93 / Wirklich/Unwirklich / Prosa / Nora Beiteke: Nicht in diesem Leben / Tian

Die Quantenphysik hatte uns viele neue Möglichkeiten eröffnet. Noch konnten wir nicht in Paralleluniversen reisen. Aber mit Hilfe von Zielspiegeln konnten wir Einblicke in die parallelen Existenzen unserer gespiegelten Ichs erhalten. Was in den 2000ern die Persönlichkeitstests waren, waren nun die Parallel-Ich-Coachings. Die per Zielspiegel ermittelten Daten über unsere parallelen Existenzen wurden von künstlicher Existenz aufbereitet, zu einem der wahrscheinlichsten Pfade zur inneren Zufriedenheit, zu Erfolg in der Karriere und persönlichem Glück. In einer Art 3-D-Video aus einer der Parallelwelten wurde dieser wahrscheinlichste Pfad visualisiert.

Oft wurden solche Analysen, ähnlich wie die Persönlichkeitsanalysen und Gesprächsrunden, von ganzen Teams im Unternehmen gebucht. Es war die Mischung aus Erkenntnis über Fähigkeiten und Amüsement, die dazu beitrug. Einige hielten nichts vom Zielspiegeln, andere schworen darauf.
Als Beraterin für künstliche Intelligenz war ich seit einigen Monaten Teil dieses Fachteams meines Unternehmens. Ich war eine der Menschen, die neben einem großen technischen
Verständnis auch eine ausgeprägte Intuition, ja, einen Hang zu Vorahnungen mitbrachten. Somit ging ich mit einem etwas mulmigen Gefühl in unsere Teamrunde zur Zielspiegel-Analyse.

Der Grund war mein Teamleiter, Tian. Seit ich ihn das erste Mal gesehen hatte, verfolgte er mich. Spukte in meinem Kopf wie ein unbequemer Geist. Immer wieder sah ich mich mit meiner Hand durch seine Haare fahren, seine Augenbrauen mit meinen Fingern nachzeichnen. Er reagierte auf meine Annäherungsversuche, wie auf einen Witz zu einer tatsächlich existierenden Briefmarkensammlung in unserer Bibliothek, die ich ihm zeigen wollte, mit kalter Ablehnung. Und doch suchte er immer wieder unerwartet meine Nähe, wollte unbedingt mit mir Kickern. Natürlich würde nie etwas zwischen uns laufen, denn er war verheiratet.

Zu Beginn der Runde sollten wir uns selbst im Geheimen einschätzen, taten unsere Gedanken in einen verschlossenen Umschlag. Witze flogen zwischen mir und meinen netten Kollegen, mit denen ich mich blendend verstand. Die Analysen liefen als 3-D Videos auf dem im Raum stehenden Rund-Projektor. Mein Kollege Thomas also, wäre ein versierter Handwerker. Wie passend, dass auch bei uns sein Themenfeld eine bestimmte Mechanik umfasste. Wir sahen ihn als Schreiner in der anderen, kondensierten Ideal-Welt. Irma war eine passionierte Lehrerin. Ich wusste, dass sie auf eine interne Trainer-Rolle wechseln wollte. Es war schön ihr zuzusehen, wie sie im Video die Kinder unterrichtete. Es wurde geschmunzelt und gelacht in der Runde. Der Vorführer zuckte dann kurz die Schultern. „Ich zeige so etwas nicht oft in solchen Runden, aber es war so prägnant – ich wollte es nicht ignorieren.“ Mir wurde heißkalt.

Der Clip dauerte keine 3 Minuten:

