94 / Herz&Haut / Prosa / Friederike Zelesko: Unter die Haut

Und es begab sich, dass der Turm der Kirche in der Abendsonne errötete. Überall verpackten silberne Altweibersommerfäden das Bild der Stadt und es herrschte ein mildes Licht. In der Kirche herrschte die Stimme des Dichters. Er las die Geschichte Das Rätsel. Aus seinem neuen Werk über Maria Magdalena.
Der Dichter ließ mit kraftvoller Stimme seine Worte durch die Kirche wehen. Nicht jedes Wort stieg in die Höhe zu den Zuhörern, die unten auf den Bänken keinen Platz mehr fanden und deshalb auf der Empore saßen. Obwohl die Zuhörer von oben eine gute Sicht auf den Altarraum hatten, wo der Dichter vor dem Mikrofon saß, ging ein Echo durch den Kirchenraum und verzerrte die Worte. Der Dichter konnte nichts dafür, dass sich seine Stimme auf dem langen Weg nach oben zu einem Lautknäuel verwirrte. Die oberen Lautsprecher waren plötzlich verstummt und niemand hatte den Mut die Lesung aus dem Buch der Maria Magdalena zu unterbrechen und zu rufen: Wir können nichts verstehen. Die Kirchenbänke waren bis auf den letzten Platz besetzt. Von oben sahen sie aus wie Flickenteppiche, bunt durchwirkt mit Noppen, die sich als Köpfe der Zuhörer entpuppten. Der Mittelgang, die Seitengänge, auch der Gang, der die letzten Bankreihen waagrecht durchbrach, waren besetzt. Ich hätte auch auf dem kalten Steinboden der Kirche gesessen, um das Wort des Dichters zu hören. Aber dazu war es jetzt zu spät. Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben. Ich fühlte mich wirklich bestraft, denn ich war mit der Bahn angereist, um dem Dichter zu begegnen. Ihn, von dem ich schon so viel gelesen und gehört hatte. Eine große Menschenmenge war gekommen und ich erkämpfte mir nur mehr einen Platz auf der Empore. Und nun hörte ich fast nichts. Ich legte meine Hand hinters Ohr, formte es zu einem Trichter. So ein Trichter funktioniert bei schwerhörigen Menschen schon seit alters her. Aber auch da verstand ich nur einzelne Worte wie: Sonnenaufgang oder überirdisch.
Statt eines Sonnenaufgangs floss der glühende Widerschein des Sonnenuntergangs irdisch in das Kirchenschiff. Eine Wendeltreppe schraubte sich die Hochkanzel hinauf. Es war eine Predigtkanzel in schwindelerregender Höhe von fünf Metern mit einem Geländer aus poliertem Milchglas, das den Kanzelplatz in einer schönen, weichen Rundung einfasste. Die Kanzel wirkte zurückgenommen. Nicht sie, sondern das gesprochene Wort sollte die Aufmerksamkeit erwecken, unter die Haut gehen. Das gesprochene Wort einer Frau, nicht die Worte der Nachfolger des Herrn, die diese verdrehten und sich an ihre Macht klammerten, sollte gehört werden. Das achte Gebot sagte: Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten. Wie um dies zu unterstreichen, entdeckte ich eingravierte Schriftzüge auf dem Geländer. Manches konnte ich entziffern, manches war mir fremd. Nicht mein Ohr, sondern mein Auge war jetzt das Sinnesorgan, das umständehalber und fast verzweifelt auf Entdeckungsreise ging.
DIES HIER IST EINE OFFENE KIRCHE stand in großen Lettern gleich am Eingang und sie luden mich ein, auch in Zukunft an diesem frommen Ort im hektischen Treiben der Stadt über die ans Herz gehende Herabsetzung des weiblichen Geschlechts durch die Jahrhunderte nachzudenken. In dem großen, mit hellem Holz gestalteten Kirchenraum lässt sich Selbstbewusstsein von Frauen in der Stille üben. Vielleicht ist dies aber auch ein Irrtum und das Selbstbewusstsein der Frauen müsste auf den Straßen der Stadt laut schreien. Meine Aufmerksamkeit bahnte sich wieder den Weg zur Kanzel. Ich glaubte hebräische oder aramäische Schriftzüge zu erkennen, die ich nicht lesen konnte. So kamen die Übersetzer der Heiligen Schrift ins Spiel. Sie konnten etwas dafür, dass sich die Geschichte der Frau aus Magdala von der Wahrheit immer weiter entfernte, über viele Hürden hinweg, in Sprachen wie aramäisch, koptisch, griechisch, syrisch, lateinisch etc. und später auch deutsch. Deutsch ist meine Muttersprache, der ich vertraue, und ich konnte einfach nicht glauben, dass Worte einer Willkür zum Opfer fallen könnten.
Die Turmspitze der Kirche zitterte erregt. Der Abendwind berührte die von der untergehenden Sonne rosig gefärbte Haut der Kirchenfenster. Ihre Glut versank im Schoß der Dächer der Stadt unter denen die Bewohner ihr Abendbrot brachen. Die Reihen der Zuhörer der Lesung aus dem Buch Maria Magdalena bebten ebenfalls vor Erregung. Sie wurden an ein barockes Bild erinnert. Ich hörte den Namen des niederländischen Malers und das Gemälde erschien vor meinem inneren Auge.
Der Maler zeigt die Frau zu Füßen des Herrn, so wie sich Braut und Bräutigam nach einer Hochzeit begegnen, fast nackt, und in großer Schönheit. Die Hüfte des Herrn umschlingt das purpurne Tuch der Könige. Die Frau, in weißes Linnen gehüllt, offenbart ihre Unschuld. Züchtig kreuzt sie die Arme über ihre Blöße, bändigt gleichzeitig die Fülle ihres Haares. Durch den Spalt von Zeigefinger und Mittelfinger der linken Hand lugt wie zufällig eine rosige Brustspitze hervor.
Der Herr vergibt für alle Zeit, denn die Liebe ist die größte Macht. So sprach der Dichter und seine letzten Worte stiegen auf die Empore und erreichten endlich den Platz, wo ich saß. Die Botschaft der Frau aus Magdala war mächtig geworden.
Auch nach der Lesung kam ich nicht mehr in die Nähe des Dichters. Zu lange brauchte ich für den Abstieg. Er war bereits umringt von den namhaften Vätern der Stadt. Sie schüttelten lange seine Hände. Im Foyer der Kirche wurde Wein gereicht und salziges Brot. Auf dem Büchertisch lag das Werk des Dichters. An diesem Abend wurde es zum Vorzugspreis angeboten und wer nicht in Eile war, konnte es sich signieren lassen.

 

Friederike Zelesko
Geb. in NÖ. Von 1962 - 1968 in London u. a. als Übersetzerin tätig. Arbeit als Hochschulsekretärin an der Bergischen Universität Wuppertal im Fachbereich Physik. Schreibt Lyrik und Prosa. Veröffentlichungen in Literaturzeitschriften, Anthologien und im Funk (WDR) seit 1984. Heute lebt sie wieder in Böheimkirchen, NÖ.