94 / Herz&Haut / Prosa / Friedrich Michael Steger: Vaporub. Unter die Haut

Eine Packung Aspirin-Complex, kannenweise heißer Tee, das Mobiltelefon auf Flugmodus, rein unter die Tuchent und endlich einmal wieder richtig ausschlafen. Das wird reichen. Den ganzen Tag über fühle ich mich heute schon so – na ja. Leichtes Fieber? Möglich. Auf dem Weg von der Arbeit, als ich, heftig gedrängt von einer Menschentraube dicht hinter mir, aus dem Bus in den Regen hinausspringe, spüre ich leichten Schwindel. Ein Kratzen im Hals. Watte im Hirn. Alles im Crescendo. Die Nasskälte geht mir endnovembrig durch alle Textilschichten. Bis an die Haut. Dennoch scheint jede Pore am Körper zu glühen. Als gäbe meine Haut die Antwort auf eine nicht gestellte Frage. Spätherbst eben. Grippesaison. Wer jetzt nicht krank ist, ist selber schuld.
Dort am Eck ist die Apotheke! Drinnen umfängt mich eine branchenübliche Duftmischung aus Latschenkiefer, Menthol, Eukalyptus und weiß Gott was sonst noch an für mich namenlosen olfaktorischen Herausforderungen. Mit einem Schlag macht einen so etwas gleich um zwei Stufen kränker. Vor mir eine schniefende, rotzende, hüstelnde Versammlung Ratsuchender mit Taschentüchern im Anschlag. Keine Protestkundgebung ist das. Ein Bittgang. Ich stelle mich hinten an. Verdeckt von der Rückansicht tropfnasser Mäntel, Jacken, übergezogener Regenhäute und Hüte in der Reihe vor mir spricht eine sanfte Stimme plötzlich das Zauberwort: »Vapurub«. Die Stimme, so sehe ich jetzt durch einen Spalt zwischen den nassen Hüllen, gehört zu einer Dame mittleren Alters in Weiß. Sie lächelt. Die metallene Äskulapnatter, eine Art Brosche, hat sie leicht schräg an ihrem Revers angesteckt. Als hätte sie es schon morgens beim Ankleiden hinten im Pausenraum eilig gehabt, die Wartenden draußen vor der verschlossenen Apothekentüre einzulassen. Da lässt sie nochmals die magisch anmutende Silbenkombination ‚Vaporub‘ wie feinen, heilenden Nebel sanft über den beengten Duftraum niederschweben. Dorthin, wo Genesung und Geld ohne jede Magie, dafür mit Quittung, gegenläufig über den Tresen zu wandern pflegen. Hier wird man umwölkt. Hier wird man – darf man‘s so sagen: ›salbungsvoll‹? – beraten.
Hier wird man geholfen. Zweifel gibt‘s meterweise auf der anderen Seite der Straße in der leeren Buchhandlung. Auf dieser Seite das Geschäft mit der Hoffnung brummt. So auch mein Schädel.
»Am besten abends vor dem Einschlafen, ja? Einfach den Brustbereich des Buben damit einreiben und dann einwarmes Tuch direkt auf die Haut des Kindes legen. Das ist alles«, höre ich sie sagen. Die junge Frau in der gelben Regenjacke vor mir, der die mündliche Gebrauchsanweisung für die Salbe gilt, nickt dankbar, als hätte sie verstanden. Wie lange habe ich den einzigartigen Duftklang der Zauberformel ›Vaporub‹ nicht mehr gehört? Fast ein ganzes Laben lang ist es her. Es tönt, wie ›Wählscheibe‹ oder ›Dalli-Dalli‹. Aus meiner Zeit gefallen aber offenbar unkaputtbar. ›Vaporub‹, das muss ein Wort mit halluzinogener Wirkung sein. Schlagartig versetzt sein Klang mich zurück in meine Kindheit. Aus diesem von ätherischem Duft und Feuchtigkeit geschwängerten Tempel für gläubige Ungesunde zieht es mich heraus, direkt hinein in das Kinderbett eines Sechsjährigen, der hustet und leicht fiebert. Es ist mein Kinderbett! Auf der hellen, heißen Haut meiner immer wieder vom Husten geschüttelten Kinderbrust spüre ich den Film jener starkduftenden Substanz, die meine Mutter sorgfältig, als würde sie es zelebrieren, einem kleinen runden Glasbehälter entnimmt. Von weichen Fingerkuppen werde ich berührt. Nicht zum ersten Mal. Zum kleinen König meiner Mutter mit dem großem Husten, werde ich gesalbt. Die warmen Handflächen einer Hohepriesterin – ihre Haut auf meiner, fast, als wären wir wieder eins – massieren beschwörend deren innigen Wunsch in mich ein, meine Bronchien mögen besänftigt, mein Fieber gesenkt und damit wohl auch ihre Nacht gerettet werden. Die Nacht, in der Vater wieder kommt.
