93 / Wirklich/Unwirklich / Prosa / Oliver Fahn: Kindlichkeit

All meine Appelle, du sollst bitte aufstehen, verhallen zwischen den Wänden deines Zimmers, in die ich sie hineinplärre. Rings um dich aufgebahrt lagern Teddys von Steiff, gebettet sind dort auch die Kuschelbären von IKEA. Neben dir auf deiner Matratze ist all das Gerümpel.

Obwohl ich dir schon so oft gesagt habe, ohne all die Freundschaftsbänder an deinen Unterarmen sähest du manierlich aus, kannst du nicht von ihnen lassen. Überladen vom Bänderschnickschnack liegst du also im Zangengriff der Plüschtiere. Da meine Rufe, egal wie laut sie sind, völlig ins Leere verlaufen, fällt mir nichts Besseres ein und so rüttle ich dich an deiner linken Schulter, schüttle dich an deinen angezogenen Knien. All meine Handlungen kosten dich, wenn überhaupt, ein müdes Anheben deiner Mundwinkel. Es unterstreicht deine Schläfrigkeit, belegt deine mangelnde Fähigkeit, meiner Aufforderung zu folgen, nun endlich aus deinem Bett zu kriechen. In welche Richtung ich dich auch drehe und wende, so sehr ich mich bemühe, dass du den Tag doch noch wach erleben wirst, alles ist vergebens. Du kauerst da fast regungslos, einem Embryo ähnlich, wie ein Siebenschläfer in seinem Winterquartier.

Nicht einmal die Aussicht auf ein nachmittägliches Stück Prinzregententorte kann dich locken, deine Kissenberge zu verlassen. Die Sorge um deine Stofftiere, die den lieben langen Tag gleichermaßen leblos wie du in deinem Bett herumlungern, ist dir zu vordringlich, um ihre Obhut auch bloß vorübergehend aufzugeben.

Und dann siehst du dich um, siehst mich plötzlich an, als hättest du eine Reise hinter dich gebracht, wärst von einem fernen Planeten namens Vergangenheit in die Gegenwart gestürzt. Ein neuerlicher Schrei erstickt sogleich auf meinen Lippen, denn du scheinst jetzt in gemäßigter Lautstärke erreichbar. Als würdest du aufmerken und erkennen, dass es vor Ort Gegenständliches gibt, redest du mich von dir aus an. Allerdings nennst du mich Egon, so hat nämlich dein Vater geheißen. Dabei hast du übersehen, dass ich dein Enkel bin. Derjenige, der versucht, dich aus dem Bette zu befördern. Die Pfleger, unter Zeitdruck, schaffen es nicht, dich vom Aufstehen zu überzeugen.

Auch deine Tage sind gemacht, sie außerhalb deines Zimmers zu verbringen. Wie viele Tage du noch erleben wirst, ist ohnehin unklar.

Als du in einem lichten Moment aufstehst, deinen Rollator nimmst und dich in meiner Begleitung in den Speisesaal aufmachst, fragst du mich mit einem verzweifelten Lächeln, ob ich es bedauernswert fände, dass du so ein altes Kind geworden bist. Ich finde es wahrlich bedauerlich, was das Leben mit einem Menschen macht. Und dennoch schweige ich. Das Bücherregal, an dem wir vorbeikommen, bietet meinen Blicken Zuflucht. Es sind diese Momente deines späten Lebens, denen ich ausweichen muss, weil die Wahrheit, wie ich über deine fortgeschrittene Krankheit denke, Auge in Auge, für dich zu hart wäre und mir selber unerträglich.

 

Oliver Fahn
Geb. 1980, Heilerziehungspfleger, lebt in Pfaffenhofen a.d.Ilm, hat in Kulturzeitschriften und Anthologien veröffentlicht.