Ich öffnete die schwere alte Holztür und trat in die rustikale Küche. Mein Haar durchsetzt von bunten Strähnen, meine Fingernägel in verschiedensten bunten Farben, ein weites Kleid. Und das Strahlen auf meinem Gesicht. „Tian!“ Er drehte sich um, das Haar deutlich länger, die Kleidung deutlich legerer, die Züge in seinem Gesicht weicher. „Endlich, meine Fee!“ Er zog mich zu sich, küsste mich lang und innig. Dann fuhr ich durch sein Haar und antwortete seinem erwartungsvollen Blick. „Die Lesung war ein voller Erfolg! Ich wurde für das Hauptprogramm im Thalia angefragt!“ Er lachte leise. „Ich habe nichts anderes erwartet.“ Ein Schnitt, ich liege im Nachthemd in seinen Armen. „Was war denn?“ sein Blick irritiert. „Ich habe von uns geträumt. Wir waren Kollegen in einem Büro. Ich habe versucht dich zu verführen, wollte dir eine Briefmarkensammlung zeigen. Aber du hast mich nur kalt angeschaut und abgelehnt.“ Er schüttelte den Kopf. „Ich würde mir immer deine Briefmarken-Sammlung zeigen lassen meine Fee.“ Ich schaute nachdenklich. „Du konntest wirklich nicht. Es war dir nicht möglich. Es ist so traurig zu denken, dass es ein Universum gibt, in dem wir nicht zusammen sind.“ Er musterte mich. „Der Tian in dem Universum ist ein Idiot, wenn er nicht sofort sieht, dass du die Frau seines Lebens bist.“ Ich schüttelte den Kopf. „Es ist zu spät.“ Hier endete der Clip.
Betretene Stille im Raum. Er saß zwei Reihen vor mir, mit dem Rücken zu mir. Der Vorführer versuchte die Stimmung einzufangen. „Nun, stehen wir doch mal alle auf, lüften, und tauschen uns erst mal locker zum Gesehenen aus.“ Es kam Bewegung in die Truppe. Ich ging zu Thomas, mit dem ich mich wirklich gut verstand. „Also, das war nun wirklich unerwartet“ sagte Thomas mir mit leicht schockiertem Blick. Wortlos hielt ich ihm meinen verschlossenen Zielbild-Umschlag hin. Er öffnete ihn, und seine Augen weiteten sich: Tian und ich sind ein Paar. Ich bin eine Künstlerin. „Du wusstest das?“

Der Vorführer trat zu uns. „Nun, lass uns die Situation am besten direkt auflösen. Ich weiß, es ist etwas unangenehm, aber dieser Bezug zu unserem Universum war so verrückt – ich konnte das nicht ungesehen lassen.“ Er gab mir mit Gesten zu verstehen, zur Seite zu treten, und winkte Tian zu sich heran. Ich konnte ihm nicht ins Gesicht sehen, hörte ihn dann. „Na, das ist ja eine ziemlich wilde Geschichte. Ich weiß ja nicht, was man von so etwas halten soll.“ Ich hatte auch das Kommen sehen. „Nicht in diesem Leben, Tian, nicht wahr?“ ich hob meinen Blick und schaute in seine braun-grünen Augen. „Aber es war trotzdem schön anzusehen“ fügte ich mit einem traurigen Lächeln hinzu. Er wirkte nach wie vor schwer irritiert, wie jemand, der krampfhaft versucht einer Wahrheit aus dem Weg zu gehen. „Naja. Kommt ja manchmal vor, solche Geschichten bei Zielspiegel-Analysen. Wollen wir mal nicht überbewerten.“ Der Vorführer blickte uns an. „Solange ihr nicht wirklich über eine Briefmarken-Sammlung gesprochen habt.“ Tian wurde blass. „Kommt es häufiger vor, dass Menschen in anderen Universen Bezug auf das unsere nehmen und darüber reden?“ Er ging darauf ein. „Nein, das ist sehr selten. Deshalb habe ich mich auch genötigt gefühlt, das zu zeigen. Aber bei Liebesgeschichten gehen die Meinungen über den Erfolg in dieser Welt im Gegensatz zu Karriere-Tipps ja doch recht auseinander.“ Auch ihm wurde es unangenehm, er wandte sich Irma zu. Nach einem kurzen Zögern traten Tian und ich auseinander. Ich ahnte, dass er mich zukünftig meiden würde wie der Teufel das Weihwasser. Nicht in diesem Leben.

 

Nora Beiteke
Ist ein schreibender Mensch, nebenberuflich als Autorin von Kurzgeschichten, hauptberuflich als Autorin von Software-Konzepten. Die 37jährige Wahlhamburgerin verarbeitet in ihren Texten eigene Schicksalsschläge, Abseitiges und ihre Erfahrung; Veröffentlichungen in Anthologien.