Ausgehend von meiner Kindernase ist jetzt mein gesamter, temperierter Kinderkopf erfüllt vom Geist aus ›Vaporub‹, während wohlvertraute Hände auf meiner Kinderhaut farblose Salbe in die Verheißung baldiger Genesung verwandeln. Ich höre, wie meine Mutter langsam, leise zu mir spricht. Mein Nachtschlaf soll nicht verscheucht werden. Wie ein kleines, verletztes Tier streichelt mich die Sanftheit ihrer Stimme. Zuwendung und Sorge schwingen darin. Ihre Liebe, nicht aber ihre Sorge um mich, soll mir unter die Haut gehen und sich an mein Herz schmiegen. Verborgen bleiben soll mir ihre andere, ihre erwachsene Sorge. Mein Vater, wo bist du? Bald werde ich wieder gesund sein. Versprochen! Bald. Wenn du, mein Vater, wieder da bist. Bei mir. Bei uns.
Oft habe ich damals diese duftenden Dämpfe in mich aufsteigen lassen und diese bedingungslos mütterliche Zärtlichkeit. Durch die Haut gingen sie mir direkt ins Herz. Wie oft? Zu oft? Nicht oft genug? Ich war, was man ein ›kränkliches Kind‹ nennt. Und doch nie wirklich schwer krank. Mit verlässlicher Regelmäßigkeit war ich aber exakt in jenem Maß nicht gesund, das gerade ausreichte, um die Besorgnis an mein Kinderbett zu rufen. Immer war meine Mutter da. Immer! Aber wo warst du, mein Vater? Wann hast du die Signale meines Kinderkörpers gehört? Und wie fühlen sich deine Vaporub- gesättigten Fingerkuppen auf meiner Kinderhaut an? Ein zärtliches Streicheln von dir, wie? Von mehr als einem väterlichen Tätscheln weiß ich nicht. Zwar auch nicht von Schlägen, gut. ›Er ist nicht da‹, hieß es so oft. Und: ›Am Freitag wird er kommen.‹ Und dann war Freitag. Und dann war Zeit zum Schlafengehen. Und immer noch kein Vater. Die lange Fahrt aus deinem Gebiet als Handelsreisender, ich weiß. Aber dann: Selbst, wenn du da warst, warst du nicht ganz da, weil schlafend, weil ruhebedürftig von den Tagen und wohl auch von den kurzen Nächten draußen in deinem Gebiet. Warum ist dein ›Gebiet‹ nicht hier? Hier bei uns? Was weiß schon ein Kind? Was wusste schon deine Frau, meine Mutter? Vielleicht besser so.
Mein Wochenend-Resthusten taugte nie zum Weckruf für dich, mein schlafender Vater. ›Vaporub‹ hat bei dir versagt. Deine Haut kenne ich nicht. Weiß nicht, Vater, wie sie sich anfühlt auf der meinen. Wie es ist, wenn einem die Liebe des Vaters durch die Haut geht. Und von dort direkt hinein ins Kinderherz. Hab ich es je gewusst? Die Verheißung des Duftes gesunder Verhältnisse war für mich eine familiäre Enttäuschung. Nie war ›Vaporub‹ stark genug, dich, Vater, von weit ›draußen‹ an mein Bett zu holen. Geschweige denn, dich dort zu binden, damit die heile Dreieinigkeit – Mutter, Vater, Sohn – ›drinnen‹ komplett sei. Wie oft habe ich als Kind der intrafamiliären Magie von ›Vaporub‹ vertraut? Vergeblich. Wirklich heil war unsere Familie nie.
Der Nächste in der Reihe bin ich. Die Frau Magistra lächelt mitfühlend durch mich, den Gläsernen, hindurch. Der wievielte bin ich für sie heute schon, dem sie gekonnt den Arztbesuch ersetzt? Hochkonzentriert wirkt sie. Ihre Augen scheinen das, was von mir sichtbar ist, diagnostisch abzutasten. Sicher ist sie selbst kerngesund. Nicht einmal ihre Freundlichkeit kränkelt. Sofort ordnet sie meinen aufkeimenden Reizhusten, den ich ihr, wie zum Beweis, präsentiere, der richtigen Medikamentenlade zu. »Ich würde Ihnen in diesem Fall empfehlen, …«, sagt sie. »Okay«, sag ich, um die Sache abzukürzen. »Was immer sie empfehlen, ich nehm‘s.« Wieder lächelt sie, wendet sich kurz ab und kramt kleine Medikamentenschachteln aus tiefen Regalen. Dabei duftet sie vollkommen im eukalyptischen Gleichklang mit ihrer Apotheke.
War ihr Vater, als sie Kind war, immer für sie da? Hat sie das fürs Leben immunisiert? Wusste sie, wie sich ihres Vaters Haut anfühlt? Mit und ohne ›Vaporub‹? ›Sinnlose Fragen‹, denke ich. Ich will grad zu sprechen beginnen, da verschlucke ich mich und beginne erneut zu husten. Dann endlich kann ich sagen: »Noch eine Packung Aspirin Complex dazu, bitte … Und eine Dose von diesem … ›Vaporub‹. Das ist alles.«

 

Friedrich Michael Steger (Autorenname: F.A. Tomasi)
Jahrgang 1959, geboren und aufgewachsen in Zell am See, Studium der Politologie und Geschichte, 35 Berufsjahre hautnah an Politik und öffentlicher Verwaltung, bislang tätig als Herausgeber und Co-Autor im Bereich Sachbuch (Politikwissenschaft).