94 / Herz&Haut / Prosa / Peter Kaiser: Der Besuch

Der Besuch
(Aus: „Geschichten vom Baikal“)

Karin stand vor der Tür. „Kannst du mich bitte umarmen?”, sagte sie, während sie die Arme leicht öffnete. Also umarmten wir uns auf der Schwelle meiner Hütte, etwa eine Minute lang. Sie löste sich, sah mir verlegen in die Augen, sagte „Danke!“ und verschwand wieder im Nebel. Karin war aus Deutschland gekommen, war erst ein paar Monate hier, aber sie würde nicht bleiben, dass war mir klar.
„Ich war in einer Krise“, so die brüchige Erklärung für ihr Hiersein. Sie hatte diese Krise mitgebracht, sie würde sie wieder mit nach Hause nehmen - das ist keine Gegend, die man aus einer Schwäche heraus aufsuchen sollte. Wir haben zwei-, dreimal miteinander geschlafen, bevor sie wieder ins Boot gestiegen ist. Wir haben nicht miteinander geredet, wir haben nicht miteinander gelacht.
„Das soll keine Gewohnheit werden“, hat sie nach dem ersten Mal gesagt, und: „Ich ziehe mich jetzt an.“ Ich habe mich zur Wand gedreht.
Wir haben miteinander geschlafen, weil ein Mann und eine Frau die auf einer einsamen Insel stranden, immer miteinander schlafen werden, das liegt in der Natur der Sache,
sagt aber nichts über Nutzen und Qualität des Vorgangs aus.
Der Herbst ist auch so schon schwer genug, wenn man weiß wie lange der Winter dauert. Seit langem habe ich nach ihrem Verschwinden wieder einmal geweint. Nicht um sie, sondern darum was ich zurückgelassen und doch nie besessen habe.
Die Sehnsucht war also nicht verschwunden gewesen, sie hatte bloß geschlummert, eingelullt vom Rauschen der Birken und vom Säuseln des Baikal.

 

Peter Kaiser
Geb. 1968 in St. Pölten. Gelernter Buchhändler. Organisator und Mitinitiator von Kunstprojekten (stockWERK, Skulptur am See), Literaturfestivals (KIJUBU, Blätterwirbel) und Rezensent. Er lebt in St. Pölten und ist selbstständig tätig. Seit 2011 Mitglied der LitGes. Buchhändler, Fahrradfahrer, Freund östlicher Kulturen, Dichter. Gebrauchstexte und Kritiken zum Broterwerb als freier Autor.