Gott Gliedmaßen besitzt, zumal er uns Menschen nach seinem Ebenbild erschaffen hat. Zu SEINER Linken sitzt Maria, zumal sich der Heilige Geist – manche nennen ihn den göttliche Wind oder den Heiligen Atem Gottes – unstet herumtreibt. Das Mondschaf, ein voll integrierter Zuwanderer vom Morgenstern, unterstellt dem Heiligen Geist weiblich zu sein, was nie und nimmer zutrifft, denn zwei weibliche Wesen bringen ohne männliches Eingreifen kein lebendes Wesen zustande, am allerwenigsten einen Sohn Gottes. Aus Altersgründen oder weil er Maria mit seiner Ausstrahlung nicht gefährden wollte oder wegen eines nachlässigen Gebrauchs war SEIN Fortpflanzungsorgan nicht erfolgreich einsetzbar, deshalb betraute ER den Heiligen Geist, mit Maria einen Sohn zu zeugen.
Indem Gott die Menschheit erschaffen hat, ist ER unser aller UrAhn, besteht demzufolge aus Uran, und zwar aus 238U und 235U. Bedingt durch seine radioaktive Ausstrahlung leuchtet Gott vom Mond bis auf die Erde und weil Uran ein dichtes Metall ist, glänzt ER auf irdischen Darstellungen silberweiß, genauso wie SEIN Mondpalast.
238U und 235U stammen aus der Entstehungszeit des Sonnensystems, als sich Gott zeitgleich selbst hat entstehen lassen. Aufgrund seiner Halbwertszeit von 4,468 Milliarden Jahren lässt sich das Alter Gottes exakt bestimmen.
238U ist wie die anderen natürlichen Isotope (234U und 235U) ein Alphastrahler, eine ionisierende Strahlung, die das radioaktive Nuklid aussendet. Ein α-Zerfall tritt nur in Nukliden mit hoher Massenzahl auf. – Gott zerfällt also kontinuierlich – allerdings sehr, sehr langsam. Wir können uns demzufolge beruhigt auf IHN verlassen.
Energiemäßig ist Gott autark, den Palastgenossen (♀&♂) und Mietsleuten, all den abertausenden Seligen und Heiligen, fehlt hingegen diese Befähigung. Durch einen vierzigzylindrigen Elektromotor, angetrieben von Kugelblitzen, die in den Zylindern verdichtet werden, wird die Heilige Sippe mit Energie versorgt. Um Langeweile im Mondpalast zielstrebig zu unterminieren, wird zum Zeitvertreib gezänkelt, etwa dann, wenn der Selige Alanus de Rupe darauf beharrt, dass Maria seine Verlobte ist.
Alain de la Roche, wie er vom Mondschaf gerufen wird, beruft sich dann lautstark darauf, dass er, Alanus, der Rosenkranz-Frömmigkeit einen gewaltigen Aufschwung verliehen hat.
Nachdem die Geschäftsführer Gottes 1870 unfehlbar wurden, kam es zu Zwistigkeiten in SEINER irdischen Zentralanstalt und zu einem Exodus – die Altkatholiken gründeten eine neue Filiale. Zumal wir selten den Mond mit einem Fernrohr betrachten, dauerte es bis 1950, um endlich in Kenntnis gesetzt zu werden, dass sich Maria leibhaftig, nämlich körperlich unversehrt, auf dem Mond aufhält. Damit werden sämtliche Mumifizierungstechniken der Ägypter in den Mondschatten gestellt. Warum Gott sich nicht wesentlich früher in die Sache eingemischt hat, werden wir wohl nie enträtseln. Wann und wie Maria den Mond erreichte, wissen wir bislang leider noch nicht. Pius XII. sprach jedenfalls:
„Wir verkünden, erklären und definieren es als ein von Gott geoffenbartes Dogma, dass die Unbefleckte, allzeit jungfräuliche Gottesmutter Maria, nach Ablauf ihres irdischen Lebens mit Leib und Seele in die himmlische Herrlichkeit aufgenommen wurde.“
Ziemlich genau kennen wir die Mitglieder der Heiligen Sippe. Sie logieren in einem eigenen Trakt des Mondpalasts, dem sogenannten Zion-Flügel. Versorgt werden sie von seligen Seelen. Besonders hofiert werden Großmutter Anna und Großvater Joachim. Mit ihrer Aufgabe, Mütter und Väter sowie Großmütter und Großväter zu beschützen, sind sie voll ausgelastet, oftmals überlastet. Sobald sie schlafen, haben Mütter und Väter bezüglich Schutzes eben Pech, was auf der Erdscheibe mitunter passiert.
Beim Essen und Trinken wollen Anna und Joachim nicht behelligt werden.
Elisabeth ist die Mutter vom Täufer-Johannes und die Cousine von Maria; Vater ist der Priester Zacharias. Er musste erst vom Erzengel Gabriel darauf hingewiesen werden, dass Elisabeth bald schwanger sein werde, seinem Einwand, Elisabeth sei unfruchtbar und außerdem zu alt, widersprach Gabriel. Was zur Folge hatte, dass Zacharias verstummte und seinen priesterlichen Segen der Gemeinde nicht mehr erteilen konnte, erst bei der Geburt von Johannes fand er seine Stimme wieder. Einer der zahlreichen Vettern des Gottessohns war der Apostel Simon Zelotes, der sich in den Kopf gesetzt hatte, die römischen Besatzer zu vertreiben, was dazu führte, dass er zu Lebzeiten der Länge nach zersägt wurde. Inzwischen kümmert er sich um Färber, Gerber, Holzfäller und Lederarbeiter. Jakobus, der ältere Bruder des Gottessohns, stand wie alle älteren Geschwister einer Berühmtheit im Schatten und litt darunter, bloß als Anhängsel wahrgenommen zu werden. Sein Vorteil war jedoch, dass er die Schwächen des Jüngeren genau kannte.
