94 / Herz&Haut / Prosa / Jürgen Heimlich: Kavka

Ohne Plan wäre Wladimir aufgeschmissen gewesen. Alle paar Sekunden schaute er, ob er der richtigen Spur folgte.
Und dennoch musste er Spaziergänger fragen, die ihm glücklicherweise Auskunft geben konnten. Nach einer gefühlten Ewigkeit hatte er den vereinbarten Treffpunkt erreicht und ein Mann mittleren Alters wartete schon auf ihn.

„Sie müssen Herr Wladimir sein, wenn ich Sie so nennen darf. Herzlich willkommen. Dies wird schon morgen Ihr Arbeitsplatz sein, sollten Sie mein Angebot annehmen.“
Wladimir wusste nicht so recht, wie er sich verhalten sollte. Es war ewig her, dass er ein Bewerbungsgespräch geführt hatte. Mit leicht zitternder Hand überreichte er dem Mann seine in einem roten Mäppchen steckenden Unterlagen. „Danke“, sagte der Mann. „Sie können mich gerne Alois nennen. Ihren Lebenslauf haben Sie mir ja geschickt. Ich bin davon überzeugt, dass Sie der Aufgabe gewachsen sind, die ich Ihnen gerne überantworten würde.“ Es gab keine Möglichkeit, sich zu setzen. Wladimir bekam Lust auf einen Kaffee. Als könne Alois Gedanken lesen, holte er aus einer Papiertasche eine Thermosflasche. „Etwas kalt ist es heute. Und Sie müssen sich daran gewöhnen, im Winter etwas Wärmendes mitzunehmen.“ Wladimir nahm die Tasse gerne entgegen. Er trank einen Schluck und es handelte sich offenbar um Tee mit Rum. „So, und jetzt aber endlich zur Sache. Hier ist schon Ihr Schützling. Kümmern Sie sich um ihn. Er ist eine wunderschöne Nebelkrähe. Nun ja, wir gehen davon aus, dass er ein Herr ist und keine Dame.“ Alois schmunzelte. „Die Dame, die sich um ihn gekümmert hat, ist gestorben. Sie sehen hier ihr Foto. Nun, Ihre Aufgabe besteht darin, diesen Schlawiner einmal am Tag zu besuchen, ihm etwas zu fressen und zu trinken zu geben und Zeit mit ihm zu verbringen. Er liebt Nüsse und pures Wiener Leitungswasser. Ich glaube, dass er traurig ist, weil die Dame nicht mehr kommt. Sie müssen ihn zu Ihrem Freund machen. Das ist alles, was wir uns erwarten. Meine Frau und ich. Theresia, die Verstorbene, war meine Mutter. Ich habe nicht die Zeit, jeden Tag hierher zu kommen. Ach ja, Sie müssten jeden Tag da sein, also auch am Wochenende. Dafür wird die Arbeitszeit jeweils nur von zehn bis zwölf Uhr sein, also vierzehn Stunden die Woche. Und wir bezahlen Sie großzügig. Auf eine faire Bezahlung hat meine Mutter laut ihrem Testament bestanden.“ Wladimir wurde warm ums Herz. Das hörte sich alles großartig an. Keine finanziellen Probleme mehr und eine Arbeitszeit ganz nach seinem Geschmack. „Nun, dieser süße Vogel hört auf den Namen Kavka. Ja, Sie haben richtig gehört. Jedoch Kavka mit V. Das heißt aus dem Tschechischen übersetzt Dohle.“

Kavka saß die ganze Zeit ruhig da und rührte sich nicht vom Fleck. Wie angewurzelt starrte er Wladimir an. Wladimir warf Kavka ein paar Walnußstückchen zu, die er mitgebracht hatte. Der Vogel schien großen Appetit zu haben. „Wunderbar, ganz wunderbar“, sagte Alois. „Ich sehe schon, dass ihr viel Freude miteinander haben werdet. Also; Ihre Kontoverbindung habe ich. An jedem Ersten des Monats überweise ich Ihnen die vereinbarte Summe und alle sechs Wochen werde ich hier vorbeischauen und Sie fragen, wie es läuft.“ Wladimir nickte. Er war dankbar für die Chance, einen neuen Arbeitsplatz angeboten zu bekommen. „Ich freue mich, und werde Verantwortung für Kavka übernehmen“, sagte er. Es mochte ungewöhnlich sein, sich als gelernter Tierpfleger um eine einzige Nebelkrähe zu kümmern, aber er liebte Friedhöfe und hatte endlich eine für ihn adäquate berufliche Aufgabe gefunden.

 

Jürgen Heimlich
Geb.1971 in Wien, Verlagsausbildung, literarisch seit 1989 aktiv. Von 2007 bis 2012 Krimi-Autor, seit 2016 engagiert für die Etablierung der Einfachen Sprache als literarisches Genre. 2019 Uraufführung des Theaterstücks für Kinder „Dialog mit meinem Schatten” im Theater 7ieben&7iebzig in Innsbruck. Passionierter Friedhofsgänger.
2020 erschien „Die Rückkehr von K. (K)eine Biographie”.