Heil-Froh / Etcetera 88 / Prosa / Paul Schenk: 2015

Ich stehe im Raum 51 der Baracke R II des Krankenreviers des ehemaligen Konzentrationslagers Sachsenhausen, starre auf eine große Ausstellungswand mit der Aufschrift „Die Opfer der Experimente, elf junge Juden zwischen 8 und vierundzwanzig Jahre alt.“ Diese eine der dunkelsten Verbrechen der Menschheitsgeschichte dokumentierende Wand zieht sich fast über die ganze Länge des Raums. Neben den Biographien der einzelnen jüdischen Kinder trägt sie auch noch bräunliche von der Last der Zeit beschädigte Dokumente sowie einige kleinere und größere Schwarz-Weiß-Fotografien aus jener Zeit.
Elf junge Juden, und keine zehn kleine körperlosen Negerlein, die über den Rhein fuhren, sich totschossen, tot aßen, tanzten oder tranken, weil sich jede Strophe reimen musste, sondern körperliche Wesen, die im Sommer des Jahres 1943 für Hepatitis-Experimente von der Rampe in Auschwitz in das Krankenrevier des KZ Sachsenhausen gebracht wurden. Als folgten dem Zynismus der Worte die weitaus schrecklicheren Taten.
Auch nach Jahrzehnten noch greifbar, ist es ein authentischer Schauplatz, in dem die Kinder während der über ein Jahr lang andauernden Versuche interniert waren. Begleitet von einem schauerlichen Taktgefühl des Todes, das nach all den Jahren noch nachschwingt.
Ich lese die Biographie eines Jungen. Es sind Worte des Greuels, die ich in mich hineinzwänge, irgendwie gierig danach, auf der voyeuristischen Suche nach einem unaussprechlichen Unheil und in der Hoffnung, dass der Junge dieses Grauen überlebte. Damit die Wörter noch einen Sinn ergäben. Nicht vom Tod entwertet, sondern vom Leben gerettet.
Plötzlich spüre ich eine fremde Hand auf meiner Schulter. Ein leichtes Andocken. Es fühlt sich sanft und schüchtern an. Es ist eine alte, weiche Hand, deren Oberfläche mit Pigmentflecken übersät ist. Ich drehe mich um, und blicke in das Gesicht eines freundlichen, älteren Herrn, der mich pfiffig anlächelt. Als habe er eine Überraschung für mich parat.
„Sehen sie,“ er zeigt auf einen anderen, alten Herrn im Raum, „dieser Mann hier ist der Junge auf diesem Foto.“ Danach nickt er lächelnd mit dem Kopf, als müsse er damit meine ungläubige Grimasse zurechtrücken. „Sie können ruhig mit ihm sprechen, wenn sie wollen.“ „Oh, danke“, erwidere ich, nicke ebenfalls mehrmals irgendwie untertänig und berührt. Darauf zieht sich der ältere Herr zurück, als wolle er seinem Bekannten die Bühne überlassen, ohne sich weiter zwischen uns zu stellen.
Ich bleibe erstmal stehen und beobachte diesen ehemaligen KZ-Insassen, wie er mit einer Frau spricht - mit seinem Rücken gegen die Biographien und den Bildern anderer verlorener Kinder hinter einem Stacheldraht gewandt.
Es ist ein hagerer, alter Mann mit Brille. Er hat eine schwarze Schirmmütze auf, feierlich gekleidet, mit Anzug, einem braunen Mantel, bunten Schal und einer weiß-schwarzen Krawatte. Das weiße, schüttere Haar sticht unter seiner Mütze hervor, ein weißer Bart lässt sein Antlitz etwas üppiger erscheinen als es in Wirklichkeit ist. Beim Sprechen neigt er sein Gesicht leicht nach unten. Er redet leise und wenn immer er eine kleine Pause macht, sieht er kurz auf und lächelt sanft in den Raum.
Unsere Blicke treffen sich ein erstes Mal. Es kommt mir vor, als erläge ich ihnen, mitgerissen von einer rührseligen Stimmung der Freude, die mir fast Tränen in die Augen treibt, unschlüssig darüber, ob ich das Wort an ihn richten solle. Ich empfinde ihn unmittelbar als einen Helden wider Willen, als eine dem Grauen entkommende Lichtgestalt, Opfer und Zeuge zugleich, dessen Anwesenheit der Baracke eine wundersame Atmosphäre verleiht. Ohne noch weitere Worte verlieren zu müssen. Zumindest finde ich keine sinnvollen, die ich an ihn richten hätte können.
Vielleicht hätte ich von einer Berühmtheit ein Autogramm oder einen gemeinsamen Schnappschuss erbeten. Beides scheint mir aber in diesem Fall unangebracht, obwohl ich diesen Moment gerne festhalten möchte. Ihn als eine Art Fleisch gewordene Geschichte und mich als dessen Zeugen. So aber kommt es zu keinem gemeinsamen Bild. Ich drücke lediglich ein paar Mal verstohlen auf den Auslöser meines Mobiltelefons, einzig und allein deshalb, um mir später nicht vorwerfen zu müssen, es versäumt zu haben. Als einen schüchternen Beweis der Begegnung.
Nach einer Weile zieht er sich zurück, verlässt zusammen mit dem anderen, älteren Herrn den Raum. Ich blicke beiden kurz hinterher, es fühlt sich nach einem leisen Verlust an. Als würde ich mit etwas Unausgesprochenem zurückbleiben. Ich kann es nicht benennen. Deshalb wende ich mich ein wenig von mir selbst enttäuscht, die Gelegenheit eines Gesprächs nicht am Schopf gepackt zu haben, nochmals der Wand zu. Sie erscheint mir jetzt lebendiger als zuvor. Als hätte ihr die Anwesenheit dieses Zeitzeugen
neues Leben eingehaucht, und mir ein bisschen Trost. Am liebsten aber wäre ich den alten Herren gefolgt, hätte dem Kind an der Wand in meiner sentimentalen Anwandlung einen Wunsch erfüllt, ein gemeinsames Band geknüpft. Als ein Zeichen der Solidarität und des Mitgefühls.
Doch ich verweile wie am Boden festgenagelt vor seiner Leidensgeschichte und lese sie erneut.
Die einzelnen Zeilen fühlen sich jetzt irgendwie anders an, das Leid der Wörter von der Präsenz des Überlebenden entschärft. Unwirklicher. Als hätte sich der Blickwinkel verschoben. Nach dieser mich zutiefst berührenden kurzweiligen Begegnung. An einem Sonntagnachmittag.

 

Paul Schenk
Jahrgang 1963, ich bin italienischer Staatsbürger deutscher Muttersprache (Südtiroler), habe in Padova, London und Paris Politikwissenschaften und Wirtschaft studiert. Ich arbeitete in Hamburg, Rom und Berlin als Redakteur, in Bozen im Management eines Verlages, später als Kommunikationsleiter und Verleger einer Zeitschrift. Mittlerweile lebe ich seit einigen Jahren als freier Autor in Berlin.