Sämtliche Kommunarden des Zion-Flügels sind miteinander versippt und verschwägert, daher zählen zur Heiligen Sippe weitere Brüder, Halbbrüder und Vettern des Gottessohns.
Hinzu kommen diverse Ehemänner, Schwiegersöhne, Töchter und Enkel. Eine besondere Stellung gebührt Josef von Nazareth. Zwar war der Ziehvater oder Stiefvater des Gottessohns kein Zimmermann, zumal es in seiner Lebensumgebung an dem notwendigen Holz mangelte, um daraus Holzhäuser zu bauen, sodass üblich Steinhäuser waren. Josef war Bauarbeiter, Bauhandwerker, womöglich Baupolier. Das Mondschaf beharrt darauf, dass Josef Listen von Maurer-Partien ins Mond-Ausgedinge mitnahm, damit illegale Pfuscher und Leiharbeiter nicht bestraft würden. „Wobei er nicht bedachte, dass in diesen Fällen Verjährung eintritt.“ Dereinst, mit Maria verlobt, erschien ihm ein Engel im Traum und befahl ihm, die schwangere Maria zu ehelichen. Da es niemand wagt, einem Engel zu widersprechen, handelte Josef, wie ihm angeordnet wurde.
Für Maria und Jesus gilt Anwesenheitspflicht im Mondpalast. Stur hocken sie zur Linken beziehungsweise Rechten Gottes, damit sie umgehend greifbar sind, wenn Gott sie benötigt.
Nachdem Gott die ersten Einzeller kreiert hatte, ernährten sich diese Tiere, indem sie Nahrung durch ihre Haut aufnahmen.
Wie der Zufall im Universum spielt – anno dazumal trieb sich das Mondschaf noch auf dem Morgenstern herum – lief IHM eine griechische Gottheit über den Weg, dessen Name auf altgriechisch Himmel bedeutet. „ICH kenne Dich, Du bist UrAnus, Du bringst MICH auf eine Idee: ICH werde meinen Einzellern einen Darm samt Anus einbauen.“ Und weil ER grad am Evolutionswerk fuhrwerkte, fügte ER eine Mundöffnung hinzu. Derart wurde die Haut der Einzeller nachhaltig entlastet. „Stell Dir vor“, posaunt das Mondschaf, „ich bin Kaiser Karl I. begegnet, er ist Selig, nachdem er – bereits in unser Kollektiv aufgenommen – das Wunder vollbrachte, einer argentinischen Nonne die Krampfadern zu entfernen.“
Das Mondschaf ist das am besten informierte Wesen auf der Mondscheibe. „Wegen der in letzter Zeit rapide angewachsenen Anzahl von Seligen und Heiligen –heutzutage muss ein Heiliger nicht mehr zwingend ein Martyrium erleiden – müssen wir die himmlische Herrlichkeit erweitern, Neuankömmlinge können wir doch nicht ewig in Zelten beherbergen. Bei der Entfaltung des Selig-Heilig-Komplexes hat sich Josef besonders verdienstvoll hervorgetan, immerhin ist er ein Mann vom Fach.“
Seit halb-ewig herrscht Gedränge im Lunatic, wo sich alle paradiesischen Seelen tummeln. „Jene, die sich zu Tode hungern, um schneller zum Gottessohn zu gelangen, werden nicht aufgenommen.“ Das Mondschaf muss es schließlich wissen. Unvermittelt überrascht es mit einer außergewöhnlichen Verkündung: „Eines vollmondigen Tages besann ER sich darauf, dass all jene Seelen, die vor der Geburt seines Sohnes gestorben waren, nicht zu uns gelangen konnten, weil sie auf den Sündenbock angewiesen waren, der mit allen Sünden der Menschen in die Wüste geschickt wurde – ein wirkungsloses Ritual. SEIN Sohn brachte die Erlösung, denn seine irdische Aufgabe war die Sündenvergebung. Bereits der Engel hatte Josef im Traum vorhergesagt, dass das Kind seiner Verlobten das Volk von Sünden erlösen werde. Nunmehr durchforsten wir Archive, in denen sich etwas über das Leben jener Menschen ergründen lässt. Allerdings sind die Aufzeichnungen aus schriftfernen Tagen kaum zu entschlüsseln. Wenn wir diese Heidenarbeit erledigt haben, sind wir gezwungen, auf dem Planeten Uranus eine Zweigstelle vom Lunatic zu installieren.“

 

Manfred Chobot
Geb. 1947 in Wien, lebt in Ottakring, Illmitz und Corralejo (Fuerteventura). Bücher zuletzt: "Das Hortschie-Tier und die Lurex-Frau". Hyper-Texte, mit Zeichnungen von Walter Schmögner (Oberwart: lex liszt 2022); "Hawaiʻi. Mythen und Götter" (Klagenfurt/Celovec: Wieser 2022); "In 116 Tagen um die Welt – Ein Logbuch" (Wien: Löcker 2019); "Franz – Eine Karriere", Erzählungen, mit einem Vorwort von Ulf Birbaumer (Wien: Löcker 2017).