94 / Herz&Haut / Prosa / Karin Oberkofler: Die Liebe, die nicht geht

Die Szene erhellte sich mit einem Schlag:
Drei Menschen hatten eine Gemeinsamkeit, von der nur einer der Anwesenden etwas zu wissen schien.
Dieser Eine, ein Mann von ca. 50 Jahren, schlank, fast hager blickte unverwandt auf zwei Burschen, die ihm schräg gegenüber in der U-Bahn saßen, sich glücklich anstrahlten und schüchtern die Hände hielten.
Er nahm die Szene, die sich ihm bot, schmerzvoller wahr, als er wollte. Ungläubig weiteten sich seine Augen.
Vermutlich wird es keinen Dialog geben zwischen den Dreien.
Er musste wieder einmal das Vergangene allein aufarbeiten. Die Erinnerung schien heftig an ihm zu zerren. Georg, ja Georg! Längst verdrängtes Leid traf nun mit voller Wucht auf seine stummgeschaltete Seele.
Er lehnte seinen Kopf an das U-Bahnfenster und seufzte auf.
Tief in Gedanken versunken nahm er die vorbeifliegenden Häuser, Straßen und Bäume gar nicht mehr wahr. Georg, ja Georg! Beinahe hätte er seinen Namen laut ausgesprochen. Am Donau-Ufer wurde er das erste Mal auf ihn aufmerksam. Damals wusste er noch nicht, dass er Georg hieß - lehnte am Ufergeländer, trug blaue Jeans, kurzärmeliges weißes Hemd und telefonierte heftig.
Er, Wolfgang, saß im Gastgarten eines Cafés, auf den die Sonne durch die Kastanienbäume schien, trank einen Kaffee und aß einen Apfelstrudel mit Schlagrahm dazu.
Heute hatte er keinen Schulunterricht zu gestalten, denn seine Hauptklasse hatte Biologie–Ausflug. Deshalb auch die Feiertagsstimmung, die ihn zu der nahegelegenen Konditorei gehen ließ und sich nicht lange zu dem guten Kuchenstückchen überreden musste.
Als die Serviererin zum Nachbartisch kam, um zu kassieren, war ihm kurz die Sicht verstellt. Als er wieder freien Blick auf die Donau hatte, war niemand mehr zu sehen. Deshalb konnte er auch nicht nachvollziehen, welchen Weg der Fremde genommen hatte, der ihn so in seinen Bann gezogen hatte.
Damals war er äußerst irritiert, dass dieser Mann so tiefe Gefühlsregungen in ihm wachrief. Zwar hatte er schon längst bemerkt, dass sein Interesse an Männern ein anderes war als an Frauen.
Er mochte Frauen, sehr sogar, und hatte auch zwei sehr gute Freundinnen, aber die Gefühle ihnen gegenüber waren ganz andere. Wenn er Schwestern gehabt hätte, wäre seine Freude, sie zu sehen, mit ihnen zu plaudern, einfach ihre Gesellschaft zu genießen, nicht anders gewesen. Mit zwanzig, zweiundzwanzig Jahren wurden die Empfindungen Männern gegenüber brennender und er begann sich zu fragen, was falsch an ihm war.
Seine Mutter drängte ihn jetzt öfter, sich nach einer Frau umzusehen. Ihr Argument: Ich werde ja nicht immer leben - und Enkelkinder hätte ich auch gerne.
Dann kam ein tiefer Seufzer und seine Angst- und Schuldgefühle wurden stärker.
Er war erleichtert, wenn er am Montag wieder in die Stadt zum Studium fahren konnte, wo er eine kleine Unterkunft hatte. Aber am nächsten Wochenende sah er wieder das besorgte Gesicht seiner Mutter. Irgendwann musste er sich etwas ausdenken, warum er nicht nach Hause kam. Vielleicht sollte er eine Freundin vortäuschen, dann wäre seine Mutter zufriedener. Unwahrheiten allerdings fühlten sich auch nicht gut an.
Er hatte sich einen Rhythmus von drei bis vier Wochen vorgenommen. Was natürlich nicht funktionierte. Schon beim übernächsten Mal ließ sich die Mutter nicht mehr mit vagen Erzählungen abspeisen, sondern hat ihm nahegelegt, die Freundin doch einfach mitzubringen.
Jetzt musste er, wohl oder übel, die imaginäre Freundin verreisen lassen und danach die nicht vorhandene Verbindung auflösen.
Dann traf er wenige Zeit später unvermutet wieder auf Georg.
Alles Blut wich aus seinen Adern vor Überraschung.
Schwindelig geworden lehnte er sich an die Hauswand und atmete tief durch, in der Hoffnung, dass ihn Georg nicht bemerkt hatte.
Zu spät. Georg trat besorgt zu ihn hin und fragte: „Kann ich Ihnen helfen?“
Das hatte ihm noch gefehlt! Er begann leicht zu schwitzen und war bemüht ihn nicht anzuschauen. Als er ein wenig wankte, fasste Georg ihn am Arm und meinte: „Setzen Sie sich doch da auf die Mauer!“
Nicht viel fehlte und seine Beine hätten ganz versagt.
„Bleiben Sie sitzen, ich gehe etwas Wasser holen, das tut immer gut!“
Es tat wirklich gut und seine Geister wurden wieder zum Leben erweckt.
Wie es genau weiterging, konnte er heute nicht mehr sagen, außer, dass sie sich nun regelmäßig trafen. Es war der schönste Sommer seines Lebens. Als sie sich näherkamen, als bei Freunden üblich, trafen sie sich in einem Wochenendhaus, welches nicht benutzt wurde, da sich die Besitzer zurzeit im Ausland aufhielten. Diese Treffen mussten heimlich stattfinden, denn Männerliebe wurde nicht geduldet.
Es war eine unglaubliche Zeit. Er fühlte sich nicht mehr dekadent, irgendwie abartig oder schmutzig. Trotzdem konnte er es niemanden sagen, auch seinen besten Freundinnen nicht. Der Mutter sowieso nicht. Von der Seite her hatte er aber derzeit nicht viel zu befürchten. Er brauchte auch kein Geheimnis aus seiner zu Liebe machen. Weder er noch Georg hatten am Wochenende Zeit füreinander.
Dieser Punkt machte ihm aber zusehends Kummer – und wie er dann und wann bemerkte, auch Georg, denn Georg hatte Frau und Kinder.
Die Leichtigkeit des Zusammenseins wich immer mehr einer gedrückten Stimmung.
Was war nur los? Liebten sie sich nicht mehr? Das Gefühl sagte etwas anderes. Doch die glücklichen Tage litten immer stärker unter der Schwere der Herzen.
Eines Tages blieb Georg plötzlich aus, obwohl es eine feste Abmachung war, sich donnerstags zu treffen.
Zuerst vermutete er, dass Georg plötzlich krank geworden sei. Als nach drei Tagen immer noch kein Lebenszeichen von ihm kam, rief er in seinem Büro an, was einem Sakrileg gleichkam.
Zudem wäre es ein Supergau, würde es unter der Belegschaft bekannt werden, dass er einen Mann liebt. Vielleicht würde es ihm nicht gleich die Stellung kosten, aber mit der Reputation, die er sich langsam aufgebaut hatte, wäre es wohl vorbei.
„Der Herr Bernmüller ist in einer Sitzung, kann ich ihm etwas ausrichten?“, war die freundliche Frage einer Sekretärin. Hastig legte er den Hörer auf. So richtig war ihm nicht klar, was er eigentlich mit dem Anruf erreichen wollte. Oder hatte er schon ein Vorgefühl, dass hinter dem Schweigen etwas anderes steckt?
Jetzt wurde er vollends ratlos. Liebte Georg ihn nicht mehr?
Hatte er etwas Falsches gesagt oder getan?
Er merkte, wie ihm das Blut aus den Adern wich und der Kreislauf langsam seinen Dienst aufzugeben schien. Zwei tagelang konnte er sich auf nichts mehr konzentrieren. Es erfasste ihn eine Unruhe, die er nicht kannte. In der Wohnung ging er auf und ab; wenn es dort zu eng wurde, lief er auf die Straße, um gleich wieder umzukehren. Er hatte nicht geahnt, wie weh Ungewissheit tun konnte. Dann kam der Brief:
„Mein lieber Wolfgang, ich hoffe, Du kannst mir irgendwann einmal verzeihen. Ich musste unsere Beziehung beenden, meine Liebe zu Dir wird wohl immer bleiben. Eine Freundin meiner Frau hat uns zusammen gesehen und es ihr erzählt. Sigrid stellte mich vor die Wahl: sie oder du. Ich habe tagelang mit mir gekämpft. Du weißt mittlerweile, wie der Kampf ausgegangen ist. Es war eine Vernunftentscheidung. Um nicht missverstanden zu werden: Ich mag meine Frau und natürlich meine zwei Kinder, aber auf eine ganz andere Art. Das mit Dir waren unglaublich tiefe Gefühle. Ich werde sie fest in meinem Herzen einschließen. Vielleicht wird einmal eine Zeit kommen, wo wir nicht gleich zu Beginn unseres Lebens eine falsche Entscheidung treffen müssen, nur um den gesellschaftlichen Ansprüchen gerecht zu werden. Vielleicht schafft es die nächste Generation. Es liebt Dich über alles Dein Georg.“
„Hallo, aufwachen – der Herr. Hier ist Endstation!“
Wolfgang starrte den Zugsbegleiter ungläubig an. Er war so vertieft in seinen Gedanken gewesen, dass er glaubte, er habe den Brief gerade erst bekommen. Mit einem bekümmerten Lächeln entschuldigte er sich und verließ die Bahn. Der Platz, wo die zwei jungen Männer gesessen waren, war nun leer, ohne dass es ihm aufgefallen wäre.

 

Karin Oberkofler
Schreibt seit ihrer Kindheit über alles, was sie bewegt, und lebt seit einigen Jahren in Wien. Zur Jahrtausendwende hat sie ihren autobiografischen Roman über ihre Kindheit nach Ende des 2. Weltkrieges veröffentlicht („Die Ostgotin. Suche nach Heimat“).